Freitag, 7. Juli 2017
Silberkonfirmation – zweiteiliger Kurzkrimi – Teil I
Stefan Schüssle betrat die vertraute Kirche erst gegen zehn Minuten vor elf. Alle anderen waren überpünktlich gegen halb elf erschienen und hatten sich schon vor der Kirche gegenseitig begrüßt. Er hielt Ausschau nach den vertrauteren unter den bekannten Gesichtern. Er entdeckte die natürliche Tonsur seines langjährigen Freundes Marcus Mitloss. In diesem Moment erkannte er auch alle anderen in der Bankreihe: Holger Wickler, den alle Panne nannten, mit seiner Frau Antonia, genannt Toni. Philipp Kiesling, der immer noch Fliege hieß, mit seiner Gattin Penelope, deren ungewöhnlicher Name zum derben Rufnamen Penne verunstaltet worden war, Rike Pepper, ohne Partner und Marius Speicher mit seiner Lebensgefährtin Meret. Ihn selbst nannten sie einfach Schüssel und als er sie da alle so sitzen sah, diese Clique, die sich vor knapp 25 Jahren im Gemeindehaus konstituiert hatte, da beschlich ihn plötzlich das ungute Gefühl, die Zeit bleibe für immer stehen. Dabei war er selbst derjenige, der immer den größten Abstand gehalten hatte, weil er eigenwillig und klug war und nie Lust gehabt hatte, sich ins Koma zu saufen und im Rausch wechselnden Tanzpartnerinnen die Zunge bis tief in die Speiseröhre hinein in den Hals zu schieben. Er nahm neben Marcus Platz, den übrigens alle Max nannten. Das war auch so ein Relikt aus ihrer Jugend, dass alle irgendeinen Spitznamen verpasst bekamen, je blöder, desto besser und umso hartnäckiger hielt er sich dann auch. Nur Meret war von dieser Unsitte gänzlich verschont geblieben.
So gelangweilt wie vor fünfundzwanzig Jahren warteten die Neununddreißigjährigen auf den Beginn des Gottesdienstes und tuschelten in vertrauter Disziplinlosigkeit.
„Guck mal, Marina ist noch fetter als damals.“, wisperte Panne seinem Kumpel Fliege ins Ohr. Der zuckte nur mit den Schultern, war seine eigene Frau schließlich genauso wenig eine Hunger-Model wie er selbst.
„Sebastian Bremer hätte ich beinahe nicht erkannt.“, raunte Max. „Der sieht ja aus wie mindestens fünfzig. Sehen wir etwa auch so alt aus?“
„Wir doch nicht.“, erwiderte Schüssel grinsend. „Wir ernähren uns ausschließlich von gesundem Grillgut, treiben regelmäßig Golfsport und sorgen für eine gesundheitsfördernde Life-Work-Balance.“
„Also ich fress meistens Pizza und Golf spiel ich auch nicht.“, gab Max zu bedenken.
„Dann ist es wohl die mangelnde Reife, die dich jünger erscheinen lässt.“, erwiderte Schüssel und Max rammte ihm einen Ellbogen in die Seite.
„Was zu beweisen war.“, flüsterte Schüssel daraufhin.

Sie brachten den Gottesdienst hinter sich, gingen gemeinsam zum Abendmahl, kicherten immer wieder, weil sie die Liturgie nicht kannten und sich allesamt wie Hochstapler fühlten, aber eigentlich waren sie auch gekommen, weil diese Veranstaltung so ähnlich wie ein Klassentreffen ein Wiedersehen mit Menschen bedeutete, die zwar im eigenen Leben keine besondere Rolle spielten, auf die man aber dennoch neugierig war. Beim anschließenden Süppchen im Gemeindehaus kamen sie diesbezüglich auf ihre Kosten.
„Ist die Gulaschsuppe aus der Dose?“, fragte Panne und zog einen Flunsch.
„Ach mecker nich', Panne.“, ermahnte ihn Fliege. „Der Hunger treibts rein. Ist immer noch besser als die kalten Ravioli, die wir damals im Vorkommando gefressen haben.“
„Mir wird heute noch schlecht, wenn ich daran denke.“, gab Speicher ihm Recht.
„Wieso?“, fragte Max. „Ich fand kalte Ravioli immer piekfein. Ziehe ich mir heute noch regelmäßig rein, wenn ich keine Zeit habe, 'ne Pizza in den Ofen zu schieben.“
„Du könntest zur Abwechselung ja auch mal selber kochen.“, erklärte Meret mit nörgelnder Langsamkeit. „Wär auch viel gesünder.“
„Ich kann nicht kochen.“, gab Max unwirsch zurück. „Früher, als wir noch jeden Tag im Jugendcafé rumgehangen haben, wisst ihr noch, Kölpes Salamiburger aus dem elektrischen Überbacker?“
„Da gab's doch noch keine Sandwichtoaster.“, mischte Rike sich besserwisserisch ein.
„Nee, ich meine ja auch dieses Elektroteil, das wir vom Flohmarkt geschossen haben. Das war wie so'n kleiner Backofen. Für Käsetoast oder kleine Fertigpizzen.“
„Stimmt.“, erinnerte sich Rike. „Irgendwann hat Finsterburger da drin ein Schokokusstoast überbacken und dann ist alles angebrannt und danach haben wir den Apparat weggeschmissen.“
„Da waren die besten Zeiten aber schon vorbei.“, meinte Panne. „Als wir noch mit Hotte was los gemacht haben, das war noch richtig Jugendarbeit. Nachher mit Timmi, das war allles so ein kopflastiger Schwachsinn und die richtig geilen Sachen sind hinten rüber gefallen.“
„Stimmt.“, pflichtete Speicher ihm bei. „Mit Hotte im Lager, da war noch das Motto, der Mitarbeiter geht so lange zur Theke bis er bricht. Bei Timmi wurden die Pilsken gedeckelt und die Kurzen waren ganz verboten. Wie im Kindergarten.“
„Dafür hat Timmi coole Sachen für Mädchen gemacht.“, meinte Penne.
„Ja, eben.“, bölkte Fliege und lachte dreckig. Seine Kumpels stimmten mit ein in das Gegröle, die Frauen schüttelten mit den Köpfen.
„Also ich fand beide gut.“, erklärte Toni versöhnlich. „Hotte war wie ein großer Papa und Timmi wie ein großer Bruder.“
„Eher wie eine große Schwester.“, meinte Fliege.
„Na, das ist ja nun mal egal.“, sagte Panne. „Jetzt gibt es keinen mehr, der hier für die Jugendarbeit zuständig ist und wir sind zum Glück schon groß. Wäre nur schön, wenn es noch was für unsere Kinder gäbe.“
„Musste mal selber was auf die Beine stellen.“, schlug Max vor. „Dann gibt’s auch was für Kinder. Jugendleiterschein haste ja.“
„Nee, nee.“, wies Panne den Vorschlag von sich. „Ich habe jahrelang Jungschar und so gemacht, jetzt sind mal andere dran.“
„Ach schade.“, sagte Rike plötzlich. „Ich wollte mich doch noch kurz zu Janina und Sandra setzen, jetzt sind die schon gegangen.“
„Die hatten schon früher kein Sitzfleisch.“, meinte Meret.
„Ich gerade auch nicht.“, sagte Penne. „Ich muss mal aufs Klo.“
Penne verschwand und Fliege sagte mit gedämpfter Stimme. „Die muss in letzter Zeit wieder ständig pissen. Das war damals bei Janos auch so. Sie sagt ja nichts, aber ich glaube die hat schon wieder'n Braten in der Röhre.“
„Warum fragst du sie nicht einfach?“, fragte Toni irritiert.
„Die ist irgendwie komisch drauf in letzter Zeit.“, meinte Fliege. „Will immer nicht angefasst werden und so. Zuerst dachte ich ja, sie hat vielleicht 'n Anderen. Aber ich glaube, da geht’s gerade im Kopf los. So Schwangerschafts-Irrsinn.“
„Dann ist es mit unseren Sauftouren wohl vorerst auch vorbei.“, überlegte Panne bedauernd.
„Ist eh nicht mehr so wie früher.“, pflichtete Fliege ihm bei. „Das waren noch Zeiten, als sie uns vom Camping-Platz werfen wollten, weil Detuschmade nachts um vier in den Turm mit den leeren Contis gekracht ist. Mann, hat das gescheppert!“
„War das die Tour wo Brehm diesen heftige Video gedreht hat, wo Deutschmade Rocko die Zunge in den Hals geschoben hat?“
„Ja genau.“, mischte Speicher sich ein. „Der war voll wie zehn Russen. Hat Rocko mit der Perle aus einem von den Wohnwagen verwechselt, die Brehm dann in der gleichen Nacht noch durchgenudelt hat.“
„In der Nacht?“, fragte Panne. „Das war nachmittags, als Toni mich abgeholt hat. Ich musste noch meine Klamotten aus dem Zelt holen und Brehm hat einfach weiter gevögelt. Ich dachte echt, ich bin im falschen Film.“
Max schüttelte grinsend den Kopf: „Ihr wart echt verdammt eklige Kerle.“
„Angehende Alkoholiker eben.“, bemerkte Schüssel spitz.
„Wer ist hier Alkoholiker?“, fragte Speicher aufbrausend.
„Man sagt ja“, erwiderte Schüssel. „Man selbst ist der letzte, der es merkt.“
„Wenn hier einer nix merkt, dann bist du das, Schüssel, alter Schach-Golfer. Kommt wohl vom vielen Cabrio Fahren, zu viel Durchzug im Gehirn.“
„Marius, halt einfach die Klappe!“, wies Meret ihn zurecht. „Trink deinen Kaffee und entspann dich. Ist jawohl kein Geheimnis, dass ihr alle damals nicht mehr weit weg vom Dauersuff wart. Wenn ihr so weitergemacht hättet, lägt ihr alle schon unter der Erde.“
„So schlimm waren wir gar nicht.“, widersprach Panne. „Wir haben ja nicht einmal auf den Freizeiten gesoffen, zumindest nicht nennenswert.“
„War auch viel zu teuer in Norwegen.“, meinte Fliege. „Aber cool war das trotzdem. Da bin ich auch mit Penne zusammengekommen.“
„Wo bleibt die eigentlich?“, fragte Meret sorgenvoll. „Ich gehe mal aufs Klo und sehe nach.“
Rike wies gerade darauf hin, dass am kommenden Wochenende ein äußerst spannendes Fußballspiel anstehe, da kehrte Meret mit verstörtem Gesichtsausdruck zurück.
„Kann mal einer einen Krankenwagen rufen?“, wimmerte sie. „Penne liegt da und rührt sich nicht.“
FORTSETZUNG FOLGT AM 14.07.

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Freitag, 30. Juni 2017
Am Anfang war das Wort
Annegret: - Oh Gott! Wo bin ich? Was ist passiert? Ich kriege keine Luft! Hilfe! Wieso hört mich keiner? Wieso höre ich mich nicht einmal selbst? Ich kann nicht sprechen! Mein Rücken tut so weh. Meine Beine sind so kalt, so kalt, dass ich sie kaum noch fühlen kann. Ist das der Tod? Es ist so eng und so dämmrig. Irgendwo dahinten ist Licht. Aber ich kann mich nicht bewegen. Ich glaube ich werde ohnmächtig.
Godehard: - Liegt sie etwa unter der Tür? Mein Gott hat das eben gekracht. Und sie macht keinen Mucks. Ist sie ohnmächtig oder tot?
„Annegret? Hörst Du mich?“
„...“
„Annegret, bleib ganz ruhig liegen, ich rufe die Feuerwehr und einen Rettungswagen.“
Annegret: - Wer ist das? Was ist eigentlich passiert? Wo war ich denn eben? Ich kann mich nicht erinnern. -

Kurze Zeit später rückten Feuerwehr und Rettungswagen an. Eine tonnenschwere Schiebetür, die man in den Siebzigerjahren nachträglich im Gemeindesaal eingebaut hatte, um den Raum im Bedarfsfall teilen zu können, war aus der Schiene gesprungen und hatte Annegret Grotjohann unter sich begraben. Geistesgegenwärtig hatte Godehard Fischer sofort den Rettungsdienst alarmiert und beobachtete nun völlig atemlos, wie die Tür mit Hydraulikhebern und Luftkissen von der hilflosen Frau gehoben wurde, bis die Sanitäter schließlich an die Schwerverletzte herankamen.

Sie lebte noch, schien auch ansprechbar, auch wenn sie selbst nicht sprach, aber in ihren Blicken waren Reaktionen zu erkennen. Der Kopf schien unversehrt geblieben zu sein, vermutlich verhinderte der Schock ihre Sprachfähigkeit. Die Sanitäter verbrachten die Verletzte in den Rettungswagen, die Feuerwehr machte sich daran, nach der Unfallursache zu forschen.
„Wie furchtbar.“, sagte Godehard Fischer, der noch immer kreidebleich im Gesicht war. Niemand hatte sich bisher um ihn gekümmert, dabei stand auch er offenkundig unter Schock. Einer der Feuerwehrleute überredete ihn, sich wenigstens zu setzen und ein Glas Wasser zu trinken. Fischer begann drauflos zu reden und der Feuerwehrmann hörte zu.
„Gerade eben hat sie noch hier gesessen. Und Sie ist eine Person mit so einer bewegten Lebensgeschichte. Zwanzig Jahre war sie Pfarrfrau in Unterhutzingen, eine glückliche dreifache Mutter, die in ihrer Lebensrolle aufging, da wurde ihr Ehemann plötzlich und unerwartet Opfer eines Verkehrsunfalls. Sechs Jahre lang hat er im Koma gelegen, bis er vor vier Jahren schließlich starb. Sie hat sich allein um die Zukunft ihrer Kinder gekümmert, ihren Mann täglich besucht und halbtags als Erzieherin gearbeitet. Als er starb, waren die Kinder in ihrem eigenen Leben angekommen und sie musste die Leere ausfüllen. Damals ist sie zu uns gestoßen, zu unserer Schreibwerkstatt. Mit kurzen Texten über Trauer im Alltag hat sie angefangen. Irgendwann entwickelten sich Geschichten daraus, manche davon wurden zu Gegenständen für Predigten. Mittlerweile verfasst sie ganze Romane. Zwei hat sie schon veröffentlicht und gar nicht mal so erfolglos. Und nun verpasst das Leben ihr den nächsten Rückschlag.“
Der Feuerwehrmann holte ein zweites Glas Wasser.

Der Rettungswagen raste über die Landstraßen. Immer wieder kam Annegret kurz zu Bewusstsein. Sie sah sich selbst im Sandkasten und hatte plötzlich das Gefühl von mit Sand panierter Katzenscheiße an der Hand. Auch der Geruch kroch ihr in die Nase. Ihre Beine schmerzten vom Fangen Spielen auf dem Hof der Grundschule. Die Bilder wechselten in rasantem Tempo: Mutters Geburtstagsfeiern mit Ananas-Sahne-Torte, Kindergottesdienst und das absurde Gefühl, Schuld am Kreuzestod Jesu zu haben, Radtouren durch Kornfelder, sittsame Geburtstagsfeiern mit Erdbeerbowle, wüste Feten in Scheunen und Garagen, Michael, die erste große Liebe, Dietrich mit seinen warmen Augen und den großen Händen. Cordelias Geburt, Jobst und Mariola, Erdbeertorte mit Sahne auf den blauen Bunzlauer Tellern, Sommerwind, Novembernebel. Cordelias Abiturfeier. Die Nachricht von Dietrichs Unfall. Dietrich an den lebenserhaltenden Geräten. Cordelias Auszug, Mariolas Konfirmation, Jobsts Abiturfeier, Dietrichs Beerdigung und dann war da nur noch Greta Johann, Greta Johann, „Rosentau“ von Greta Johann, „Liebe im Schatten“ von Greta Johann, Stifte, Zettel, Kladden, Geschichten, Laptop, Verlagspost, Greta Johann, ich bin Greta Johann.

Godehard Fischer ließ den Vormittag Revue passieren. Ausgerechnet heute war Annegret so guter Dinge gewesen. Ihr aktueller Roman stand kurz vor der Fertigstellung. Heiner hatte gemeint: „Ach Annegret, du hältst uns doch auch nur noch aus Mitleid die Treue. Du spielst doch mittlerweile in einer ganz anderen Liga.“
Roswitha hatte sauertöpfisch drein geblickt und auf Annegrets Reaktion gelauert. Sie ertrug es nur schwer, dass die stämmige Witwe, die weder beruflich noch optisch etwas hermachte, im literarischen Umfeld so außerordentlich erfolgreich war, während sie selbst, die sich in ihrer Zartheit und der geschmackvollen Art sich zu kleiden, durchaus für eine aparte Erscheinung hielt und die ja auch als Gymnasial-Lehrerin für Englisch, Deutsch und Literatur eine gewisse Expertise geltend machen konnte, kaum wahrgenommen, ja geradezu ignoriert wurde.
Aber diplomatisch und frei von jedwedem Argwohn hatte Annegret geantwortet: „Ich habe hier angefangen, weil ich Kontakt zu netten Menschen gesucht habe und ich bleibe dabei, weil ich diesen Kontakt weiter pflegen will. Wenn dabei ein weiteres Gefühl im Spiel ist, ist das sicher kein Mitleid, sondern vielmehr Dankbarkeit und Wertschätzung.“
Sigmar, der sich selbst als unromantischen Realisten bezeichnete, sagte: „Du bist einfach zu gut für diese Welt.“
„Für die Welt kann man gar nicht zu gut sein.“, wandte die redselige Karin ein. Im Geiste bezeichnete Godehard sie immer als das Maschinengewehr des Literaturkreises. Er betete regelmäßig, dass sie nie auf die Idee kam, eine öffentliche Lesung anzubieten. Sie sprach so schnell, dass einem schwindelig davon wurde. So auch jetzt. „Also das ist doch ganz toll, wenn wir uns als Gruppe gegenseitig so wichtig sind wie Angehörige einer Familie, dass uns ganz egal ist, ob uns das bei unserem Schreiberfolg weiterbringt. Wir sind ja schließlich eine Gruppe der Kirchengemeinde, da benutzt man sich nicht gegenseitig, sondern unterstützt sich und sieht sich als Gemeinschaft. Und ich finde, Annegrets Erfolg ist auch unser Erfolg. Das soll nicht heißen, dass Annegret das nicht auch ohne uns hätte schaffen können, aber wir waren die ganze Zeit an ihrer Seite und sie war die ganze Zeit an unserer Seite und hat uns an ihrem Leben teilhaben lassen und das ist doch toll.“
„Also ich würde jetzt gerne die Vorleserunde fortsetzen.“, erklärte Gudrun resolut. „Ich bin nämlich hier, weil es mir Spaß macht, zu hören, was die anderen geschrieben haben und meine Texte vorstellen zu können. Seelenmassage könnt ihr hinterher in der Eisdiele betreiben.“
„Ich glaube, ich bin als nächste dran.“, meinte Livia. Als niemand widersprach fuhr sie fort: „Ich habe heute ein Gedicht mitgebracht:

Glaube
Ich glaube was ich sehen kann,
doch hat das Fuß und Hand?
Wirkt eine Illusion real,
täuscht sich auch mein Verstand.

Das, was logisch ist, das stimmt.
Geschenk der Wissenschaft.
Aber woher weht der Wind,
wenn eine These fehlerhaft?

Ich glaube, was ich fühlen kann:
Wärme, Nähe, Trauer, Glück.
Etwas, das ich von Gott bekam,
das gebe ich ihm gern zurück."

Das Reimen, wollte Livia nicht so recht gelingen, fand Godehard. Da konnte ihm niemand in der Gruppe das Wasser reichen, nicht einmal Annegret, die machte ja mehr in Prosa. Was Annegret wohl gerade dachte?

Annegret war sich noch immer nicht im Klaren darüber, was eigentlich mit ihr geschehen war. Sie wusste, wer sie war, hatte ihr Leben kurz Revue passieren lassen und schließlich festgestellt, dass sie sich in ihrem siebten Lebensjahrzehnt befand, eine schnucklige Eigentumswohnung mit Handtuchgarten bewohnte und seit dem Tod ihres Mannes ganz und gar im Schreiben aufging. Ja, sie hatten sich heute Morgen zum Literaturkreis getroffen. Sie erinnerte sich an Roswithas missgünstig lauernden Blicke, nachdem Heiner einen kleinen Flirt gewagt hatte – und an Livias unsägliches Gedicht, die Ärmste, sie glaubte das Schreiben für sich entdeckt zu haben, endlich am Lebensabend zu ihrer wahren Bestimmung gefunden zu haben, aber sie beherrschte literarische Handwerk genauso wenig wie ihre früheren Steckenpferde. Sie hatte sich schon als Solosängerin versucht, als Kochkursleiterin, als Hobbytheologin und als Malerin. Was sie auch anfasste, was dabei herauskam war jedes Mal gnadenlos dilettantisch und nicht einmal mittelmäßig. Doch nicht einmal mit Mittelmäßigkeit wollte Livia sich zufrieden geben und die Gruppe ertrug sie still. Dann war die Zeit irgendwann um gewesen und alle bis auf Godehard und sie selbst waren nach Hause gegangen. Godehard wollte sich noch ein wenig von ihr beraten lassen oder um es deutlicher zu formulieren, sie als kostenlose Lektorin ausnutzen. Sie hatten kurz geredet, dann war er zur Toilette verschwunden und plötzlich war da dieses Krachen gewesen, die plötzliche Dunkelheit und entsetzlicher Schmerz. Irgendetwas hatte sie unter sich begraben. Ein Regal, ein Schrank, oder war da am Ende eine Wand eingestürzt? Sie wusste es nicht.

Godehard machte sich Sorgen um Annegret. Woran genau würde sie sich erinnern? Was hatte sie mitbekommen? Roswithas Missgunst, Livias Neid und Gudruns Desinteresse waren offensichtlich gewesen, aber hatte sie auch gespürt, wie sehr es seine Eitelkeit verletzt hatte, dass sie mit ihren Herzschmerz-Romanen so viel Anerkennung bekam, während er selbst mit seiner hochkarätigen, philosophischen Dichtung zur Bedeutungslosigkeit verdammt war? Machte sie sch am Ende einen Reim darauf, dass die Tür ausgerechnet während seines Toilettengangs aus den Schienen gesprungen war? Hatte sie womöglich gehört, wie er von der anderen Seite dagegen gedrückt hatte? Natürlich hatte er Handschuhe benutzt, wer täte das nicht, aber wenn die Feuerwehr zweifelsfrei feststellte, dass an der Tür manipuliert worden war, dass sie jemand mutwillig aus der Schiene gerissen hatte, durch bewusst falsches Hin- und Herschieben und wenn dann jemand gesehen hatte, dass er bereits zwei Stunden vor Beginn des Treffens im Gemeindehaus war, dann würde er in echte Erklärungsnot kommen und am Ende sein Lebenswerk im Gefängnis beschließen. Er fürchtete sich schon jetzt.
Annegret Grotjohann konnte nie wieder laufen.

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Freitag, 23. Juni 2017
Kurschuss schreibt, Lenz antwortet
Hätte die Pastorin gewusst, welche Folgen ihr Brief haben würde, hätte sie ihn lieber nicht selbst geschrieben. Aber hinterher ist man immer schlauer

Hätte Herr Lenz gewusst, was er mit dem folgenden Brief anrichtet, hätte er ihn wohl nur an die Adressatin geschickt und nicht gleich auf seine Facebookseite. Am Ende hatte er keine Liebste mehr. Von der hatte ein Fan des Höchsten ihn befreit. Der wollte nämlich ein Zeichen setzen, für Frieden und Gerechtigkeit und für das Recht der Evangelischen Kirche, sich selbst zu feiern, ohne dass Stänkerer ihr in die Suppe spuckten.

„Sehr geehrter Herr Lenz,
wissen Sie schon, was Sie für den 31. Oktober planen? Wieso? Weil das in diesem Jahr erstmalig ein Feiertag sein wird.“
Aber natürlich, gnädige Frau. Ich werde ausschlafen und kurz vor Mittag Tiefkühlbrötchen in den Ofen schieben, weil an besonderen Feiertagen die Bäcker geschlossen haben und ich den Schrott von der Tankstelle nicht mag.
Dann werde ich zu meiner Liebsten ins Bett kriechen und die Liebe aufwecken, bis es ihr selbst gefällt (frei nach Hoheslied Salomo 8,4).
Ich werde ausgiebig frühstücken, duschen, lesen oder Fernsehen und schließlich die Wohnung dekorieren, sowie mich selbst. Wieso? Weil ich eine stimmungsvolle Halloween-Party geben werde.
Sie schrieben: „Der Reformationstag jährt sich dann zum 500. Mal.“
Sie geben das als Grund für Ihren Brief an. Warum schreiben Sie mir überhaupt? Ich kenne Sie gar nicht. Sie schreiben:“Sie sind Mitglied der Evangelischen Kirche von Westfalen, in der ich als Präses leitende Pastorin bin.“
Was wollen Sie mir damit sagen? Dass Sie mein Chef sind? Oder sogar meine Schäferin? Stalken Sie jede Ihrer Karteileichen? Oder nur Pfarrerssöhne wie mich? Schwarze Schafe, die den Anschluss an die Herde verpasst haben? Aber woher wollen Sie wissen, wer ich bin? Wie ich schon sagte, wir kennen uns gar nicht. Da nützt auch Ihr gefotoshoptes Bewerbungsfoto nicht. Ebenso wenig Ihre Schlagzeilen: „Kein Mensch kann und muss sich selbst gut machen.“
Sie schreiben, dass Martin Luther am 31. Oktober 1517 mit dieser „bahnbrechenden Erkenntnis“ an die Öffentlichkeit ging. So weit, so platt. Aber dann erklären Sie mir: „Luther nannte das die Freiheit des Christenmenschen.“
Muslime, Juden, Hindus, Buddhisten, Schamanisten, Atheisten, Agnostiker, Esoteriker und Restreligiöse sind dann wohl keine Menschen, sondern Geschmeiß, das sich durchaus selbst gut machen müsste, wenn es das denn könnte?
Und dann soll der fünfhundert Jahre alte Befreiungsschlag uns auch gleich noch vom Höher, Schneller, Weiter des Turbokapitalismus befreien? Haben Sie noch alle Abendmahlsgeräte in der Sakristei?
Sie schreiben: „Was kann uns aus dieser Spirale befreien? Dass Gott uns mit Liebe ansieht. Diese Gewissheit haben wir durch Jesus Christus.“
Wir?! Wer ist wir?! Also ich nicht. Nichts ist gewiss. Sie glauben vielleicht, dass Gott Sie mit Liebe ansieht. Mich hat er mein Leben lang in den Arsch getreten.
Und über Jesus „hatte nicht einmal der Tod das letzte Wort“? Hat der Tod überhaupt Worte?
„Er schenkt uns Gemeinschaft mit Gott, die durch nichts und niemanden in Frage gestellt wird.“
Ich widerspreche. Ich stelle in Frage. Bin ich etwa niemand?
Wenn das wirklich „frei zu einem aufrechten Leben“ macht, warum schleichen dann so viele freie Christenmenschen mit gekrümmten Rücken und gequälten Seelen frei von Selbstwertgefühl durch die Gemeindehäuser? Und dann haben Sie die Stirn den Satz weiterzuspinnen mit den Worten „Und hoffentlich auch zu einem getrosten Sterben.“ Sind Sie noch bei Trost? Natürlich hoffe ich, nicht zu sterben.
„Martin Luther hat seine Entdeckung beim Lesen der Bibel gemacht.“ Ja, was kann man da schon erwarten? Richtige Entdecker machten ihre Entdeckungen auf riskanten Fernreisen, in Laboratorien unter zum Teil lebensbedrohliche Bedingungen. Sie haben gearbeitet. Luther hat gelesen. Oh, da hat er was entdeckt! Heureka! Ja gut, ich weiß, dass er auch sein Leben riskiert hat, aber das war nach der „Entdeckung“.
Die nächste Schlagzeile in Ihrem Drohbrief lautet: „Wir werden am Reformationstag 2017 frei haben – als Zeichen dafür, dass wir befreit sind von der ständigen Sorge um uns selbst.“
Haben Sie sich das selbst ausgedacht? Glauben Sie, ich werde mich an diesem Tag weniger um mich selbst sorgen, nur weil Sie das so anordnen? Weil Sie meinen, der alte Luther hätte mich davon befreit? Von was wollen Sie mich denn noch befreien? Vielleicht von finanziellem Ballast? Schließlich müssen Sie diese Massenpost ja irgendwie refinanzieren. Und dann wollen Sie mir, nachdem Sie 1 ½ Seiten über Freiheit geschwafelt haben, auch noch vorschreiben, wie ich diesen arbeitsfreien Tag verbringen, beziehungsweise zu was ich ihn nutzen soll:
„- zum Innehalten und Gottesdienstfeiern
zum Einsatz für Mitmenschen und Mitgeschöpfe, die sonst niemand im Blick hat
zum tatkräftigen Eintreten für Frieden und Gerechtigkeit.“
Entweder tut man so etwas mindestens hundert Mal im Jahr oder eben nicht. Was haben übersehene Mitgeschöpfe davon, wenn ich Sie am 31. Oktober ausnahmsweise einmal angucke? Wie tritt man einen Tag lang für Frieden und Gerechtigkeit ein?
Nein, ich bin nicht neugierig auf den Festgottesdienst meiner Kirchengemeinde. Ich bin neugierig auf die lustvollen Melodien, die meine Liebste von sich gibt, wenn ich Sie zum Singen bringe und später auf den Verlauf meiner Halloweenparty. Und wenn ich fernsehe, dann sicher keinen Wiesenkirchen-Gottesdienst.
Sie wünschen mir, dass ich entdecke, warum ich Evangelisch bin? Ich weiß, warum das so ist. Mein Vater war Pfarrer, hat mich ohne zu fragen in diese Kirche reingetauft und wieder rauskonfirmiert. Ausgetreten bin ich nur nicht, weil ich dafür bisher zu faul war.
Ist das wirklich alles, was Ihnen zu fünfhundert Jahren Reformation einfällt? Die alte Suppe zum fünfhundertsten Mal aufwärmen? Wenn das mal am Ende keine kalten Füße gibt. Gott segne Sie meinetwegen auch. Is' mir egal.
Lenz
P.S.: Ein Wort, dass Ihnen in Ihrem Repertoire sicherlich noch fehlt. Evangelistischer Terminus für Prostituierte: Mietgeschöpfe

Ach ja, wenn Herr Lenz gewusst hätte, was er damit anrichtet....

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Freitag, 16. Juni 2017
Terry und der Tote im Wald – ein nicht ganz ernst gemeinter Kurzkrimi der Siebzigerjahre
„Willi, fahr schon mal den Wagen vor.“ Kriminalhauptkommissar Steven Terry musste noch eben telefonische Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft nehmen, bevor er ebenfalls in seinen beigefarbenen Trenchcoat schlüpfte und die Treppen zum Parkplatz hinuntereilte. Unterwegs fuhr er sich noch einmal vorsorglich mit dem statisch nicht aufladbaren Hornkamm durch die schütteren Haare, denn er trat stets äußerst gepflegt auf. Ein einfacher Plastikkamm hätte es indes auch getan, da naturpomadierte Haare, die nur einmal wöchentlich in Kontakt mit den fettbindenden Tensiden eines Shampoos kamen, durch statische Aufladung kaum aus der Form gerieten.
Willi Lüttke wartete pflichtschuldig am Steuer des Dienstwagens mit dem für ihn typischen devoten Gesichtsausdruck. „Hast Du etwas in Erfahrung bringen können, Steven?“, fragte Willi.
„Allerdings.“, erwiderte Terry. „Wir können die Verhaftung vornehmen, wenn er uns in die Falle geht.“
„Wo genau findet die Beerdigung statt?“
„Johannesfriedhof, Mittelgang. Nicht zu verfehlen.“
„Na dann los.“
Mit hochgeschlagenen Mantelkrägen und versteinerten Gesichtern wappnete die Trauergemeinde sich gegen den eisigen Wind, der hin und wieder von Sprühregen begleitet wurde. Die Männer trugen überwiegend schwarze Regenmäntel zum eleganten Anzug, nur wenige waren in kurze Popeline-Jacken gewandet. Die Damen litten entsetzlich unter dem scharfen Wind, waren ihre Beine doch meistenteils mit zarten Seidenstrümpfen bekleidet, die auch nicht von den Mänteln bedeckt wurden, weil die aktuelle Mode ihnen einen kurzen Schnitt aufzwang.
„So ein Sauwetter und das Anfang Mai.“, fluchte Willi Lüttke.
Gerlinde Winkler hatten sie bald ausgemacht. Die aparte Erscheinung, die über dem schwarzen Etui-Kleid nur eine Jacke aus Walkstoff trug, dazu einen Hut auf den hochgesteckten Haaren, das Gesicht hinter einem Schleier aus schwarzem Tüll verborgen, war die fünfte in der Reihe der Kondolierenden. Roman Winkler dagegen entdeckten sie nicht. Hatte er sich etwa bereits aus dem Staub gemacht? Das Geld dafür stand ihm unweigerlich zur Verfügung.
Um nicht pietätlos zu wirken, warteten sie ab, bis Gerlinde Winkler eine Schaufel Erde ins Grab geworfen und der Ehefrau des verstorbenen Pfarrers kondoliert hatte. Als sie außer Hörweite der Angehörigen war, kamen sie auf sie zu : „Guten Morgen, Frau Winkler“, sprach Steven Terry die attraktive Mittvierzigerin an. „Gibt es einen besonderen Grund, dass Ihr Mann heute nicht zur Beerdigung erschienen ist?“
„Keinen besonderen Grund.“, erwiderte sie emotionslos. „Er fühlt sich einfach nicht wohl. Etwas angegriffen von der vielen Arbeit, eine leichte Erkältung, da wollte er bei diesem Wetter nicht im eisigen Wind und Nieselregen stehen. Er ist auch nicht in die Firma gegangen, sondern arbeitet heute ausschließlich von zu Hause aus. Kann ich ihm etwas ausrichten?“
„Nein, das wird nicht nötig sein.“, erwiderte Steven Terry. „Wir werden ihn direkt zu Hause aufsuchen.“
„Brauchen Sie mich auch? Ich bin nämlich zum anschließenden Kaffeetrinken eingeladen.“
„Das ist kein Problem.“, erwiderte Willi Lüttke. „Wir wollen ja nur Ihren Mann sprechen.“

Die Villa der Winklers lag im besten Viertel der Stadt und war vom Friedhof aus fußläufig erreichbar. Im Vorgarten blühte der Rhododendron in leuchtenden Farben, noch wenige Tage zuvor hatte die Sonne aus allen Löchern geschienen und Pflanzen wie Menschen mit ihrer wohltuenden Wärme verwöhnt.
Sie läuteten an der Haustür, die bald darauf von einer Angestellten geöffnet wurde. Fräulein Drexhage, eine altjüngferliche Vollblut-Hausdame der alten Schule geleitete die ihr bereits bekannten Herren ins Wohnzimmer mit der Bitte, sich einen Augenblick zu gedulden. Die Villa stammte aus dem vergangenen Jahrhundert, die Einrichtung dagegen war modern und sehr exklusiv. Die kugelrunden weißen Deckenleuchten schienen über dem gläsernen Couchtisch zu schweben wie schwerelose Himmelskörper. Die schnörkellosen, mit weißem Veloursleder bezogenen Polstermöbel verströmten eine kühle Eleganz, die lediglich durch den weißen Flokatiteppich aufgelockert wurde. Auf einem Beistelltischchen verströmte ein Strauß üppiger Fliederdolden in weiß, hell- und dunkelviolett einen betörenden Duft.
Die Wohnzimmertür öffnete sich und der Maschinenteile-Fabrikant Roman Winkler trat ein. Zur schwarzen Hose trug er ein cremefarbenes Hemd, anstelle einer Krawatte einen weinroten Seidenschal elegant um den Hals gelegt und in das offene Hemd eingesteckt, dazu eine leichte Kaschmir-Strickjacke im selben Farbton. Sein volles, dunkles, von Silberfäden durchzogenes Haar umspielte in ausladenden Wellen sein Solarium-gebräuntes Gesicht. Es war nicht zu übersehen, dass er trotz des Aufwandes, den er um sein Äußeres betrieb, dem Alkohol regelmäßig zusprach. So auch jetzt. „Guten Tag, die Herren.“, begrüßte er die Beamten mit sonorer Stimme. „Kann ich Ihnen bei diesem entsetzlichen Wetter einen wärmenden Cognac zur Aufmunterung anbieten?“
„Nein danke.“, erwiderte Steven Terry. „Wir sind im Dienst.“
Winkler goss sich selbst jedoch eine große Portion aus der geschliffenen Karaffe in den gewaltigen Cognacschwenker, bat die Beamten Platz zu nehmen, setzte sich dann selbst in einen Thron-artigen Sessel, schlug die Beine übereinander und lehnte sich entspannt zurück. Er ließ das Branntwein-Getränk durch schwingende Bewegungen seiner rechten Hand im Glas kreisen und betrachtete versonnen das Farbenspiel in der goldbraunen Flüssigkeit. „Womit kann ich Ihnen dienen, meine Herren?“, fragte er.
„Herr Winkler.“, begann Steven Terry die Befragung. „Wir wissen mittlerweile von Ihrem Verhältnis mit Gabriela Watermann, die Sie im Tennisclub kennengelernt und regelmäßig getroffen haben.“
„Der Gentleman genießt und schweigt.“, erklärte Roman Winkler mit einem süffisanten Lächeln und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.
„Ja“, entgegnete Terry streng. „Vor allem gegenüber der Ehefrau, von deren Wohlwollen ihre gesamte Existenz abhängt, denn die Firma ist ja das Erbe Ihrer Frau und im Falle einer Scheidung bliebe nicht viel für Sie übrig.“
„Das ist richtig.“, erwiderte Winkler. „Aber aus welchem Grund sollten meine Frau und ich uns scheiden lassen? Unsere Ehe verläuft absolut harmonisch.“
„Und wenn Ihre Frau von der Affäre erfährt?“, hakte Willi Lüttke nach.
„Dann wäre sie verständlicherweise etwas verärgert, aber das ist nichts, was man nicht mit ein paar romantischen Abenden und einem kleinen Urlaub wieder geradebiegen kann. Haben Sie vor, mich bei ihr anzuschwärzen?“
„Keineswegs.“, erwiderte Terry. „Aber ich muss Sie jetzt noch einmal fragen: Wo genau waren Sie am Mittwoch Abend zwischen 18.00 und 22.00 Uhr? Und ich rate Ihnen, unbedingt die Wahrheit zu sagen.“
„Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt. Bis etwa 18.30 Uhr war ich in der Firma. Von dort habe ich ein Spritztour unternommen. Ich bin über die Dörfer bis nach Herford gefahren, habe in irgendeinem Imbiss ein halbes Hähnchen gegessen und bin dann wieder eine andere Strecke zurückgefahren. Dabei habe ich mich ein wenig verirrt und war erst gegen 22.30 Uhr wieder zu Hause.“
„Mit welchem Wagen?“
„Mit dem Citroën.“
„Sehen Sie.“, sagte Terry ruhig. „Und damit haben Sie nun quasi den Mord an Pfarrer Robert Leuschner gestanden. Ich sage Ihnen jetzt, wie es war, Herr Winkler. Sie hatten seit einiger Zeit ein Verhältnis mit der neunzehnjährigen Gabriela Watermann. Bei einem ihrer Treffen in eindeutigen Posen wurden Sie von Fräulein Watermanns drei Jahre jüngeren Schwester Saskia beobachtet. Saskia Watermann hatte als Kindergottesdienst-Helferin großes Vertrauen zu Pfarrer Leuschner und berichtete ihm von ihren Beobachtungen und den Seelennöten, die das bei ihr auslöste. Leuschner stellte Sie zur Rede und Sie schlugen vor, das Ganze in Ruhe zu besprechen, aber so, dass ihre Frau nichts davon mitbekäme. Sie verabredeten sich mit dem Pfarrer für Mittwoch Abend in Ihrer Jagdhütte im Mindener Wald. Das Telefongespräch fand am Sonntag statt, am Montag meldeten Sie ihre Jagdflinte als gestohlen. Damit der Diebstahl glaubwürdig erschien, sind Sie selbst noch am Sonntag in Ihre Jagdhütte eingebrochen und haben die Flinte an einem sicheren Ort in der Nähe versteckt. Am Mittwoch verließen Sie gegen 18.30 Uhr die Firma in Ihrem Citroën. Sie fuhren jedoch nicht herum, sondern direkt zu Ihrer Jagdhütte, wo Sie gegen 19.30 Uhr mit dem Pfarrer verabredet waren. Sie holten die Flinte aus dem Versteck und legten sich in der Hütte auf die Lauer. Was Ihnen nämlich entgangen ist: Saskia Watermann war zu dieser Zeit mit einer Freundin zu einer Radtour unterwegs. Gegen 18.50 Uhr sah sie zufällig Ihren Wagen auf dem Weg zur Jagdhütte. Sie verdächtigte Sie, mit ihrer Schwester unterwegs zu sein und folgte dem Weg, den Sie mit dem Auto gefahren waren. Die Mädchen schlichen sich kurz vor der Hütte in den Wald und beobachteten, wie Sie, der bereits einige Minuten vor ihnen angekommen war, die Hütte verließen und in den hinteren Teil des Waldes verschwanden. Da Saskia es für unwahrscheinlich hielt, dass ihre Schwester mitten in den Tannen auf ihren Liebhaber wartete, kehrten sie und ihre Freundin unverrichteter Dinge zurück. Sie holten inzwischen die Flinte aus dem Versteck und legten sich unweit der Hütte auf die Lauer. Als der Pfarrer schließlich wie verabredet vorfuhr und aus seinem Wagen stieg, schossen Sie ihn nieder. Sie hoben die Leiche auf den Beifahrersitz und fuhren zu einer anderen Stelle im Wald, wo Sie den Toten bestatteten. Dann fuhren Sie mit diesem Wagen zu einem weiteren Ort im Wald, etwa fünf Kilometer entfernt, an dem Sie die Flinte vergruben, die mittlerweile gefunden wurde. Schließlich ließen Sie den Wagen in einer der Ihrer Hütte nahegelegenen Tongruben versinken, in der Hoffnung, er würde nie gefunden. Sie liefen mehrere Kilometer zu Fuß zur Hütte zurück, entsorgten wie auch immer die Kleidungsstücke, an denen sich Blut- und Schmauchspuren befanden und fuhren zurück nach Hause, wo sie gegen 22.30 Uhr ankamen. Wie uns Ihre Frau berichtete, seien Sie bei Ihrer Ankunft direkt hungrig über den Kühlschrank hergefallen – nach einem halben Hähnchen gegen 19.30 Uhr wäre das wohl kaum der Fall gewesen. Und jetzt bin ich gespannt auf Ihre Ausreden, Herr Winkler.“
Roman Winkler leerte den Cognacschwenker in einem Zug. „Man muss wissen, wann man verloren hat.“, erklärte er gelassen. „Nur so kann man in Würde verlieren. Wenn ich bitte noch eben meinen Anwalt informieren dürfte? Danach stehe ich voll zu Ihrer Verfügung.“

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