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Freitag, 14. Juli 2017
Silberkonfirmation – zweiteiliger Kurzkrimi – Teil II
c. fabry, 00:25h
Fliege sprang von seinem Stuhl auf und stürzte zur Damentoilette. Max rief einen Krankenwagen. Als der Notarzt eintrudelte konnte er nur noch den Tod der jungen Frau feststellen. Sie hatte Würgemale am Hals, darum informierte er die Polizei und erklärte: „Sie bleiben jetzt besser alle hier, die wollen sicher mit jedem reden.“
Fliege war außer sich, noch nie hatten die anderen ihn so laut und heftig weinen gesehen. Alle waren zutiefst schockiert. Während sie auf die Polizei warteten sagte Max plötzlich: „Wenn sie jemand erwürgt hat, dann fällt mir spontan nur einer ein.“
„Wer denn?“, fragte Panne entsetzt darüber, dass Max jemanden kannte, dem er dieses Verbrechen zutraute.
„Deutschmade.“
„Quatsch.“, erwiderte Speicher barsch. „Dauernd gehen in alle auf Deutschmade los, dabei hat der noch nie irgendwem irgendwas getan.
„Kann ich mir auch nicht vorstellen.“, murmelte Panne.
„Warum sollte Jens Penne das antun?“, schluchzte Fliege. „Die mochten sich doch.“
„Jens ist schon in Ordnung.“, meinte Meret. „Wie kommst du überhaupt darauf?“
„Vielleicht mochte Penne ihn nicht so gern wie er sie mochte und da ist er ausgerastet.“
„Ach dem ist doch höchstens im Suff mal die Hand ausgerutscht.“, meinte Toni. „Ich meine, ich lege auch keinen Wert darauf, dass der mich anfasst, aber das tu er auch nicht.“
„Also jetzt reicht es mir endgültig.!“, brach es plötzlich aus Rike heraus. Ihr sonst so zurückhaltendes, naives Kindergesicht verwandelte sich in ein Maske aus Wut, Hass und Verzweiflung. „Natürlich war das Deutschmade. Bei Flieges Party ist nämlich was vorgefallen, von dem ihr alle nichts mitgekriegt habt. So wie jedes Mal, wenn Jens zugeschlagen hat. Immer habt ihr ihn in Schutz genommen. Damals im Zeltlager, als er Jasmin ständig auf die Pelle gerückt ist, bis sie ihm gesagt hat, sie würde ihn treten, wenn er noch einmal näher käme. Da habt ihr alle nur auf Jasmin rumgehackt. Und Als er auf seiner eigenen Party Anna immer wieder seine fette Zunge in den Hals geschoben hat, obwohl die schon um sich schlug, habt ihr das auch damit entschuldigt, dass er eben besoffen war. Der hat uns alle dauernd angegrabbelt, nur wenn ein Mädchen mit einem seiner Kumpels zusammen war, hat er aufgepasst, dass die das nicht mitkriegen.“
„Das ist doch alles Schwachsinn.“, jammerte Fliege. Hier kann jeder rein und raus, ohne dass einer was merkt. Bei dem ganzen Gesocks, das hier rumlungert, kann da sonst wer auf dem Frauenklo auf eine Gelegenheit gelauert haben. Und Penne war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Ein finster dreinblickender Mittfünfziger und eine attraktive junge Frau betraten das Gemeindehaus. Sie stellten sich vor als Stefan Keller und Sabine Kerkenbrock, beide Kommissare der Mordkommission.
Sie baten die anwesenden, sich bereit zu halten und sprachen dann mit jedem einzeln. Fliege sparten sie sich bis zum Schluss auf, weil er zunächst ärztlich versorgt werden musste. Auch Meret stand unter Schock und wurde von den Sanitätern behandelt.
Als erstes baten sie Stefan Schüssle zu sich.
„Ich kann Ihnen da gar nicht weiterhelfen.“, sagte er. „Ich habe nur selten Kontakt zu Penelope und Philipp und eben ist mir auch nichts Besonderes aufgefallen. Sie ist zur Toilette gegangen und irgendwann fiel Meret auf, dass sie gar nicht zurück kam. Dann ist sie nachsehen gegangen und hat sie gefunden. Ich dachte zuerst, sie wäre einfach ohnmächtig, weil ihr Mann erzählt hat, dass sie in letzter Zeit seltsam und höchstwahrscheinlich schwanger sei. Da kommt so was ja schon mal vor.“
Meret Mitloss wollte gern als nächste zur Befragung, damit sie schnell nach Hause gehen konnte.
„Ich habe keine Ahnung, wer das getan haben kann.“, erklärte sie. „Mir fiel einfach auf, dass sie nicht von der Toilette zurückkam und da habe ich nach ihr gesehen. Und dann habe ich sie da gefunden.“
Meret schluchzte und brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen.
„Haben Sie etwas am Tatort verändert? Ihre Freundin umgelagert oder angefasst?“
„Ich habe sie an die Schultern gefasst und geschüttelt, aber dann habe ich in ihre toten Augen gesehen und da wusste ich eigentlich schon, dass man nichts mehr machen konnte. Aber irgendwie habe ich noch gehofft, dass ich mich vertan habe, darum habe ich den anderen gesagt, sie sollen einen Krankenwagen rufen.“
Marius Speicher kam als nächstes an die Reihe, damit er danach Meret nach Hause bringen konnte. „Es war alles ganz normal.“, meinte er. „Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass Penelope schon so lange auf der Toilette war. Wir haben uns eben unterhalten. Wir waren laut. Keiner hat irgendwas gehört. Und es war ja auch zwischendurch keiner von uns pinkeln. Ich glaube auch nicht, dass es einer von denen war, die eher gegangen sind. Keiner von denen hatte was mit Penelope zu tun, soweit ich weiß. Sie war ja ein paar Jahre jünger als er.“
Holger Wickler, den alle Panne nannten, erklärte: „Wir dachten alle, ihr ist schlecht geworden, weil sie vermutlich schwanger war. Eigentlich war sie so wie immer, obwohl ihr Mann gesagt hat, dass sie in letzter Zeit komisch war, aber wohl wegen der Schwangerschaft, das war auch beim ihrem ersten Kind so. Das kann nur ein Irrer gewesen sein, der sich hier rein geschlichen hat.“
Antonia Wickler sagte aus: „Wir waren richtig gute Freundinnen und ich glaube, da war irgendwas. Also das kam sicher nicht nur von der Schwangerschaft. Sie war die letzten Wochen anders als sonst, als wenn ihr irgendwas klar geworden wäre. Ich habe mich gefragt, ob es in ihrer Ehe kriselt. Ihr Mann liebt sie total und sie wollte ihn auch immer haben, aber so was kann sich ja verändern. Vielleicht hatte sie einen Anderen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wer das sein könnte.“
Marcus Mitloss setzte eine wissende Miene auf und begann seine Verdächtigungen auszubreiten: „Es gibt da jemanden, der zu dieser Clique gehört, obwohl er mindestens zehn Jahre älter ist als die meisten von uns. Er ist schon oft dadurch aufgefallen, dass er sich an Frauen herangemacht hat, obwohl die das nicht wollten. Seine Kumpels wollen das nicht wahrhaben und die Frauen nehmen ihn auch meistens in Schutz. Aber fragen Sie mal Rike Pepper, die ist eben total ausgerastet und hat da entsprechende Andeutungen gemacht. Vielleicht ist da irgendwas vorgefallen und er hat sich gerächt, weil sie ihn nicht wollte oder sie mundtot gemacht, damit sie niemandem was erzählen kann. Penelope war ja in letzter Zeit seltsam. Können natürlich die Hormone gewesen sein, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass ihr irgendwas passiert ist. Mir ist nämlich auch aufgefallen, dass sie kaum redete und oft überreagiert hat. Philipp meint, das läge an der Schwangerschaft, aber ich habe sie auch schon erlebt, als sie zum ersten Mal schwanger war. Da war ihr oft schlecht, und sie hatte manchmal miese Laune und keine Lust zu irgendwas, aber so merkwürdig wie in den letzten Wochen war sie da nicht.“
Keller fragte sich im Stillen, wie es kam, dass dieser Mann die junge Frau so intensiv im Blick hatte.
„Sie kannten die Verstorbene also näher?“, fragte er um einen neutralen Tonfall bemüht.
„Auch nicht näher als alle anderen in der Clique.“, antwortete Max. „Wir kennen uns alle schon seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Da fällt einem schon auf, wenn sich jemand verändert.“
„Und der ältere Mann, der zu Ihrer Clique gehört. Wer ist das?“
„Jens Deutschmann.“, erwiderte Max. „Er wohnt gleich hier um die Ecke, im Adlerweg 10. Er tauchte damals nach seiner Bundeswehrzeit im Jugendcafé auf. Er hatte sich für mehrere Jahre verpflichtet, war bei der Marine und als er zurück nach Hause kam, hatte er praktisch keine Freunde mehr. Da hat er sich an uns gehängt, obwohl wir alle Teenager waren und er schon Mitte zwanzig. Die meisten Jungs in der Clique fanden ihn cool, weil er schon Auto fuhr und eine super Stereo-Anlage und einen eigenen Party-Keller hatte. Ich fand ihn von Anfang an dämlich und langweilig und die Mädchen ekelten sich alle vor ihm. Aber sie waren scharf auf die Jungs und die nahmen ihn immer in Schutz, also redeten sie sich ein, dass Jens eigentlich ganz okay sei. Nur Rike, die sieht das etwas anders, aber die ist auch mit keinem von den Jungs aus der Clique zusammen.“
Das Gespräch mit Rike Pepper schloss sich unmittelbar an. Sie bestätigte Max' Verdächtigungen, berichtete von Vorfällen aus der Vergangenheit und ging sogar noch weiter: „Ich bin mir sicher, dass Jens Deutschmann Penelope auf der letzten Party ihres Freundes irgendetwas angetan hat. Sie war ziemlich abgefüllt und ist früh schlafen gegangen. Dann habe ich Jens Deutschmann eine ganze Weile nicht gesehen und dachte schon, oh, der ist schon voll und nach Hause gewankt, wie schön. Aber irgendwann tauchte er wieder auf und grinste die ganze Zeit so widerlich und selbstzufrieden. Seit dieser Party ist Penelope so komisch. Vielleicht hat er ihr KO-Tropfen ins Getränk gekippt und sich dann zu ihr ins Bett geschlichen. Oder er ist einfach so über sie hergefallen. Vielleicht hat sie ihm damit gedroht, ihn anzuzeigen. Keine Ahnung. Auf jeden Fall kann ich mir gut vorstellen, dass er es war.“
Zum Schluss wurde Philipp Kiesling befragt. „Penelope war komisch in letzter Zeit. Sie war sicher schwanger. In der ersten Schwangerschaft war sie auch so. Ich glaube nicht, dass das jemand war, den sie kannte. Penelope war nicht so eine, die die Probleme magisch anzieht. Das muss irgendein Irrer gewesen sein.“
Jens Deutschmann trafen die Beamten nicht zu Hause an. Sie bestellten ihn für den nächsten Morgen aufs Präsidium. Zur Sicherheit ließen sie sich eine DNA Probe geben, auch wenn die Tote keine Haut oder Blut unter den Fingernägeln hatte. Penelope Kiesling war tatsächlich schwanger, aber es dauerte eine Weile bis, der DNA-Abgleich ergab, dass Philipp nicht der Vater des Kindes war, sondern Jens Deutschmann. Deutschmann war nicht so abgebrüht und gerissen, wie er sich selbst gern gesehen hätte. Unter dem Druck der erprobten Verhörmethoden knickte er schnell ein und gestand, dass er die Situation der stark alkoholisierten Penelope ausgenutzt und sich zu ihr ins Bett geschlichen hatte. Ihren halbherzigen Widerstand hatte er ignoriert und darauf gesetzt, dass seine Eigenschaften als Liebhaber sie entweder überzeugten oder der Rausch dafür sorgte, dass sie sich am kommenden Tag an nichts erinnern konnte. Doch dann hatte er sie getroffen: Er hatte eine Radtour unternommen und sie war mit dem Hund draußen. Sie hatte ihn hasserfüllt angestarrt und er hatte sie gefragt was los sei. „Das weißt du ganz genau.“, hatte sie geantwortet. „Und bald weiß es jeder.“ und dann war sie zügig weiter gegangen. Zur Silbernen Konfirmation war er zum Gemeindehaus gefahren, um sie dort noch einmal zu überreden, auch in ihrem eigenen Interessen den Eklat zu vermeiden. Als er ankam, hatte er gesehen, wie sie in die Damentoilette ging. Er war ihr gefolgt, hatte abgewartet, bis sie wieder herauskam, um mit ihr zu reden. Er hatte sich ihr in den Weg gestellt, sie hatte an ihm vorbei schlüpfen wollen, aber er hatte sie nicht gelassen. Sie begann zu schreien und noch bevor jemand das hören konnte, hatte er begonnen ihre Kehle zuzudrücken. Sie hatte so schrecklich gezappelt und er hatte erst von ihr abgelassen, als sie zu Boden ging. Dann war er in die Innenstadt geradelt und hatte sich betrunken und gehofft, ungeschoren davon zu kommen. Penelope Kiesling würde ihre Silberne Konfirmation nicht mehr erleben, nicht einmal die Konfirmation ihres dreijährigen Sohnes.
Fliege war außer sich, noch nie hatten die anderen ihn so laut und heftig weinen gesehen. Alle waren zutiefst schockiert. Während sie auf die Polizei warteten sagte Max plötzlich: „Wenn sie jemand erwürgt hat, dann fällt mir spontan nur einer ein.“
„Wer denn?“, fragte Panne entsetzt darüber, dass Max jemanden kannte, dem er dieses Verbrechen zutraute.
„Deutschmade.“
„Quatsch.“, erwiderte Speicher barsch. „Dauernd gehen in alle auf Deutschmade los, dabei hat der noch nie irgendwem irgendwas getan.
„Kann ich mir auch nicht vorstellen.“, murmelte Panne.
„Warum sollte Jens Penne das antun?“, schluchzte Fliege. „Die mochten sich doch.“
„Jens ist schon in Ordnung.“, meinte Meret. „Wie kommst du überhaupt darauf?“
„Vielleicht mochte Penne ihn nicht so gern wie er sie mochte und da ist er ausgerastet.“
„Ach dem ist doch höchstens im Suff mal die Hand ausgerutscht.“, meinte Toni. „Ich meine, ich lege auch keinen Wert darauf, dass der mich anfasst, aber das tu er auch nicht.“
„Also jetzt reicht es mir endgültig.!“, brach es plötzlich aus Rike heraus. Ihr sonst so zurückhaltendes, naives Kindergesicht verwandelte sich in ein Maske aus Wut, Hass und Verzweiflung. „Natürlich war das Deutschmade. Bei Flieges Party ist nämlich was vorgefallen, von dem ihr alle nichts mitgekriegt habt. So wie jedes Mal, wenn Jens zugeschlagen hat. Immer habt ihr ihn in Schutz genommen. Damals im Zeltlager, als er Jasmin ständig auf die Pelle gerückt ist, bis sie ihm gesagt hat, sie würde ihn treten, wenn er noch einmal näher käme. Da habt ihr alle nur auf Jasmin rumgehackt. Und Als er auf seiner eigenen Party Anna immer wieder seine fette Zunge in den Hals geschoben hat, obwohl die schon um sich schlug, habt ihr das auch damit entschuldigt, dass er eben besoffen war. Der hat uns alle dauernd angegrabbelt, nur wenn ein Mädchen mit einem seiner Kumpels zusammen war, hat er aufgepasst, dass die das nicht mitkriegen.“
„Das ist doch alles Schwachsinn.“, jammerte Fliege. Hier kann jeder rein und raus, ohne dass einer was merkt. Bei dem ganzen Gesocks, das hier rumlungert, kann da sonst wer auf dem Frauenklo auf eine Gelegenheit gelauert haben. Und Penne war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Ein finster dreinblickender Mittfünfziger und eine attraktive junge Frau betraten das Gemeindehaus. Sie stellten sich vor als Stefan Keller und Sabine Kerkenbrock, beide Kommissare der Mordkommission.
Sie baten die anwesenden, sich bereit zu halten und sprachen dann mit jedem einzeln. Fliege sparten sie sich bis zum Schluss auf, weil er zunächst ärztlich versorgt werden musste. Auch Meret stand unter Schock und wurde von den Sanitätern behandelt.
Als erstes baten sie Stefan Schüssle zu sich.
„Ich kann Ihnen da gar nicht weiterhelfen.“, sagte er. „Ich habe nur selten Kontakt zu Penelope und Philipp und eben ist mir auch nichts Besonderes aufgefallen. Sie ist zur Toilette gegangen und irgendwann fiel Meret auf, dass sie gar nicht zurück kam. Dann ist sie nachsehen gegangen und hat sie gefunden. Ich dachte zuerst, sie wäre einfach ohnmächtig, weil ihr Mann erzählt hat, dass sie in letzter Zeit seltsam und höchstwahrscheinlich schwanger sei. Da kommt so was ja schon mal vor.“
Meret Mitloss wollte gern als nächste zur Befragung, damit sie schnell nach Hause gehen konnte.
„Ich habe keine Ahnung, wer das getan haben kann.“, erklärte sie. „Mir fiel einfach auf, dass sie nicht von der Toilette zurückkam und da habe ich nach ihr gesehen. Und dann habe ich sie da gefunden.“
Meret schluchzte und brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen.
„Haben Sie etwas am Tatort verändert? Ihre Freundin umgelagert oder angefasst?“
„Ich habe sie an die Schultern gefasst und geschüttelt, aber dann habe ich in ihre toten Augen gesehen und da wusste ich eigentlich schon, dass man nichts mehr machen konnte. Aber irgendwie habe ich noch gehofft, dass ich mich vertan habe, darum habe ich den anderen gesagt, sie sollen einen Krankenwagen rufen.“
Marius Speicher kam als nächstes an die Reihe, damit er danach Meret nach Hause bringen konnte. „Es war alles ganz normal.“, meinte er. „Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass Penelope schon so lange auf der Toilette war. Wir haben uns eben unterhalten. Wir waren laut. Keiner hat irgendwas gehört. Und es war ja auch zwischendurch keiner von uns pinkeln. Ich glaube auch nicht, dass es einer von denen war, die eher gegangen sind. Keiner von denen hatte was mit Penelope zu tun, soweit ich weiß. Sie war ja ein paar Jahre jünger als er.“
Holger Wickler, den alle Panne nannten, erklärte: „Wir dachten alle, ihr ist schlecht geworden, weil sie vermutlich schwanger war. Eigentlich war sie so wie immer, obwohl ihr Mann gesagt hat, dass sie in letzter Zeit komisch war, aber wohl wegen der Schwangerschaft, das war auch beim ihrem ersten Kind so. Das kann nur ein Irrer gewesen sein, der sich hier rein geschlichen hat.“
Antonia Wickler sagte aus: „Wir waren richtig gute Freundinnen und ich glaube, da war irgendwas. Also das kam sicher nicht nur von der Schwangerschaft. Sie war die letzten Wochen anders als sonst, als wenn ihr irgendwas klar geworden wäre. Ich habe mich gefragt, ob es in ihrer Ehe kriselt. Ihr Mann liebt sie total und sie wollte ihn auch immer haben, aber so was kann sich ja verändern. Vielleicht hatte sie einen Anderen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wer das sein könnte.“
Marcus Mitloss setzte eine wissende Miene auf und begann seine Verdächtigungen auszubreiten: „Es gibt da jemanden, der zu dieser Clique gehört, obwohl er mindestens zehn Jahre älter ist als die meisten von uns. Er ist schon oft dadurch aufgefallen, dass er sich an Frauen herangemacht hat, obwohl die das nicht wollten. Seine Kumpels wollen das nicht wahrhaben und die Frauen nehmen ihn auch meistens in Schutz. Aber fragen Sie mal Rike Pepper, die ist eben total ausgerastet und hat da entsprechende Andeutungen gemacht. Vielleicht ist da irgendwas vorgefallen und er hat sich gerächt, weil sie ihn nicht wollte oder sie mundtot gemacht, damit sie niemandem was erzählen kann. Penelope war ja in letzter Zeit seltsam. Können natürlich die Hormone gewesen sein, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass ihr irgendwas passiert ist. Mir ist nämlich auch aufgefallen, dass sie kaum redete und oft überreagiert hat. Philipp meint, das läge an der Schwangerschaft, aber ich habe sie auch schon erlebt, als sie zum ersten Mal schwanger war. Da war ihr oft schlecht, und sie hatte manchmal miese Laune und keine Lust zu irgendwas, aber so merkwürdig wie in den letzten Wochen war sie da nicht.“
Keller fragte sich im Stillen, wie es kam, dass dieser Mann die junge Frau so intensiv im Blick hatte.
„Sie kannten die Verstorbene also näher?“, fragte er um einen neutralen Tonfall bemüht.
„Auch nicht näher als alle anderen in der Clique.“, antwortete Max. „Wir kennen uns alle schon seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Da fällt einem schon auf, wenn sich jemand verändert.“
„Und der ältere Mann, der zu Ihrer Clique gehört. Wer ist das?“
„Jens Deutschmann.“, erwiderte Max. „Er wohnt gleich hier um die Ecke, im Adlerweg 10. Er tauchte damals nach seiner Bundeswehrzeit im Jugendcafé auf. Er hatte sich für mehrere Jahre verpflichtet, war bei der Marine und als er zurück nach Hause kam, hatte er praktisch keine Freunde mehr. Da hat er sich an uns gehängt, obwohl wir alle Teenager waren und er schon Mitte zwanzig. Die meisten Jungs in der Clique fanden ihn cool, weil er schon Auto fuhr und eine super Stereo-Anlage und einen eigenen Party-Keller hatte. Ich fand ihn von Anfang an dämlich und langweilig und die Mädchen ekelten sich alle vor ihm. Aber sie waren scharf auf die Jungs und die nahmen ihn immer in Schutz, also redeten sie sich ein, dass Jens eigentlich ganz okay sei. Nur Rike, die sieht das etwas anders, aber die ist auch mit keinem von den Jungs aus der Clique zusammen.“
Das Gespräch mit Rike Pepper schloss sich unmittelbar an. Sie bestätigte Max' Verdächtigungen, berichtete von Vorfällen aus der Vergangenheit und ging sogar noch weiter: „Ich bin mir sicher, dass Jens Deutschmann Penelope auf der letzten Party ihres Freundes irgendetwas angetan hat. Sie war ziemlich abgefüllt und ist früh schlafen gegangen. Dann habe ich Jens Deutschmann eine ganze Weile nicht gesehen und dachte schon, oh, der ist schon voll und nach Hause gewankt, wie schön. Aber irgendwann tauchte er wieder auf und grinste die ganze Zeit so widerlich und selbstzufrieden. Seit dieser Party ist Penelope so komisch. Vielleicht hat er ihr KO-Tropfen ins Getränk gekippt und sich dann zu ihr ins Bett geschlichen. Oder er ist einfach so über sie hergefallen. Vielleicht hat sie ihm damit gedroht, ihn anzuzeigen. Keine Ahnung. Auf jeden Fall kann ich mir gut vorstellen, dass er es war.“
Zum Schluss wurde Philipp Kiesling befragt. „Penelope war komisch in letzter Zeit. Sie war sicher schwanger. In der ersten Schwangerschaft war sie auch so. Ich glaube nicht, dass das jemand war, den sie kannte. Penelope war nicht so eine, die die Probleme magisch anzieht. Das muss irgendein Irrer gewesen sein.“
Jens Deutschmann trafen die Beamten nicht zu Hause an. Sie bestellten ihn für den nächsten Morgen aufs Präsidium. Zur Sicherheit ließen sie sich eine DNA Probe geben, auch wenn die Tote keine Haut oder Blut unter den Fingernägeln hatte. Penelope Kiesling war tatsächlich schwanger, aber es dauerte eine Weile bis, der DNA-Abgleich ergab, dass Philipp nicht der Vater des Kindes war, sondern Jens Deutschmann. Deutschmann war nicht so abgebrüht und gerissen, wie er sich selbst gern gesehen hätte. Unter dem Druck der erprobten Verhörmethoden knickte er schnell ein und gestand, dass er die Situation der stark alkoholisierten Penelope ausgenutzt und sich zu ihr ins Bett geschlichen hatte. Ihren halbherzigen Widerstand hatte er ignoriert und darauf gesetzt, dass seine Eigenschaften als Liebhaber sie entweder überzeugten oder der Rausch dafür sorgte, dass sie sich am kommenden Tag an nichts erinnern konnte. Doch dann hatte er sie getroffen: Er hatte eine Radtour unternommen und sie war mit dem Hund draußen. Sie hatte ihn hasserfüllt angestarrt und er hatte sie gefragt was los sei. „Das weißt du ganz genau.“, hatte sie geantwortet. „Und bald weiß es jeder.“ und dann war sie zügig weiter gegangen. Zur Silbernen Konfirmation war er zum Gemeindehaus gefahren, um sie dort noch einmal zu überreden, auch in ihrem eigenen Interessen den Eklat zu vermeiden. Als er ankam, hatte er gesehen, wie sie in die Damentoilette ging. Er war ihr gefolgt, hatte abgewartet, bis sie wieder herauskam, um mit ihr zu reden. Er hatte sich ihr in den Weg gestellt, sie hatte an ihm vorbei schlüpfen wollen, aber er hatte sie nicht gelassen. Sie begann zu schreien und noch bevor jemand das hören konnte, hatte er begonnen ihre Kehle zuzudrücken. Sie hatte so schrecklich gezappelt und er hatte erst von ihr abgelassen, als sie zu Boden ging. Dann war er in die Innenstadt geradelt und hatte sich betrunken und gehofft, ungeschoren davon zu kommen. Penelope Kiesling würde ihre Silberne Konfirmation nicht mehr erleben, nicht einmal die Konfirmation ihres dreijährigen Sohnes.
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Freitag, 7. Juli 2017
Silberkonfirmation – zweiteiliger Kurzkrimi – Teil I
c. fabry, 17:14h
Stefan Schüssle betrat die vertraute Kirche erst gegen zehn Minuten vor elf. Alle anderen waren überpünktlich gegen halb elf erschienen und hatten sich schon vor der Kirche gegenseitig begrüßt. Er hielt Ausschau nach den vertrauteren unter den bekannten Gesichtern. Er entdeckte die natürliche Tonsur seines langjährigen Freundes Marcus Mitloss. In diesem Moment erkannte er auch alle anderen in der Bankreihe: Holger Wickler, den alle Panne nannten, mit seiner Frau Antonia, genannt Toni. Philipp Kiesling, der immer noch Fliege hieß, mit seiner Gattin Penelope, deren ungewöhnlicher Name zum derben Rufnamen Penne verunstaltet worden war, Rike Pepper, ohne Partner und Marius Speicher mit seiner Lebensgefährtin Meret. Ihn selbst nannten sie einfach Schüssel und als er sie da alle so sitzen sah, diese Clique, die sich vor knapp 25 Jahren im Gemeindehaus konstituiert hatte, da beschlich ihn plötzlich das ungute Gefühl, die Zeit bleibe für immer stehen. Dabei war er selbst derjenige, der immer den größten Abstand gehalten hatte, weil er eigenwillig und klug war und nie Lust gehabt hatte, sich ins Koma zu saufen und im Rausch wechselnden Tanzpartnerinnen die Zunge bis tief in die Speiseröhre hinein in den Hals zu schieben. Er nahm neben Marcus Platz, den übrigens alle Max nannten. Das war auch so ein Relikt aus ihrer Jugend, dass alle irgendeinen Spitznamen verpasst bekamen, je blöder, desto besser und umso hartnäckiger hielt er sich dann auch. Nur Meret war von dieser Unsitte gänzlich verschont geblieben.
So gelangweilt wie vor fünfundzwanzig Jahren warteten die Neununddreißigjährigen auf den Beginn des Gottesdienstes und tuschelten in vertrauter Disziplinlosigkeit.
„Guck mal, Marina ist noch fetter als damals.“, wisperte Panne seinem Kumpel Fliege ins Ohr. Der zuckte nur mit den Schultern, war seine eigene Frau schließlich genauso wenig eine Hunger-Model wie er selbst.
„Sebastian Bremer hätte ich beinahe nicht erkannt.“, raunte Max. „Der sieht ja aus wie mindestens fünfzig. Sehen wir etwa auch so alt aus?“
„Wir doch nicht.“, erwiderte Schüssel grinsend. „Wir ernähren uns ausschließlich von gesundem Grillgut, treiben regelmäßig Golfsport und sorgen für eine gesundheitsfördernde Life-Work-Balance.“
„Also ich fress meistens Pizza und Golf spiel ich auch nicht.“, gab Max zu bedenken.
„Dann ist es wohl die mangelnde Reife, die dich jünger erscheinen lässt.“, erwiderte Schüssel und Max rammte ihm einen Ellbogen in die Seite.
„Was zu beweisen war.“, flüsterte Schüssel daraufhin.
Sie brachten den Gottesdienst hinter sich, gingen gemeinsam zum Abendmahl, kicherten immer wieder, weil sie die Liturgie nicht kannten und sich allesamt wie Hochstapler fühlten, aber eigentlich waren sie auch gekommen, weil diese Veranstaltung so ähnlich wie ein Klassentreffen ein Wiedersehen mit Menschen bedeutete, die zwar im eigenen Leben keine besondere Rolle spielten, auf die man aber dennoch neugierig war. Beim anschließenden Süppchen im Gemeindehaus kamen sie diesbezüglich auf ihre Kosten.
„Ist die Gulaschsuppe aus der Dose?“, fragte Panne und zog einen Flunsch.
„Ach mecker nich', Panne.“, ermahnte ihn Fliege. „Der Hunger treibts rein. Ist immer noch besser als die kalten Ravioli, die wir damals im Vorkommando gefressen haben.“
„Mir wird heute noch schlecht, wenn ich daran denke.“, gab Speicher ihm Recht.
„Wieso?“, fragte Max. „Ich fand kalte Ravioli immer piekfein. Ziehe ich mir heute noch regelmäßig rein, wenn ich keine Zeit habe, 'ne Pizza in den Ofen zu schieben.“
„Du könntest zur Abwechselung ja auch mal selber kochen.“, erklärte Meret mit nörgelnder Langsamkeit. „Wär auch viel gesünder.“
„Ich kann nicht kochen.“, gab Max unwirsch zurück. „Früher, als wir noch jeden Tag im Jugendcafé rumgehangen haben, wisst ihr noch, Kölpes Salamiburger aus dem elektrischen Überbacker?“
„Da gab's doch noch keine Sandwichtoaster.“, mischte Rike sich besserwisserisch ein.
„Nee, ich meine ja auch dieses Elektroteil, das wir vom Flohmarkt geschossen haben. Das war wie so'n kleiner Backofen. Für Käsetoast oder kleine Fertigpizzen.“
„Stimmt.“, erinnerte sich Rike. „Irgendwann hat Finsterburger da drin ein Schokokusstoast überbacken und dann ist alles angebrannt und danach haben wir den Apparat weggeschmissen.“
„Da waren die besten Zeiten aber schon vorbei.“, meinte Panne. „Als wir noch mit Hotte was los gemacht haben, das war noch richtig Jugendarbeit. Nachher mit Timmi, das war allles so ein kopflastiger Schwachsinn und die richtig geilen Sachen sind hinten rüber gefallen.“
„Stimmt.“, pflichtete Speicher ihm bei. „Mit Hotte im Lager, da war noch das Motto, der Mitarbeiter geht so lange zur Theke bis er bricht. Bei Timmi wurden die Pilsken gedeckelt und die Kurzen waren ganz verboten. Wie im Kindergarten.“
„Dafür hat Timmi coole Sachen für Mädchen gemacht.“, meinte Penne.
„Ja, eben.“, bölkte Fliege und lachte dreckig. Seine Kumpels stimmten mit ein in das Gegröle, die Frauen schüttelten mit den Köpfen.
„Also ich fand beide gut.“, erklärte Toni versöhnlich. „Hotte war wie ein großer Papa und Timmi wie ein großer Bruder.“
„Eher wie eine große Schwester.“, meinte Fliege.
„Na, das ist ja nun mal egal.“, sagte Panne. „Jetzt gibt es keinen mehr, der hier für die Jugendarbeit zuständig ist und wir sind zum Glück schon groß. Wäre nur schön, wenn es noch was für unsere Kinder gäbe.“
„Musste mal selber was auf die Beine stellen.“, schlug Max vor. „Dann gibt’s auch was für Kinder. Jugendleiterschein haste ja.“
„Nee, nee.“, wies Panne den Vorschlag von sich. „Ich habe jahrelang Jungschar und so gemacht, jetzt sind mal andere dran.“
„Ach schade.“, sagte Rike plötzlich. „Ich wollte mich doch noch kurz zu Janina und Sandra setzen, jetzt sind die schon gegangen.“
„Die hatten schon früher kein Sitzfleisch.“, meinte Meret.
„Ich gerade auch nicht.“, sagte Penne. „Ich muss mal aufs Klo.“
Penne verschwand und Fliege sagte mit gedämpfter Stimme. „Die muss in letzter Zeit wieder ständig pissen. Das war damals bei Janos auch so. Sie sagt ja nichts, aber ich glaube die hat schon wieder'n Braten in der Röhre.“
„Warum fragst du sie nicht einfach?“, fragte Toni irritiert.
„Die ist irgendwie komisch drauf in letzter Zeit.“, meinte Fliege. „Will immer nicht angefasst werden und so. Zuerst dachte ich ja, sie hat vielleicht 'n Anderen. Aber ich glaube, da geht’s gerade im Kopf los. So Schwangerschafts-Irrsinn.“
„Dann ist es mit unseren Sauftouren wohl vorerst auch vorbei.“, überlegte Panne bedauernd.
„Ist eh nicht mehr so wie früher.“, pflichtete Fliege ihm bei. „Das waren noch Zeiten, als sie uns vom Camping-Platz werfen wollten, weil Detuschmade nachts um vier in den Turm mit den leeren Contis gekracht ist. Mann, hat das gescheppert!“
„War das die Tour wo Brehm diesen heftige Video gedreht hat, wo Deutschmade Rocko die Zunge in den Hals geschoben hat?“
„Ja genau.“, mischte Speicher sich ein. „Der war voll wie zehn Russen. Hat Rocko mit der Perle aus einem von den Wohnwagen verwechselt, die Brehm dann in der gleichen Nacht noch durchgenudelt hat.“
„In der Nacht?“, fragte Panne. „Das war nachmittags, als Toni mich abgeholt hat. Ich musste noch meine Klamotten aus dem Zelt holen und Brehm hat einfach weiter gevögelt. Ich dachte echt, ich bin im falschen Film.“
Max schüttelte grinsend den Kopf: „Ihr wart echt verdammt eklige Kerle.“
„Angehende Alkoholiker eben.“, bemerkte Schüssel spitz.
„Wer ist hier Alkoholiker?“, fragte Speicher aufbrausend.
„Man sagt ja“, erwiderte Schüssel. „Man selbst ist der letzte, der es merkt.“
„Wenn hier einer nix merkt, dann bist du das, Schüssel, alter Schach-Golfer. Kommt wohl vom vielen Cabrio Fahren, zu viel Durchzug im Gehirn.“
„Marius, halt einfach die Klappe!“, wies Meret ihn zurecht. „Trink deinen Kaffee und entspann dich. Ist jawohl kein Geheimnis, dass ihr alle damals nicht mehr weit weg vom Dauersuff wart. Wenn ihr so weitergemacht hättet, lägt ihr alle schon unter der Erde.“
„So schlimm waren wir gar nicht.“, widersprach Panne. „Wir haben ja nicht einmal auf den Freizeiten gesoffen, zumindest nicht nennenswert.“
„War auch viel zu teuer in Norwegen.“, meinte Fliege. „Aber cool war das trotzdem. Da bin ich auch mit Penne zusammengekommen.“
„Wo bleibt die eigentlich?“, fragte Meret sorgenvoll. „Ich gehe mal aufs Klo und sehe nach.“
Rike wies gerade darauf hin, dass am kommenden Wochenende ein äußerst spannendes Fußballspiel anstehe, da kehrte Meret mit verstörtem Gesichtsausdruck zurück.
„Kann mal einer einen Krankenwagen rufen?“, wimmerte sie. „Penne liegt da und rührt sich nicht.“
FORTSETZUNG FOLGT AM 14.07.
So gelangweilt wie vor fünfundzwanzig Jahren warteten die Neununddreißigjährigen auf den Beginn des Gottesdienstes und tuschelten in vertrauter Disziplinlosigkeit.
„Guck mal, Marina ist noch fetter als damals.“, wisperte Panne seinem Kumpel Fliege ins Ohr. Der zuckte nur mit den Schultern, war seine eigene Frau schließlich genauso wenig eine Hunger-Model wie er selbst.
„Sebastian Bremer hätte ich beinahe nicht erkannt.“, raunte Max. „Der sieht ja aus wie mindestens fünfzig. Sehen wir etwa auch so alt aus?“
„Wir doch nicht.“, erwiderte Schüssel grinsend. „Wir ernähren uns ausschließlich von gesundem Grillgut, treiben regelmäßig Golfsport und sorgen für eine gesundheitsfördernde Life-Work-Balance.“
„Also ich fress meistens Pizza und Golf spiel ich auch nicht.“, gab Max zu bedenken.
„Dann ist es wohl die mangelnde Reife, die dich jünger erscheinen lässt.“, erwiderte Schüssel und Max rammte ihm einen Ellbogen in die Seite.
„Was zu beweisen war.“, flüsterte Schüssel daraufhin.
Sie brachten den Gottesdienst hinter sich, gingen gemeinsam zum Abendmahl, kicherten immer wieder, weil sie die Liturgie nicht kannten und sich allesamt wie Hochstapler fühlten, aber eigentlich waren sie auch gekommen, weil diese Veranstaltung so ähnlich wie ein Klassentreffen ein Wiedersehen mit Menschen bedeutete, die zwar im eigenen Leben keine besondere Rolle spielten, auf die man aber dennoch neugierig war. Beim anschließenden Süppchen im Gemeindehaus kamen sie diesbezüglich auf ihre Kosten.
„Ist die Gulaschsuppe aus der Dose?“, fragte Panne und zog einen Flunsch.
„Ach mecker nich', Panne.“, ermahnte ihn Fliege. „Der Hunger treibts rein. Ist immer noch besser als die kalten Ravioli, die wir damals im Vorkommando gefressen haben.“
„Mir wird heute noch schlecht, wenn ich daran denke.“, gab Speicher ihm Recht.
„Wieso?“, fragte Max. „Ich fand kalte Ravioli immer piekfein. Ziehe ich mir heute noch regelmäßig rein, wenn ich keine Zeit habe, 'ne Pizza in den Ofen zu schieben.“
„Du könntest zur Abwechselung ja auch mal selber kochen.“, erklärte Meret mit nörgelnder Langsamkeit. „Wär auch viel gesünder.“
„Ich kann nicht kochen.“, gab Max unwirsch zurück. „Früher, als wir noch jeden Tag im Jugendcafé rumgehangen haben, wisst ihr noch, Kölpes Salamiburger aus dem elektrischen Überbacker?“
„Da gab's doch noch keine Sandwichtoaster.“, mischte Rike sich besserwisserisch ein.
„Nee, ich meine ja auch dieses Elektroteil, das wir vom Flohmarkt geschossen haben. Das war wie so'n kleiner Backofen. Für Käsetoast oder kleine Fertigpizzen.“
„Stimmt.“, erinnerte sich Rike. „Irgendwann hat Finsterburger da drin ein Schokokusstoast überbacken und dann ist alles angebrannt und danach haben wir den Apparat weggeschmissen.“
„Da waren die besten Zeiten aber schon vorbei.“, meinte Panne. „Als wir noch mit Hotte was los gemacht haben, das war noch richtig Jugendarbeit. Nachher mit Timmi, das war allles so ein kopflastiger Schwachsinn und die richtig geilen Sachen sind hinten rüber gefallen.“
„Stimmt.“, pflichtete Speicher ihm bei. „Mit Hotte im Lager, da war noch das Motto, der Mitarbeiter geht so lange zur Theke bis er bricht. Bei Timmi wurden die Pilsken gedeckelt und die Kurzen waren ganz verboten. Wie im Kindergarten.“
„Dafür hat Timmi coole Sachen für Mädchen gemacht.“, meinte Penne.
„Ja, eben.“, bölkte Fliege und lachte dreckig. Seine Kumpels stimmten mit ein in das Gegröle, die Frauen schüttelten mit den Köpfen.
„Also ich fand beide gut.“, erklärte Toni versöhnlich. „Hotte war wie ein großer Papa und Timmi wie ein großer Bruder.“
„Eher wie eine große Schwester.“, meinte Fliege.
„Na, das ist ja nun mal egal.“, sagte Panne. „Jetzt gibt es keinen mehr, der hier für die Jugendarbeit zuständig ist und wir sind zum Glück schon groß. Wäre nur schön, wenn es noch was für unsere Kinder gäbe.“
„Musste mal selber was auf die Beine stellen.“, schlug Max vor. „Dann gibt’s auch was für Kinder. Jugendleiterschein haste ja.“
„Nee, nee.“, wies Panne den Vorschlag von sich. „Ich habe jahrelang Jungschar und so gemacht, jetzt sind mal andere dran.“
„Ach schade.“, sagte Rike plötzlich. „Ich wollte mich doch noch kurz zu Janina und Sandra setzen, jetzt sind die schon gegangen.“
„Die hatten schon früher kein Sitzfleisch.“, meinte Meret.
„Ich gerade auch nicht.“, sagte Penne. „Ich muss mal aufs Klo.“
Penne verschwand und Fliege sagte mit gedämpfter Stimme. „Die muss in letzter Zeit wieder ständig pissen. Das war damals bei Janos auch so. Sie sagt ja nichts, aber ich glaube die hat schon wieder'n Braten in der Röhre.“
„Warum fragst du sie nicht einfach?“, fragte Toni irritiert.
„Die ist irgendwie komisch drauf in letzter Zeit.“, meinte Fliege. „Will immer nicht angefasst werden und so. Zuerst dachte ich ja, sie hat vielleicht 'n Anderen. Aber ich glaube, da geht’s gerade im Kopf los. So Schwangerschafts-Irrsinn.“
„Dann ist es mit unseren Sauftouren wohl vorerst auch vorbei.“, überlegte Panne bedauernd.
„Ist eh nicht mehr so wie früher.“, pflichtete Fliege ihm bei. „Das waren noch Zeiten, als sie uns vom Camping-Platz werfen wollten, weil Detuschmade nachts um vier in den Turm mit den leeren Contis gekracht ist. Mann, hat das gescheppert!“
„War das die Tour wo Brehm diesen heftige Video gedreht hat, wo Deutschmade Rocko die Zunge in den Hals geschoben hat?“
„Ja genau.“, mischte Speicher sich ein. „Der war voll wie zehn Russen. Hat Rocko mit der Perle aus einem von den Wohnwagen verwechselt, die Brehm dann in der gleichen Nacht noch durchgenudelt hat.“
„In der Nacht?“, fragte Panne. „Das war nachmittags, als Toni mich abgeholt hat. Ich musste noch meine Klamotten aus dem Zelt holen und Brehm hat einfach weiter gevögelt. Ich dachte echt, ich bin im falschen Film.“
Max schüttelte grinsend den Kopf: „Ihr wart echt verdammt eklige Kerle.“
„Angehende Alkoholiker eben.“, bemerkte Schüssel spitz.
„Wer ist hier Alkoholiker?“, fragte Speicher aufbrausend.
„Man sagt ja“, erwiderte Schüssel. „Man selbst ist der letzte, der es merkt.“
„Wenn hier einer nix merkt, dann bist du das, Schüssel, alter Schach-Golfer. Kommt wohl vom vielen Cabrio Fahren, zu viel Durchzug im Gehirn.“
„Marius, halt einfach die Klappe!“, wies Meret ihn zurecht. „Trink deinen Kaffee und entspann dich. Ist jawohl kein Geheimnis, dass ihr alle damals nicht mehr weit weg vom Dauersuff wart. Wenn ihr so weitergemacht hättet, lägt ihr alle schon unter der Erde.“
„So schlimm waren wir gar nicht.“, widersprach Panne. „Wir haben ja nicht einmal auf den Freizeiten gesoffen, zumindest nicht nennenswert.“
„War auch viel zu teuer in Norwegen.“, meinte Fliege. „Aber cool war das trotzdem. Da bin ich auch mit Penne zusammengekommen.“
„Wo bleibt die eigentlich?“, fragte Meret sorgenvoll. „Ich gehe mal aufs Klo und sehe nach.“
Rike wies gerade darauf hin, dass am kommenden Wochenende ein äußerst spannendes Fußballspiel anstehe, da kehrte Meret mit verstörtem Gesichtsausdruck zurück.
„Kann mal einer einen Krankenwagen rufen?“, wimmerte sie. „Penne liegt da und rührt sich nicht.“
FORTSETZUNG FOLGT AM 14.07.
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Freitag, 30. Juni 2017
Am Anfang war das Wort
c. fabry, 22:30h
Annegret: - Oh Gott! Wo bin ich? Was ist passiert? Ich kriege keine Luft! Hilfe! Wieso hört mich keiner? Wieso höre ich mich nicht einmal selbst? Ich kann nicht sprechen! Mein Rücken tut so weh. Meine Beine sind so kalt, so kalt, dass ich sie kaum noch fühlen kann. Ist das der Tod? Es ist so eng und so dämmrig. Irgendwo dahinten ist Licht. Aber ich kann mich nicht bewegen. Ich glaube ich werde ohnmächtig.
Godehard: - Liegt sie etwa unter der Tür? Mein Gott hat das eben gekracht. Und sie macht keinen Mucks. Ist sie ohnmächtig oder tot?
„Annegret? Hörst Du mich?“
„...“
„Annegret, bleib ganz ruhig liegen, ich rufe die Feuerwehr und einen Rettungswagen.“
Annegret: - Wer ist das? Was ist eigentlich passiert? Wo war ich denn eben? Ich kann mich nicht erinnern. -
Kurze Zeit später rückten Feuerwehr und Rettungswagen an. Eine tonnenschwere Schiebetür, die man in den Siebzigerjahren nachträglich im Gemeindesaal eingebaut hatte, um den Raum im Bedarfsfall teilen zu können, war aus der Schiene gesprungen und hatte Annegret Grotjohann unter sich begraben. Geistesgegenwärtig hatte Godehard Fischer sofort den Rettungsdienst alarmiert und beobachtete nun völlig atemlos, wie die Tür mit Hydraulikhebern und Luftkissen von der hilflosen Frau gehoben wurde, bis die Sanitäter schließlich an die Schwerverletzte herankamen.
Sie lebte noch, schien auch ansprechbar, auch wenn sie selbst nicht sprach, aber in ihren Blicken waren Reaktionen zu erkennen. Der Kopf schien unversehrt geblieben zu sein, vermutlich verhinderte der Schock ihre Sprachfähigkeit. Die Sanitäter verbrachten die Verletzte in den Rettungswagen, die Feuerwehr machte sich daran, nach der Unfallursache zu forschen.
„Wie furchtbar.“, sagte Godehard Fischer, der noch immer kreidebleich im Gesicht war. Niemand hatte sich bisher um ihn gekümmert, dabei stand auch er offenkundig unter Schock. Einer der Feuerwehrleute überredete ihn, sich wenigstens zu setzen und ein Glas Wasser zu trinken. Fischer begann drauflos zu reden und der Feuerwehrmann hörte zu.
„Gerade eben hat sie noch hier gesessen. Und Sie ist eine Person mit so einer bewegten Lebensgeschichte. Zwanzig Jahre war sie Pfarrfrau in Unterhutzingen, eine glückliche dreifache Mutter, die in ihrer Lebensrolle aufging, da wurde ihr Ehemann plötzlich und unerwartet Opfer eines Verkehrsunfalls. Sechs Jahre lang hat er im Koma gelegen, bis er vor vier Jahren schließlich starb. Sie hat sich allein um die Zukunft ihrer Kinder gekümmert, ihren Mann täglich besucht und halbtags als Erzieherin gearbeitet. Als er starb, waren die Kinder in ihrem eigenen Leben angekommen und sie musste die Leere ausfüllen. Damals ist sie zu uns gestoßen, zu unserer Schreibwerkstatt. Mit kurzen Texten über Trauer im Alltag hat sie angefangen. Irgendwann entwickelten sich Geschichten daraus, manche davon wurden zu Gegenständen für Predigten. Mittlerweile verfasst sie ganze Romane. Zwei hat sie schon veröffentlicht und gar nicht mal so erfolglos. Und nun verpasst das Leben ihr den nächsten Rückschlag.“
Der Feuerwehrmann holte ein zweites Glas Wasser.
Der Rettungswagen raste über die Landstraßen. Immer wieder kam Annegret kurz zu Bewusstsein. Sie sah sich selbst im Sandkasten und hatte plötzlich das Gefühl von mit Sand panierter Katzenscheiße an der Hand. Auch der Geruch kroch ihr in die Nase. Ihre Beine schmerzten vom Fangen Spielen auf dem Hof der Grundschule. Die Bilder wechselten in rasantem Tempo: Mutters Geburtstagsfeiern mit Ananas-Sahne-Torte, Kindergottesdienst und das absurde Gefühl, Schuld am Kreuzestod Jesu zu haben, Radtouren durch Kornfelder, sittsame Geburtstagsfeiern mit Erdbeerbowle, wüste Feten in Scheunen und Garagen, Michael, die erste große Liebe, Dietrich mit seinen warmen Augen und den großen Händen. Cordelias Geburt, Jobst und Mariola, Erdbeertorte mit Sahne auf den blauen Bunzlauer Tellern, Sommerwind, Novembernebel. Cordelias Abiturfeier. Die Nachricht von Dietrichs Unfall. Dietrich an den lebenserhaltenden Geräten. Cordelias Auszug, Mariolas Konfirmation, Jobsts Abiturfeier, Dietrichs Beerdigung und dann war da nur noch Greta Johann, Greta Johann, „Rosentau“ von Greta Johann, „Liebe im Schatten“ von Greta Johann, Stifte, Zettel, Kladden, Geschichten, Laptop, Verlagspost, Greta Johann, ich bin Greta Johann.
Godehard Fischer ließ den Vormittag Revue passieren. Ausgerechnet heute war Annegret so guter Dinge gewesen. Ihr aktueller Roman stand kurz vor der Fertigstellung. Heiner hatte gemeint: „Ach Annegret, du hältst uns doch auch nur noch aus Mitleid die Treue. Du spielst doch mittlerweile in einer ganz anderen Liga.“
Roswitha hatte sauertöpfisch drein geblickt und auf Annegrets Reaktion gelauert. Sie ertrug es nur schwer, dass die stämmige Witwe, die weder beruflich noch optisch etwas hermachte, im literarischen Umfeld so außerordentlich erfolgreich war, während sie selbst, die sich in ihrer Zartheit und der geschmackvollen Art sich zu kleiden, durchaus für eine aparte Erscheinung hielt und die ja auch als Gymnasial-Lehrerin für Englisch, Deutsch und Literatur eine gewisse Expertise geltend machen konnte, kaum wahrgenommen, ja geradezu ignoriert wurde.
Aber diplomatisch und frei von jedwedem Argwohn hatte Annegret geantwortet: „Ich habe hier angefangen, weil ich Kontakt zu netten Menschen gesucht habe und ich bleibe dabei, weil ich diesen Kontakt weiter pflegen will. Wenn dabei ein weiteres Gefühl im Spiel ist, ist das sicher kein Mitleid, sondern vielmehr Dankbarkeit und Wertschätzung.“
Sigmar, der sich selbst als unromantischen Realisten bezeichnete, sagte: „Du bist einfach zu gut für diese Welt.“
„Für die Welt kann man gar nicht zu gut sein.“, wandte die redselige Karin ein. Im Geiste bezeichnete Godehard sie immer als das Maschinengewehr des Literaturkreises. Er betete regelmäßig, dass sie nie auf die Idee kam, eine öffentliche Lesung anzubieten. Sie sprach so schnell, dass einem schwindelig davon wurde. So auch jetzt. „Also das ist doch ganz toll, wenn wir uns als Gruppe gegenseitig so wichtig sind wie Angehörige einer Familie, dass uns ganz egal ist, ob uns das bei unserem Schreiberfolg weiterbringt. Wir sind ja schließlich eine Gruppe der Kirchengemeinde, da benutzt man sich nicht gegenseitig, sondern unterstützt sich und sieht sich als Gemeinschaft. Und ich finde, Annegrets Erfolg ist auch unser Erfolg. Das soll nicht heißen, dass Annegret das nicht auch ohne uns hätte schaffen können, aber wir waren die ganze Zeit an ihrer Seite und sie war die ganze Zeit an unserer Seite und hat uns an ihrem Leben teilhaben lassen und das ist doch toll.“
„Also ich würde jetzt gerne die Vorleserunde fortsetzen.“, erklärte Gudrun resolut. „Ich bin nämlich hier, weil es mir Spaß macht, zu hören, was die anderen geschrieben haben und meine Texte vorstellen zu können. Seelenmassage könnt ihr hinterher in der Eisdiele betreiben.“
„Ich glaube, ich bin als nächste dran.“, meinte Livia. Als niemand widersprach fuhr sie fort: „Ich habe heute ein Gedicht mitgebracht:
Glaube
Ich glaube was ich sehen kann,
doch hat das Fuß und Hand?
Wirkt eine Illusion real,
täuscht sich auch mein Verstand.
Das, was logisch ist, das stimmt.
Geschenk der Wissenschaft.
Aber woher weht der Wind,
wenn eine These fehlerhaft?
Ich glaube, was ich fühlen kann:
Wärme, Nähe, Trauer, Glück.
Etwas, das ich von Gott bekam,
das gebe ich ihm gern zurück."
Das Reimen, wollte Livia nicht so recht gelingen, fand Godehard. Da konnte ihm niemand in der Gruppe das Wasser reichen, nicht einmal Annegret, die machte ja mehr in Prosa. Was Annegret wohl gerade dachte?
Annegret war sich noch immer nicht im Klaren darüber, was eigentlich mit ihr geschehen war. Sie wusste, wer sie war, hatte ihr Leben kurz Revue passieren lassen und schließlich festgestellt, dass sie sich in ihrem siebten Lebensjahrzehnt befand, eine schnucklige Eigentumswohnung mit Handtuchgarten bewohnte und seit dem Tod ihres Mannes ganz und gar im Schreiben aufging. Ja, sie hatten sich heute Morgen zum Literaturkreis getroffen. Sie erinnerte sich an Roswithas missgünstig lauernden Blicke, nachdem Heiner einen kleinen Flirt gewagt hatte – und an Livias unsägliches Gedicht, die Ärmste, sie glaubte das Schreiben für sich entdeckt zu haben, endlich am Lebensabend zu ihrer wahren Bestimmung gefunden zu haben, aber sie beherrschte literarische Handwerk genauso wenig wie ihre früheren Steckenpferde. Sie hatte sich schon als Solosängerin versucht, als Kochkursleiterin, als Hobbytheologin und als Malerin. Was sie auch anfasste, was dabei herauskam war jedes Mal gnadenlos dilettantisch und nicht einmal mittelmäßig. Doch nicht einmal mit Mittelmäßigkeit wollte Livia sich zufrieden geben und die Gruppe ertrug sie still. Dann war die Zeit irgendwann um gewesen und alle bis auf Godehard und sie selbst waren nach Hause gegangen. Godehard wollte sich noch ein wenig von ihr beraten lassen oder um es deutlicher zu formulieren, sie als kostenlose Lektorin ausnutzen. Sie hatten kurz geredet, dann war er zur Toilette verschwunden und plötzlich war da dieses Krachen gewesen, die plötzliche Dunkelheit und entsetzlicher Schmerz. Irgendetwas hatte sie unter sich begraben. Ein Regal, ein Schrank, oder war da am Ende eine Wand eingestürzt? Sie wusste es nicht.
Godehard machte sich Sorgen um Annegret. Woran genau würde sie sich erinnern? Was hatte sie mitbekommen? Roswithas Missgunst, Livias Neid und Gudruns Desinteresse waren offensichtlich gewesen, aber hatte sie auch gespürt, wie sehr es seine Eitelkeit verletzt hatte, dass sie mit ihren Herzschmerz-Romanen so viel Anerkennung bekam, während er selbst mit seiner hochkarätigen, philosophischen Dichtung zur Bedeutungslosigkeit verdammt war? Machte sie sch am Ende einen Reim darauf, dass die Tür ausgerechnet während seines Toilettengangs aus den Schienen gesprungen war? Hatte sie womöglich gehört, wie er von der anderen Seite dagegen gedrückt hatte? Natürlich hatte er Handschuhe benutzt, wer täte das nicht, aber wenn die Feuerwehr zweifelsfrei feststellte, dass an der Tür manipuliert worden war, dass sie jemand mutwillig aus der Schiene gerissen hatte, durch bewusst falsches Hin- und Herschieben und wenn dann jemand gesehen hatte, dass er bereits zwei Stunden vor Beginn des Treffens im Gemeindehaus war, dann würde er in echte Erklärungsnot kommen und am Ende sein Lebenswerk im Gefängnis beschließen. Er fürchtete sich schon jetzt.
Annegret Grotjohann konnte nie wieder laufen.
Godehard: - Liegt sie etwa unter der Tür? Mein Gott hat das eben gekracht. Und sie macht keinen Mucks. Ist sie ohnmächtig oder tot?
„Annegret? Hörst Du mich?“
„...“
„Annegret, bleib ganz ruhig liegen, ich rufe die Feuerwehr und einen Rettungswagen.“
Annegret: - Wer ist das? Was ist eigentlich passiert? Wo war ich denn eben? Ich kann mich nicht erinnern. -
Kurze Zeit später rückten Feuerwehr und Rettungswagen an. Eine tonnenschwere Schiebetür, die man in den Siebzigerjahren nachträglich im Gemeindesaal eingebaut hatte, um den Raum im Bedarfsfall teilen zu können, war aus der Schiene gesprungen und hatte Annegret Grotjohann unter sich begraben. Geistesgegenwärtig hatte Godehard Fischer sofort den Rettungsdienst alarmiert und beobachtete nun völlig atemlos, wie die Tür mit Hydraulikhebern und Luftkissen von der hilflosen Frau gehoben wurde, bis die Sanitäter schließlich an die Schwerverletzte herankamen.
Sie lebte noch, schien auch ansprechbar, auch wenn sie selbst nicht sprach, aber in ihren Blicken waren Reaktionen zu erkennen. Der Kopf schien unversehrt geblieben zu sein, vermutlich verhinderte der Schock ihre Sprachfähigkeit. Die Sanitäter verbrachten die Verletzte in den Rettungswagen, die Feuerwehr machte sich daran, nach der Unfallursache zu forschen.
„Wie furchtbar.“, sagte Godehard Fischer, der noch immer kreidebleich im Gesicht war. Niemand hatte sich bisher um ihn gekümmert, dabei stand auch er offenkundig unter Schock. Einer der Feuerwehrleute überredete ihn, sich wenigstens zu setzen und ein Glas Wasser zu trinken. Fischer begann drauflos zu reden und der Feuerwehrmann hörte zu.
„Gerade eben hat sie noch hier gesessen. Und Sie ist eine Person mit so einer bewegten Lebensgeschichte. Zwanzig Jahre war sie Pfarrfrau in Unterhutzingen, eine glückliche dreifache Mutter, die in ihrer Lebensrolle aufging, da wurde ihr Ehemann plötzlich und unerwartet Opfer eines Verkehrsunfalls. Sechs Jahre lang hat er im Koma gelegen, bis er vor vier Jahren schließlich starb. Sie hat sich allein um die Zukunft ihrer Kinder gekümmert, ihren Mann täglich besucht und halbtags als Erzieherin gearbeitet. Als er starb, waren die Kinder in ihrem eigenen Leben angekommen und sie musste die Leere ausfüllen. Damals ist sie zu uns gestoßen, zu unserer Schreibwerkstatt. Mit kurzen Texten über Trauer im Alltag hat sie angefangen. Irgendwann entwickelten sich Geschichten daraus, manche davon wurden zu Gegenständen für Predigten. Mittlerweile verfasst sie ganze Romane. Zwei hat sie schon veröffentlicht und gar nicht mal so erfolglos. Und nun verpasst das Leben ihr den nächsten Rückschlag.“
Der Feuerwehrmann holte ein zweites Glas Wasser.
Der Rettungswagen raste über die Landstraßen. Immer wieder kam Annegret kurz zu Bewusstsein. Sie sah sich selbst im Sandkasten und hatte plötzlich das Gefühl von mit Sand panierter Katzenscheiße an der Hand. Auch der Geruch kroch ihr in die Nase. Ihre Beine schmerzten vom Fangen Spielen auf dem Hof der Grundschule. Die Bilder wechselten in rasantem Tempo: Mutters Geburtstagsfeiern mit Ananas-Sahne-Torte, Kindergottesdienst und das absurde Gefühl, Schuld am Kreuzestod Jesu zu haben, Radtouren durch Kornfelder, sittsame Geburtstagsfeiern mit Erdbeerbowle, wüste Feten in Scheunen und Garagen, Michael, die erste große Liebe, Dietrich mit seinen warmen Augen und den großen Händen. Cordelias Geburt, Jobst und Mariola, Erdbeertorte mit Sahne auf den blauen Bunzlauer Tellern, Sommerwind, Novembernebel. Cordelias Abiturfeier. Die Nachricht von Dietrichs Unfall. Dietrich an den lebenserhaltenden Geräten. Cordelias Auszug, Mariolas Konfirmation, Jobsts Abiturfeier, Dietrichs Beerdigung und dann war da nur noch Greta Johann, Greta Johann, „Rosentau“ von Greta Johann, „Liebe im Schatten“ von Greta Johann, Stifte, Zettel, Kladden, Geschichten, Laptop, Verlagspost, Greta Johann, ich bin Greta Johann.
Godehard Fischer ließ den Vormittag Revue passieren. Ausgerechnet heute war Annegret so guter Dinge gewesen. Ihr aktueller Roman stand kurz vor der Fertigstellung. Heiner hatte gemeint: „Ach Annegret, du hältst uns doch auch nur noch aus Mitleid die Treue. Du spielst doch mittlerweile in einer ganz anderen Liga.“
Roswitha hatte sauertöpfisch drein geblickt und auf Annegrets Reaktion gelauert. Sie ertrug es nur schwer, dass die stämmige Witwe, die weder beruflich noch optisch etwas hermachte, im literarischen Umfeld so außerordentlich erfolgreich war, während sie selbst, die sich in ihrer Zartheit und der geschmackvollen Art sich zu kleiden, durchaus für eine aparte Erscheinung hielt und die ja auch als Gymnasial-Lehrerin für Englisch, Deutsch und Literatur eine gewisse Expertise geltend machen konnte, kaum wahrgenommen, ja geradezu ignoriert wurde.
Aber diplomatisch und frei von jedwedem Argwohn hatte Annegret geantwortet: „Ich habe hier angefangen, weil ich Kontakt zu netten Menschen gesucht habe und ich bleibe dabei, weil ich diesen Kontakt weiter pflegen will. Wenn dabei ein weiteres Gefühl im Spiel ist, ist das sicher kein Mitleid, sondern vielmehr Dankbarkeit und Wertschätzung.“
Sigmar, der sich selbst als unromantischen Realisten bezeichnete, sagte: „Du bist einfach zu gut für diese Welt.“
„Für die Welt kann man gar nicht zu gut sein.“, wandte die redselige Karin ein. Im Geiste bezeichnete Godehard sie immer als das Maschinengewehr des Literaturkreises. Er betete regelmäßig, dass sie nie auf die Idee kam, eine öffentliche Lesung anzubieten. Sie sprach so schnell, dass einem schwindelig davon wurde. So auch jetzt. „Also das ist doch ganz toll, wenn wir uns als Gruppe gegenseitig so wichtig sind wie Angehörige einer Familie, dass uns ganz egal ist, ob uns das bei unserem Schreiberfolg weiterbringt. Wir sind ja schließlich eine Gruppe der Kirchengemeinde, da benutzt man sich nicht gegenseitig, sondern unterstützt sich und sieht sich als Gemeinschaft. Und ich finde, Annegrets Erfolg ist auch unser Erfolg. Das soll nicht heißen, dass Annegret das nicht auch ohne uns hätte schaffen können, aber wir waren die ganze Zeit an ihrer Seite und sie war die ganze Zeit an unserer Seite und hat uns an ihrem Leben teilhaben lassen und das ist doch toll.“
„Also ich würde jetzt gerne die Vorleserunde fortsetzen.“, erklärte Gudrun resolut. „Ich bin nämlich hier, weil es mir Spaß macht, zu hören, was die anderen geschrieben haben und meine Texte vorstellen zu können. Seelenmassage könnt ihr hinterher in der Eisdiele betreiben.“
„Ich glaube, ich bin als nächste dran.“, meinte Livia. Als niemand widersprach fuhr sie fort: „Ich habe heute ein Gedicht mitgebracht:
Glaube
Ich glaube was ich sehen kann,
doch hat das Fuß und Hand?
Wirkt eine Illusion real,
täuscht sich auch mein Verstand.
Das, was logisch ist, das stimmt.
Geschenk der Wissenschaft.
Aber woher weht der Wind,
wenn eine These fehlerhaft?
Ich glaube, was ich fühlen kann:
Wärme, Nähe, Trauer, Glück.
Etwas, das ich von Gott bekam,
das gebe ich ihm gern zurück."
Das Reimen, wollte Livia nicht so recht gelingen, fand Godehard. Da konnte ihm niemand in der Gruppe das Wasser reichen, nicht einmal Annegret, die machte ja mehr in Prosa. Was Annegret wohl gerade dachte?
Annegret war sich noch immer nicht im Klaren darüber, was eigentlich mit ihr geschehen war. Sie wusste, wer sie war, hatte ihr Leben kurz Revue passieren lassen und schließlich festgestellt, dass sie sich in ihrem siebten Lebensjahrzehnt befand, eine schnucklige Eigentumswohnung mit Handtuchgarten bewohnte und seit dem Tod ihres Mannes ganz und gar im Schreiben aufging. Ja, sie hatten sich heute Morgen zum Literaturkreis getroffen. Sie erinnerte sich an Roswithas missgünstig lauernden Blicke, nachdem Heiner einen kleinen Flirt gewagt hatte – und an Livias unsägliches Gedicht, die Ärmste, sie glaubte das Schreiben für sich entdeckt zu haben, endlich am Lebensabend zu ihrer wahren Bestimmung gefunden zu haben, aber sie beherrschte literarische Handwerk genauso wenig wie ihre früheren Steckenpferde. Sie hatte sich schon als Solosängerin versucht, als Kochkursleiterin, als Hobbytheologin und als Malerin. Was sie auch anfasste, was dabei herauskam war jedes Mal gnadenlos dilettantisch und nicht einmal mittelmäßig. Doch nicht einmal mit Mittelmäßigkeit wollte Livia sich zufrieden geben und die Gruppe ertrug sie still. Dann war die Zeit irgendwann um gewesen und alle bis auf Godehard und sie selbst waren nach Hause gegangen. Godehard wollte sich noch ein wenig von ihr beraten lassen oder um es deutlicher zu formulieren, sie als kostenlose Lektorin ausnutzen. Sie hatten kurz geredet, dann war er zur Toilette verschwunden und plötzlich war da dieses Krachen gewesen, die plötzliche Dunkelheit und entsetzlicher Schmerz. Irgendetwas hatte sie unter sich begraben. Ein Regal, ein Schrank, oder war da am Ende eine Wand eingestürzt? Sie wusste es nicht.
Godehard machte sich Sorgen um Annegret. Woran genau würde sie sich erinnern? Was hatte sie mitbekommen? Roswithas Missgunst, Livias Neid und Gudruns Desinteresse waren offensichtlich gewesen, aber hatte sie auch gespürt, wie sehr es seine Eitelkeit verletzt hatte, dass sie mit ihren Herzschmerz-Romanen so viel Anerkennung bekam, während er selbst mit seiner hochkarätigen, philosophischen Dichtung zur Bedeutungslosigkeit verdammt war? Machte sie sch am Ende einen Reim darauf, dass die Tür ausgerechnet während seines Toilettengangs aus den Schienen gesprungen war? Hatte sie womöglich gehört, wie er von der anderen Seite dagegen gedrückt hatte? Natürlich hatte er Handschuhe benutzt, wer täte das nicht, aber wenn die Feuerwehr zweifelsfrei feststellte, dass an der Tür manipuliert worden war, dass sie jemand mutwillig aus der Schiene gerissen hatte, durch bewusst falsches Hin- und Herschieben und wenn dann jemand gesehen hatte, dass er bereits zwei Stunden vor Beginn des Treffens im Gemeindehaus war, dann würde er in echte Erklärungsnot kommen und am Ende sein Lebenswerk im Gefängnis beschließen. Er fürchtete sich schon jetzt.
Annegret Grotjohann konnte nie wieder laufen.
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Freitag, 23. Juni 2017
Kurschuss schreibt, Lenz antwortet
c. fabry, 00:46h
Hätte die Pastorin gewusst, welche Folgen ihr Brief haben würde, hätte sie ihn lieber nicht selbst geschrieben. Aber hinterher ist man immer schlauer
Hätte Herr Lenz gewusst, was er mit dem folgenden Brief anrichtet, hätte er ihn wohl nur an die Adressatin geschickt und nicht gleich auf seine Facebookseite. Am Ende hatte er keine Liebste mehr. Von der hatte ein Fan des Höchsten ihn befreit. Der wollte nämlich ein Zeichen setzen, für Frieden und Gerechtigkeit und für das Recht der Evangelischen Kirche, sich selbst zu feiern, ohne dass Stänkerer ihr in die Suppe spuckten.
„Sehr geehrter Herr Lenz,
wissen Sie schon, was Sie für den 31. Oktober planen? Wieso? Weil das in diesem Jahr erstmalig ein Feiertag sein wird.“
Aber natürlich, gnädige Frau. Ich werde ausschlafen und kurz vor Mittag Tiefkühlbrötchen in den Ofen schieben, weil an besonderen Feiertagen die Bäcker geschlossen haben und ich den Schrott von der Tankstelle nicht mag.
Dann werde ich zu meiner Liebsten ins Bett kriechen und die Liebe aufwecken, bis es ihr selbst gefällt (frei nach Hoheslied Salomo 8,4).
Ich werde ausgiebig frühstücken, duschen, lesen oder Fernsehen und schließlich die Wohnung dekorieren, sowie mich selbst. Wieso? Weil ich eine stimmungsvolle Halloween-Party geben werde.
Sie schrieben: „Der Reformationstag jährt sich dann zum 500. Mal.“
Sie geben das als Grund für Ihren Brief an. Warum schreiben Sie mir überhaupt? Ich kenne Sie gar nicht. Sie schreiben:“Sie sind Mitglied der Evangelischen Kirche von Westfalen, in der ich als Präses leitende Pastorin bin.“
Was wollen Sie mir damit sagen? Dass Sie mein Chef sind? Oder sogar meine Schäferin? Stalken Sie jede Ihrer Karteileichen? Oder nur Pfarrerssöhne wie mich? Schwarze Schafe, die den Anschluss an die Herde verpasst haben? Aber woher wollen Sie wissen, wer ich bin? Wie ich schon sagte, wir kennen uns gar nicht. Da nützt auch Ihr gefotoshoptes Bewerbungsfoto nicht. Ebenso wenig Ihre Schlagzeilen: „Kein Mensch kann und muss sich selbst gut machen.“
Sie schreiben, dass Martin Luther am 31. Oktober 1517 mit dieser „bahnbrechenden Erkenntnis“ an die Öffentlichkeit ging. So weit, so platt. Aber dann erklären Sie mir: „Luther nannte das die Freiheit des Christenmenschen.“
Muslime, Juden, Hindus, Buddhisten, Schamanisten, Atheisten, Agnostiker, Esoteriker und Restreligiöse sind dann wohl keine Menschen, sondern Geschmeiß, das sich durchaus selbst gut machen müsste, wenn es das denn könnte?
Und dann soll der fünfhundert Jahre alte Befreiungsschlag uns auch gleich noch vom Höher, Schneller, Weiter des Turbokapitalismus befreien? Haben Sie noch alle Abendmahlsgeräte in der Sakristei?
Sie schreiben: „Was kann uns aus dieser Spirale befreien? Dass Gott uns mit Liebe ansieht. Diese Gewissheit haben wir durch Jesus Christus.“
Wir?! Wer ist wir?! Also ich nicht. Nichts ist gewiss. Sie glauben vielleicht, dass Gott Sie mit Liebe ansieht. Mich hat er mein Leben lang in den Arsch getreten.
Und über Jesus „hatte nicht einmal der Tod das letzte Wort“? Hat der Tod überhaupt Worte?
„Er schenkt uns Gemeinschaft mit Gott, die durch nichts und niemanden in Frage gestellt wird.“
Ich widerspreche. Ich stelle in Frage. Bin ich etwa niemand?
Wenn das wirklich „frei zu einem aufrechten Leben“ macht, warum schleichen dann so viele freie Christenmenschen mit gekrümmten Rücken und gequälten Seelen frei von Selbstwertgefühl durch die Gemeindehäuser? Und dann haben Sie die Stirn den Satz weiterzuspinnen mit den Worten „Und hoffentlich auch zu einem getrosten Sterben.“ Sind Sie noch bei Trost? Natürlich hoffe ich, nicht zu sterben.
„Martin Luther hat seine Entdeckung beim Lesen der Bibel gemacht.“ Ja, was kann man da schon erwarten? Richtige Entdecker machten ihre Entdeckungen auf riskanten Fernreisen, in Laboratorien unter zum Teil lebensbedrohliche Bedingungen. Sie haben gearbeitet. Luther hat gelesen. Oh, da hat er was entdeckt! Heureka! Ja gut, ich weiß, dass er auch sein Leben riskiert hat, aber das war nach der „Entdeckung“.
Die nächste Schlagzeile in Ihrem Drohbrief lautet: „Wir werden am Reformationstag 2017 frei haben – als Zeichen dafür, dass wir befreit sind von der ständigen Sorge um uns selbst.“
Haben Sie sich das selbst ausgedacht? Glauben Sie, ich werde mich an diesem Tag weniger um mich selbst sorgen, nur weil Sie das so anordnen? Weil Sie meinen, der alte Luther hätte mich davon befreit? Von was wollen Sie mich denn noch befreien? Vielleicht von finanziellem Ballast? Schließlich müssen Sie diese Massenpost ja irgendwie refinanzieren. Und dann wollen Sie mir, nachdem Sie 1 ½ Seiten über Freiheit geschwafelt haben, auch noch vorschreiben, wie ich diesen arbeitsfreien Tag verbringen, beziehungsweise zu was ich ihn nutzen soll:
„- zum Innehalten und Gottesdienstfeiern
zum Einsatz für Mitmenschen und Mitgeschöpfe, die sonst niemand im Blick hat
zum tatkräftigen Eintreten für Frieden und Gerechtigkeit.“
Entweder tut man so etwas mindestens hundert Mal im Jahr oder eben nicht. Was haben übersehene Mitgeschöpfe davon, wenn ich Sie am 31. Oktober ausnahmsweise einmal angucke? Wie tritt man einen Tag lang für Frieden und Gerechtigkeit ein?
Nein, ich bin nicht neugierig auf den Festgottesdienst meiner Kirchengemeinde. Ich bin neugierig auf die lustvollen Melodien, die meine Liebste von sich gibt, wenn ich Sie zum Singen bringe und später auf den Verlauf meiner Halloweenparty. Und wenn ich fernsehe, dann sicher keinen Wiesenkirchen-Gottesdienst.
Sie wünschen mir, dass ich entdecke, warum ich Evangelisch bin? Ich weiß, warum das so ist. Mein Vater war Pfarrer, hat mich ohne zu fragen in diese Kirche reingetauft und wieder rauskonfirmiert. Ausgetreten bin ich nur nicht, weil ich dafür bisher zu faul war.
Ist das wirklich alles, was Ihnen zu fünfhundert Jahren Reformation einfällt? Die alte Suppe zum fünfhundertsten Mal aufwärmen? Wenn das mal am Ende keine kalten Füße gibt. Gott segne Sie meinetwegen auch. Is' mir egal.
Lenz
P.S.: Ein Wort, dass Ihnen in Ihrem Repertoire sicherlich noch fehlt. Evangelistischer Terminus für Prostituierte: Mietgeschöpfe
Ach ja, wenn Herr Lenz gewusst hätte, was er damit anrichtet....
Hätte Herr Lenz gewusst, was er mit dem folgenden Brief anrichtet, hätte er ihn wohl nur an die Adressatin geschickt und nicht gleich auf seine Facebookseite. Am Ende hatte er keine Liebste mehr. Von der hatte ein Fan des Höchsten ihn befreit. Der wollte nämlich ein Zeichen setzen, für Frieden und Gerechtigkeit und für das Recht der Evangelischen Kirche, sich selbst zu feiern, ohne dass Stänkerer ihr in die Suppe spuckten.
„Sehr geehrter Herr Lenz,
wissen Sie schon, was Sie für den 31. Oktober planen? Wieso? Weil das in diesem Jahr erstmalig ein Feiertag sein wird.“
Aber natürlich, gnädige Frau. Ich werde ausschlafen und kurz vor Mittag Tiefkühlbrötchen in den Ofen schieben, weil an besonderen Feiertagen die Bäcker geschlossen haben und ich den Schrott von der Tankstelle nicht mag.
Dann werde ich zu meiner Liebsten ins Bett kriechen und die Liebe aufwecken, bis es ihr selbst gefällt (frei nach Hoheslied Salomo 8,4).
Ich werde ausgiebig frühstücken, duschen, lesen oder Fernsehen und schließlich die Wohnung dekorieren, sowie mich selbst. Wieso? Weil ich eine stimmungsvolle Halloween-Party geben werde.
Sie schrieben: „Der Reformationstag jährt sich dann zum 500. Mal.“
Sie geben das als Grund für Ihren Brief an. Warum schreiben Sie mir überhaupt? Ich kenne Sie gar nicht. Sie schreiben:“Sie sind Mitglied der Evangelischen Kirche von Westfalen, in der ich als Präses leitende Pastorin bin.“
Was wollen Sie mir damit sagen? Dass Sie mein Chef sind? Oder sogar meine Schäferin? Stalken Sie jede Ihrer Karteileichen? Oder nur Pfarrerssöhne wie mich? Schwarze Schafe, die den Anschluss an die Herde verpasst haben? Aber woher wollen Sie wissen, wer ich bin? Wie ich schon sagte, wir kennen uns gar nicht. Da nützt auch Ihr gefotoshoptes Bewerbungsfoto nicht. Ebenso wenig Ihre Schlagzeilen: „Kein Mensch kann und muss sich selbst gut machen.“
Sie schreiben, dass Martin Luther am 31. Oktober 1517 mit dieser „bahnbrechenden Erkenntnis“ an die Öffentlichkeit ging. So weit, so platt. Aber dann erklären Sie mir: „Luther nannte das die Freiheit des Christenmenschen.“
Muslime, Juden, Hindus, Buddhisten, Schamanisten, Atheisten, Agnostiker, Esoteriker und Restreligiöse sind dann wohl keine Menschen, sondern Geschmeiß, das sich durchaus selbst gut machen müsste, wenn es das denn könnte?
Und dann soll der fünfhundert Jahre alte Befreiungsschlag uns auch gleich noch vom Höher, Schneller, Weiter des Turbokapitalismus befreien? Haben Sie noch alle Abendmahlsgeräte in der Sakristei?
Sie schreiben: „Was kann uns aus dieser Spirale befreien? Dass Gott uns mit Liebe ansieht. Diese Gewissheit haben wir durch Jesus Christus.“
Wir?! Wer ist wir?! Also ich nicht. Nichts ist gewiss. Sie glauben vielleicht, dass Gott Sie mit Liebe ansieht. Mich hat er mein Leben lang in den Arsch getreten.
Und über Jesus „hatte nicht einmal der Tod das letzte Wort“? Hat der Tod überhaupt Worte?
„Er schenkt uns Gemeinschaft mit Gott, die durch nichts und niemanden in Frage gestellt wird.“
Ich widerspreche. Ich stelle in Frage. Bin ich etwa niemand?
Wenn das wirklich „frei zu einem aufrechten Leben“ macht, warum schleichen dann so viele freie Christenmenschen mit gekrümmten Rücken und gequälten Seelen frei von Selbstwertgefühl durch die Gemeindehäuser? Und dann haben Sie die Stirn den Satz weiterzuspinnen mit den Worten „Und hoffentlich auch zu einem getrosten Sterben.“ Sind Sie noch bei Trost? Natürlich hoffe ich, nicht zu sterben.
„Martin Luther hat seine Entdeckung beim Lesen der Bibel gemacht.“ Ja, was kann man da schon erwarten? Richtige Entdecker machten ihre Entdeckungen auf riskanten Fernreisen, in Laboratorien unter zum Teil lebensbedrohliche Bedingungen. Sie haben gearbeitet. Luther hat gelesen. Oh, da hat er was entdeckt! Heureka! Ja gut, ich weiß, dass er auch sein Leben riskiert hat, aber das war nach der „Entdeckung“.
Die nächste Schlagzeile in Ihrem Drohbrief lautet: „Wir werden am Reformationstag 2017 frei haben – als Zeichen dafür, dass wir befreit sind von der ständigen Sorge um uns selbst.“
Haben Sie sich das selbst ausgedacht? Glauben Sie, ich werde mich an diesem Tag weniger um mich selbst sorgen, nur weil Sie das so anordnen? Weil Sie meinen, der alte Luther hätte mich davon befreit? Von was wollen Sie mich denn noch befreien? Vielleicht von finanziellem Ballast? Schließlich müssen Sie diese Massenpost ja irgendwie refinanzieren. Und dann wollen Sie mir, nachdem Sie 1 ½ Seiten über Freiheit geschwafelt haben, auch noch vorschreiben, wie ich diesen arbeitsfreien Tag verbringen, beziehungsweise zu was ich ihn nutzen soll:
„- zum Innehalten und Gottesdienstfeiern
zum Einsatz für Mitmenschen und Mitgeschöpfe, die sonst niemand im Blick hat
zum tatkräftigen Eintreten für Frieden und Gerechtigkeit.“
Entweder tut man so etwas mindestens hundert Mal im Jahr oder eben nicht. Was haben übersehene Mitgeschöpfe davon, wenn ich Sie am 31. Oktober ausnahmsweise einmal angucke? Wie tritt man einen Tag lang für Frieden und Gerechtigkeit ein?
Nein, ich bin nicht neugierig auf den Festgottesdienst meiner Kirchengemeinde. Ich bin neugierig auf die lustvollen Melodien, die meine Liebste von sich gibt, wenn ich Sie zum Singen bringe und später auf den Verlauf meiner Halloweenparty. Und wenn ich fernsehe, dann sicher keinen Wiesenkirchen-Gottesdienst.
Sie wünschen mir, dass ich entdecke, warum ich Evangelisch bin? Ich weiß, warum das so ist. Mein Vater war Pfarrer, hat mich ohne zu fragen in diese Kirche reingetauft und wieder rauskonfirmiert. Ausgetreten bin ich nur nicht, weil ich dafür bisher zu faul war.
Ist das wirklich alles, was Ihnen zu fünfhundert Jahren Reformation einfällt? Die alte Suppe zum fünfhundertsten Mal aufwärmen? Wenn das mal am Ende keine kalten Füße gibt. Gott segne Sie meinetwegen auch. Is' mir egal.
Lenz
P.S.: Ein Wort, dass Ihnen in Ihrem Repertoire sicherlich noch fehlt. Evangelistischer Terminus für Prostituierte: Mietgeschöpfe
Ach ja, wenn Herr Lenz gewusst hätte, was er damit anrichtet....
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