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Dienstag, 2. Mai 2017
Fünfzehn Siebzehn - Kurzkrimi zum Spekulieren - letzter Teil
c. fabry, 11:47h
Das erste Alibi, das Keller überprüfte, war das der Ehefrau. Die gute Freundin bestätigte den nächtlichen Besuch, es bestand aber immer noch die Restwahrscheinlichkeit, dass die beiden gemeinsame Sache machten, beziehungsweise, dass die Freundin die Pfarrerswitwe deckte.
Susanne Korte war zunächst beim Abendkreis gewesen und dann zu Hause, bei ihrem Mann. Es war unwahrscheinlich, dass er log, zumal seine Frau kein erkennbares Motiv hatte.
Pfarrer Philipp Schwartz, hatte sich tatsächlich in der gesamten letzten Woche zum Bibliologen ausbilden lassen und sich zu diesem Zweck in Josefstal im tiefsten Bayern aufgehalten. Dafür gab es mindestens fünfzehn unabhängige Zeugen.
Kerkenbrock befragte die Superintendentin Marlies Spengler.
„Bruder Münter war ein streitbarer Theologe.“, erklärte sie. „Er stand für seine Überzeugungen ein und nahm kein Blatt vor den Mund. Er hat etliche Kollegen gegen sich aufgebracht – die Konservativen genauso wie die betont Modernen, die unsere Kirche zu einem effektiven Geschäftsmodell umbauen wollen. Sie erkennen sie an ihrem Management-Vokabular, das der freien Wirtschaft entlehnt ist und an ihrem Look: schneidig, hochwertig, dynamisch.“
„So wie Philipp Schwartz?“
„Das haben Sie gesagt.“, bemerkte Marlies Spengler und schmunzelte. „Auf jeden Fall war Thorben Münter kein Fan unserer geplanten Luther-Festivitäten. Er hätte es angemessener gefunden, das Reformations-Jubiläum zum Anlass zu nehmen, welchen Reformbedarf wir nach nunmehr fünfhundert Jahren haben, statt den ollen Luther zum tausendsten Mal zu beweihräuchern. Ich finde ja, beide Positionen haben ihre Berechtigung, darum habe ich mich auch dafür eingesetzt, dass Münter bei der Veranstaltung einen Stand macht. Allerdings hat er sich oft frotzelnderweise als Alibi-Querulaten bezeichnet. Die meisten wollten doch lieber etwas Gefälliges machen: mittelalterliche Küche, Lutherlieder singen, Quizduell, lauter schöne-evangelische-Welt-Aktionen. Jetzt müssen wir erst einmal jemanden finden, der Thorbens Platz einnimmt, das wird nicht einfach.“
„Gibt es Interessenten?“
„Nein. Ich sagte ja. Das wird nicht einfach.“
Kerkenbrock sah die Liste sämtlicher Theologen des Kirchenkreises durch. Dabei fiel ihr etwas Bemerkenswertes auf: Johannes Schwartz. Ist der Mit Philipp Schwartz verwandt?“
„Ja, das ist sein Vater. Eine regionale Pfarrer-Dynastie. Der Vater von Johannes Schwartz war Pfarrer im Kirchenkreis Soest.“
„Und was hält Johannes Schwartz davon, dass da jemand seinem Sohn das Prestige-Projekt madig machen wollte?“
„Nicht viel, vermute ich.“, antwortete die Superintendentin. „Am besten sie fragen ihn selbst. Er gehört zum Team der Stiftskirchengemeinde.“
Das Gespräch mit Johannes Schwartz verlief höchst merkwürdig. Sabine Kerkenbrock hatte die ganze Zeit das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen, dass sie erstens als einer jüngeren Generation angehörig, zweitens als Frau und drittens als Nicht-Theologin überhaupt die Stirn besaß, ihm seine wertvolle Zeit zu stehlen und ihn mit Fragen zu belästigen. Sie hätte sich die Befragung auch schenken können. Als sie das Haus verließ, blieb ihr Blick im Inneren der Garage hängen, in der gerade kein Auto stand. Die Sonne wurde von einem großflächigen Fenster am gegenüber liegenden Haus so reflektiert, dass sie den hintersten Winkel der Garage ausleuchtete und da wurden am Boden zwei Sprühdosen angestrahlt in schwarz und rot. Sollte sie den Pfarrer noch dazu befragen? Als sie kam, hatte das Auto noch da gestanden, es war silbergrau. Vermutlich war die Ehefrau damit weggefahren. Wozu brauchte jemand mit einem silbergrauen Wagen Sprühlack in schwarz und rot, ganz besonders in diesem fortgeschrittenen Alter?
Sie rief Keller an und behielt die Garage im Auge, falls Schwartz versuchen sollte, die möglichen Beweise zu vernichten. Der Staatsanwalt reagierte ungewöhnlich schnell oder auch nicht ungewöhnlich, denn er war unter der Hand bekannt dafür, dass er unter einer regelrechten Allergie gegen das gesamte Kirchenvolk litt. So schnell hatten sie noch keinen Durchsuchungsbeschluss erhalten. Sie fanden nicht nur das passende Lackspray, mit dem die Hakenkreuzfahne hergestellt worden war, sondern auch Kaufbelege aus unterschiedlichsten Geschäften, in denen der Täter nach und nach die Tintenfässer erworben hatte. Als besonders spannend erwies sich die im Keller entdeckte Schokokusswurfmaschine, an der sich Tintenflecken befanden.
Mit einem geradezu trotzigen Gesichtsausdruck saß Johannes Schwartz im Verhörraum..
„Sie haben jetzt alle Zeit der Welt, uns zu erzählen wie und warum Sie ihren Kollegen
Thorben Münter getötet haben.“
„Kollege“, schnaubte Schwartz abfällig und seine erschlafften Hamsterbacken bebten vor Erregung. Kerkenbrock konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er eine frappierende, physische Ähnlichkeit mit dem Reformator Luther besaß.
„Münter war nichts weiter, als ein Nestbeschmutzer. Er hat zwar Theologie studiert, aber die wesentlichen Dinge nicht verstanden. Solchen Gesellen muss man beizeiten das Handwerk legen. Ich wollte, dass jeder erkennen kann, was für eine Ratte er war. So wie Martin Luther seinerzeit den Leibhaftigen mit einem Tintenfass verjagt hat, nachdem die 95 Thesen bereits veröffentlicht waren und so wie man im Alten Testament Übeltäter gesteinigt hat, habe ich den Teufel aus ihm herauskatapultiert. 95 Mal habe ich ihn beschossen und 95 Mal den Teufel getroffen.“
„Beschossen?“, fragte Keller „Etwa mit diesem eigens dafür hergestellten Katapult?“
„Das war nicht eigens dafür hergestellt.“, erklärte Johannes Schwartz. „Das ist ein liebenswertes Relikt aus den Siebzigerjahren, das immer noch hin und wieder zum Einsatz kommt. Eine Negerkuss-Wurfmaschine.“
„An Ihrer Sprache erkenne ich deutlich, dass die Hakenkreuzfahne nicht nur der Ablenkung diente, sondern auch Ihrer Überzeugung nicht ganz fernsteht.“, erklärte Kerkenbrock spitz.
„So ein Blödsinn!“, blaffte Schwartz sie an. „Diese ganze politische Korrektheit geht doch immer am Wesentlichen vorbei. Ich sehe mich in der Tradition Dietrich Bohnhoeffers und bin aufgewachsen mit der Rede Martin Luther Kings. Ich bin kein Rassist. , aber den traditionellen Negerkuss plötzlich Schokoschaumkuss zu nennen, nur damit ein paar blasse, magere Mädchen, die glauben, sie verstünden etwas von Ethik und Politik, sich nicht echauffieren, erscheint mir doch reichlich übersteuert.“
„Ich verstehe immer noch nicht, wofür diese Maschine normalerweise gebraucht wird.“, meldete sich Keller zu Wort.
„Man stellt sie auf Gemeinde- oder Kinderfesten auf. Es ist ein Geschicklichkeitsspiel. Man wirf einen Tennisball auf den Auslöser, dann fliegt einem der Negerkuss entgegen und man fängt ihn mit dem Mund auf.“
„Und wie haben Sie es mit den Tintenfässern angestellt?“
„Ich habe den Auslöser mit der Hand betätigt. Ich habe die Maschine auch an verschiedenen Stellen aufgestellt, damit es so aussieht, als sei er von mehreren Beteiligten beworfen worden. Vorher habe ich ihn mit einem Ast außer Gefecht gesetzt und ihn so vor die Mauer platziert, dass sich die Treffer effektvoll über seinen gesamten Körper verteilten.“
„Wie haben Sie ihn dort hin gelockt?“, fragte Keller.
„Ich habe ihn angerufen, mir irgendeinen Namen ausgedacht, wer ich angeblich sei, meine Stimme verstellt und behauptet, ich kenne ihn aus der Presse und dem Internet und ich würde gerade beobachten, wie sich einige Rechtsradikale an der Klosterruine sammelten, die sich auf Luther beriefen. Das müsse er sich ansehen. Er war ziemlich schnell da und einigermaßen verwirrt, als er nichts sah, als eine Hakenkreuzfahne.“
„Die Sie eigenhändig gesprüht hatten.“, ergänzte Kerkenbrock.
„Genau.“, bestätigte sie Schwartz.
„Warum haben Sie die Dosen nach der Tat nicht einfach entsorgt?“, fragte Kerkenbrock.
„Sie waren längst noch nicht verbraucht.“, erwiderte Schwartz. „Ich verabscheue jede Art von Verschwendung.“
„Meinen Sie nicht, dass es eine haltlose Verschwendung war, 95 Tintenfässer zu zerdeppern?“, fragte Keller angewidert.
„Nein.“, erwiderte Schwartz. „Die Symbolkraft dieser Artefakte war durch nichts zu übertreffen.“
„Sie haben das von langer Hand geplant, oder?“, fragte Keller. „Die Kaufbelege für die Tintenfässer waren zum Teil schon drei Monate alt.“
„Allerdings.“, erwiderte Schwartz. „Wenn ich einfach 95 Stück im Internet bestellt hätte, wäre ich ja sofort entlarvt gewesen.“
„Ich verstehe immer noch nicht, warum sie es getan haben.“, sagte Kerkenbrock. „Es gibt doch viele moderne Theologen, die Martin Luther äußerst kritisch gegenüber stehen. Wollten sie die auch alle noch steinigen?“
„Ich bin kein Massenmörder.“, erwiderte Schwartz. „Mir ging es darum einen Meilenstein im Lebenswerk meines Sohnes zu schützen. Er plant dieses besondere Reformationsfest zum Lutherjahr und ich bin wirklich stolz auf ihn, dass er diese Aufgabe mit Bravour bewältigt. Münter hätte alles verdorben, das konnte ich nicht zulassen. Dafür, dass ich verhindern konnte, dass ein Schatten auf den Glanz dieser wunderbaren Veranstaltung fällt, gehe ich gerne in Gefängnis. Das haben schon viele meiner Glaubensbrüder vor mir getan.“
„Wissen Sie was?“, sagte Keller und es gelang ihm nicht im Geringsten seinen tiefen Ekel zu verbergen. „Sie haben dem Anliegen Ihres Sohnes insbesondere dadurch geschadet, weil nun jeder erkennen kann, dass Luthers Entgleisungen so nachhaltig gewirkt haben, dass ein grausamer und völlig sinnloser Mord dabei herausgekommen ist. Ich werde das bei der Pressekonferenz besonders erwähnen.“
Susanne Korte war zunächst beim Abendkreis gewesen und dann zu Hause, bei ihrem Mann. Es war unwahrscheinlich, dass er log, zumal seine Frau kein erkennbares Motiv hatte.
Pfarrer Philipp Schwartz, hatte sich tatsächlich in der gesamten letzten Woche zum Bibliologen ausbilden lassen und sich zu diesem Zweck in Josefstal im tiefsten Bayern aufgehalten. Dafür gab es mindestens fünfzehn unabhängige Zeugen.
Kerkenbrock befragte die Superintendentin Marlies Spengler.
„Bruder Münter war ein streitbarer Theologe.“, erklärte sie. „Er stand für seine Überzeugungen ein und nahm kein Blatt vor den Mund. Er hat etliche Kollegen gegen sich aufgebracht – die Konservativen genauso wie die betont Modernen, die unsere Kirche zu einem effektiven Geschäftsmodell umbauen wollen. Sie erkennen sie an ihrem Management-Vokabular, das der freien Wirtschaft entlehnt ist und an ihrem Look: schneidig, hochwertig, dynamisch.“
„So wie Philipp Schwartz?“
„Das haben Sie gesagt.“, bemerkte Marlies Spengler und schmunzelte. „Auf jeden Fall war Thorben Münter kein Fan unserer geplanten Luther-Festivitäten. Er hätte es angemessener gefunden, das Reformations-Jubiläum zum Anlass zu nehmen, welchen Reformbedarf wir nach nunmehr fünfhundert Jahren haben, statt den ollen Luther zum tausendsten Mal zu beweihräuchern. Ich finde ja, beide Positionen haben ihre Berechtigung, darum habe ich mich auch dafür eingesetzt, dass Münter bei der Veranstaltung einen Stand macht. Allerdings hat er sich oft frotzelnderweise als Alibi-Querulaten bezeichnet. Die meisten wollten doch lieber etwas Gefälliges machen: mittelalterliche Küche, Lutherlieder singen, Quizduell, lauter schöne-evangelische-Welt-Aktionen. Jetzt müssen wir erst einmal jemanden finden, der Thorbens Platz einnimmt, das wird nicht einfach.“
„Gibt es Interessenten?“
„Nein. Ich sagte ja. Das wird nicht einfach.“
Kerkenbrock sah die Liste sämtlicher Theologen des Kirchenkreises durch. Dabei fiel ihr etwas Bemerkenswertes auf: Johannes Schwartz. Ist der Mit Philipp Schwartz verwandt?“
„Ja, das ist sein Vater. Eine regionale Pfarrer-Dynastie. Der Vater von Johannes Schwartz war Pfarrer im Kirchenkreis Soest.“
„Und was hält Johannes Schwartz davon, dass da jemand seinem Sohn das Prestige-Projekt madig machen wollte?“
„Nicht viel, vermute ich.“, antwortete die Superintendentin. „Am besten sie fragen ihn selbst. Er gehört zum Team der Stiftskirchengemeinde.“
Das Gespräch mit Johannes Schwartz verlief höchst merkwürdig. Sabine Kerkenbrock hatte die ganze Zeit das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen, dass sie erstens als einer jüngeren Generation angehörig, zweitens als Frau und drittens als Nicht-Theologin überhaupt die Stirn besaß, ihm seine wertvolle Zeit zu stehlen und ihn mit Fragen zu belästigen. Sie hätte sich die Befragung auch schenken können. Als sie das Haus verließ, blieb ihr Blick im Inneren der Garage hängen, in der gerade kein Auto stand. Die Sonne wurde von einem großflächigen Fenster am gegenüber liegenden Haus so reflektiert, dass sie den hintersten Winkel der Garage ausleuchtete und da wurden am Boden zwei Sprühdosen angestrahlt in schwarz und rot. Sollte sie den Pfarrer noch dazu befragen? Als sie kam, hatte das Auto noch da gestanden, es war silbergrau. Vermutlich war die Ehefrau damit weggefahren. Wozu brauchte jemand mit einem silbergrauen Wagen Sprühlack in schwarz und rot, ganz besonders in diesem fortgeschrittenen Alter?
Sie rief Keller an und behielt die Garage im Auge, falls Schwartz versuchen sollte, die möglichen Beweise zu vernichten. Der Staatsanwalt reagierte ungewöhnlich schnell oder auch nicht ungewöhnlich, denn er war unter der Hand bekannt dafür, dass er unter einer regelrechten Allergie gegen das gesamte Kirchenvolk litt. So schnell hatten sie noch keinen Durchsuchungsbeschluss erhalten. Sie fanden nicht nur das passende Lackspray, mit dem die Hakenkreuzfahne hergestellt worden war, sondern auch Kaufbelege aus unterschiedlichsten Geschäften, in denen der Täter nach und nach die Tintenfässer erworben hatte. Als besonders spannend erwies sich die im Keller entdeckte Schokokusswurfmaschine, an der sich Tintenflecken befanden.
Mit einem geradezu trotzigen Gesichtsausdruck saß Johannes Schwartz im Verhörraum..
„Sie haben jetzt alle Zeit der Welt, uns zu erzählen wie und warum Sie ihren Kollegen
Thorben Münter getötet haben.“
„Kollege“, schnaubte Schwartz abfällig und seine erschlafften Hamsterbacken bebten vor Erregung. Kerkenbrock konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er eine frappierende, physische Ähnlichkeit mit dem Reformator Luther besaß.
„Münter war nichts weiter, als ein Nestbeschmutzer. Er hat zwar Theologie studiert, aber die wesentlichen Dinge nicht verstanden. Solchen Gesellen muss man beizeiten das Handwerk legen. Ich wollte, dass jeder erkennen kann, was für eine Ratte er war. So wie Martin Luther seinerzeit den Leibhaftigen mit einem Tintenfass verjagt hat, nachdem die 95 Thesen bereits veröffentlicht waren und so wie man im Alten Testament Übeltäter gesteinigt hat, habe ich den Teufel aus ihm herauskatapultiert. 95 Mal habe ich ihn beschossen und 95 Mal den Teufel getroffen.“
„Beschossen?“, fragte Keller „Etwa mit diesem eigens dafür hergestellten Katapult?“
„Das war nicht eigens dafür hergestellt.“, erklärte Johannes Schwartz. „Das ist ein liebenswertes Relikt aus den Siebzigerjahren, das immer noch hin und wieder zum Einsatz kommt. Eine Negerkuss-Wurfmaschine.“
„An Ihrer Sprache erkenne ich deutlich, dass die Hakenkreuzfahne nicht nur der Ablenkung diente, sondern auch Ihrer Überzeugung nicht ganz fernsteht.“, erklärte Kerkenbrock spitz.
„So ein Blödsinn!“, blaffte Schwartz sie an. „Diese ganze politische Korrektheit geht doch immer am Wesentlichen vorbei. Ich sehe mich in der Tradition Dietrich Bohnhoeffers und bin aufgewachsen mit der Rede Martin Luther Kings. Ich bin kein Rassist. , aber den traditionellen Negerkuss plötzlich Schokoschaumkuss zu nennen, nur damit ein paar blasse, magere Mädchen, die glauben, sie verstünden etwas von Ethik und Politik, sich nicht echauffieren, erscheint mir doch reichlich übersteuert.“
„Ich verstehe immer noch nicht, wofür diese Maschine normalerweise gebraucht wird.“, meldete sich Keller zu Wort.
„Man stellt sie auf Gemeinde- oder Kinderfesten auf. Es ist ein Geschicklichkeitsspiel. Man wirf einen Tennisball auf den Auslöser, dann fliegt einem der Negerkuss entgegen und man fängt ihn mit dem Mund auf.“
„Und wie haben Sie es mit den Tintenfässern angestellt?“
„Ich habe den Auslöser mit der Hand betätigt. Ich habe die Maschine auch an verschiedenen Stellen aufgestellt, damit es so aussieht, als sei er von mehreren Beteiligten beworfen worden. Vorher habe ich ihn mit einem Ast außer Gefecht gesetzt und ihn so vor die Mauer platziert, dass sich die Treffer effektvoll über seinen gesamten Körper verteilten.“
„Wie haben Sie ihn dort hin gelockt?“, fragte Keller.
„Ich habe ihn angerufen, mir irgendeinen Namen ausgedacht, wer ich angeblich sei, meine Stimme verstellt und behauptet, ich kenne ihn aus der Presse und dem Internet und ich würde gerade beobachten, wie sich einige Rechtsradikale an der Klosterruine sammelten, die sich auf Luther beriefen. Das müsse er sich ansehen. Er war ziemlich schnell da und einigermaßen verwirrt, als er nichts sah, als eine Hakenkreuzfahne.“
„Die Sie eigenhändig gesprüht hatten.“, ergänzte Kerkenbrock.
„Genau.“, bestätigte sie Schwartz.
„Warum haben Sie die Dosen nach der Tat nicht einfach entsorgt?“, fragte Kerkenbrock.
„Sie waren längst noch nicht verbraucht.“, erwiderte Schwartz. „Ich verabscheue jede Art von Verschwendung.“
„Meinen Sie nicht, dass es eine haltlose Verschwendung war, 95 Tintenfässer zu zerdeppern?“, fragte Keller angewidert.
„Nein.“, erwiderte Schwartz. „Die Symbolkraft dieser Artefakte war durch nichts zu übertreffen.“
„Sie haben das von langer Hand geplant, oder?“, fragte Keller. „Die Kaufbelege für die Tintenfässer waren zum Teil schon drei Monate alt.“
„Allerdings.“, erwiderte Schwartz. „Wenn ich einfach 95 Stück im Internet bestellt hätte, wäre ich ja sofort entlarvt gewesen.“
„Ich verstehe immer noch nicht, warum sie es getan haben.“, sagte Kerkenbrock. „Es gibt doch viele moderne Theologen, die Martin Luther äußerst kritisch gegenüber stehen. Wollten sie die auch alle noch steinigen?“
„Ich bin kein Massenmörder.“, erwiderte Schwartz. „Mir ging es darum einen Meilenstein im Lebenswerk meines Sohnes zu schützen. Er plant dieses besondere Reformationsfest zum Lutherjahr und ich bin wirklich stolz auf ihn, dass er diese Aufgabe mit Bravour bewältigt. Münter hätte alles verdorben, das konnte ich nicht zulassen. Dafür, dass ich verhindern konnte, dass ein Schatten auf den Glanz dieser wunderbaren Veranstaltung fällt, gehe ich gerne in Gefängnis. Das haben schon viele meiner Glaubensbrüder vor mir getan.“
„Wissen Sie was?“, sagte Keller und es gelang ihm nicht im Geringsten seinen tiefen Ekel zu verbergen. „Sie haben dem Anliegen Ihres Sohnes insbesondere dadurch geschadet, weil nun jeder erkennen kann, dass Luthers Entgleisungen so nachhaltig gewirkt haben, dass ein grausamer und völlig sinnloser Mord dabei herausgekommen ist. Ich werde das bei der Pressekonferenz besonders erwähnen.“
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Montag, 24. April 2017
Fünfzehn Siebzehn - Kurzkrimi zum Spekulieren - 2. Teil
c. fabry, 15:15h
Am nächsten Morgen betrat Kerkenbrock ihr Büro und staunte über einen selten erholt wirkenden Stefan Keller.
„Waren Sie wirklich nur im Urlaub oder waren Sie irgendwo im Zauberwald?“, fragte sie ihn. „Sie sehen aus, als hätten Sie einen neuen Lack bekommen.“
„Danke, für das reizende Kompliment.“, erwiderte Keller. „Es ist wohl eher so, als wenn man ein altes Auto mit Politur für den TÜV aufhübscht. Das wäscht sich innerhalb einer Woche wieder runter.“
„Meinen Sie, länger hält das nicht?“, fragte Kerkenbrock. Immerhin betrifft unser neuer Fall ein Opfer aus dem urbanen Milieu, das sollte Ihnen doch gefallen.“
„Ja, aber gefunden wurde die Leiche im Wald, ich habe den Bericht schon gelesen. Ist ja schauerlich. Waren Sie schon beim Psychologen?“
„Haha, ich lach mich gleich tot. Wir haben zu tun, Herr Keller. Ich versuche jetzt gleich Philipp Schwartz zu erreichen, das ist der Pfarrer, der den kirchenkreisweiten Festakt zur Reformation organisiert. Unser Opfer wollte dort nämlich einen Infostand zu Luthers dunklen Abgründen betreiben. Ich wüsste gern, was genau er da geplant hat.“
„Meinen Sie, jemand wollte ihn wegen Ketzerei präventiv bestrafen?“
„Wäre doch möglich.“, meinte Kerkenbrock.
„Haben Sie schon mit der Familie gesprochen?“
„Die waren bisher nicht vernehmungsfähig. Ich schlage vor, die besuchen wir erst am späten Vormittag.“
Philipp Schwartz war zu Hause und empfing die Beamten betont freundlich, so wie ein kundenorientierter Geschäftsmann. Und so sah er auch aus: Jung, dynamisch, gepflegt, im Business-Look gekleidet und ein seriöser Haarschnitt, der aber frech genug geschnitten war, um nicht zu bieder zu wirken. Er sprach laut und fröhlich mit einer Mischung aus angedeuteter, freundschaftlicher Vertraulichkeit, wobei er peinlich darauf achtete, in kein Fettnäpfchen zu treten und nichts Wesentliches von sich preiszugeben. Er hätte den perfekten Jungmanager abgegeben. Über den grausamen Tod seines Kollegen zeigte er sich zutiefst erschüttert und zwar genau in dem Maß, in dem es von ihm als Theologen, Profi und Kollegen erwartet wurde, das heißt, er behielt die Fassung, aber der betroffene Gesichtsausdruck saß wie angegossen.
„Wie kommt es, dass Sie noch nicht informiert sind?“, fragte Keller skeptisch.
„Ich bin erst gestern Nacht von einer Fortbildung aus Süddeutschland zurückgekehrt. Als Sie anriefen, saß ich gerade beim Frühstück. Ich habe noch keine E-mail gelesen, kein Radio gehört und keine Zeitung aufgeschlagen. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Sie organisieren doch die Veranstaltung am 31.10. zum Reformationsjubiläum.“, begann Kerkenbrock die Befragung. „Welche Details sind Ihnen bekannt zum Infostand, den Thorben Münter geplant hatte?“
„Ich weiß nur, dass er Stellwände aufbauen wollte und dann sprach er von einem Brettspiel, sehr einfach gehalten, irgendetwas mit Würfeln und Karten unter der Überschrift: „Was hätte Luther getan?“ Er wollte die Besucher mit den Entgleisungen des Reformators konfrontieren, Also mit seinem Antisemitismus, seinem Unverständnis gegenüber den Bauernaufständen, seiner scharfen Kritik an Thomas Müntzer und seinem Rest-Aberglauben, demzufolge Kinder mit geistigen Behinderungen Wechselbälger des Teufels waren und damit Dämonen, die man töten musste.“
„Gab es Kritik oder Widerstand gegen sein Vorhaben?“, fragte Keller.
„Nein.“, erwiderte Schwartz, ohne zu überlegen. „Warum auch? Das ist ja alles historisch belegt. Natürlich fragt man sich, warum wir, wenn wir das Jubiläum der Reformation feiern, die eine Errungenschaft der Christenheit darstellt, immer gleichzeitig daran erinnern müssen, dass der Reformator kein Heiliger war? Jeder Held der Geschichte hat auch dunkle Seiten. Menschen sind keine perfekten Lichtwesen, deswegen haben wir ja auch alle die Vergebung so nötig. Martin Luther hat das immer betont und war sich auch stets seiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst. Er war ein Kind seiner Zeit und dabei sollte man es belassen. Natürlich ist die Evangelische Kirche heute meilenweit davon entfernt, antisemitisch zu sein, Menschen, die nicht der Norm entsprechen auszugrenzen, Reformwillige zu vertreiben oder politischen Widerstand zu verbieten. Ganz im Gegenteil.“
„Natürlich.“, erwiderte Keller mit gespielter Freundlichkeit. „Das entspricht ja auch der aktuellen gesellschaftlichen Norm. Vor achtzig Jahren sah das aber noch ganz anders aus.“
„Vor achtzig Jahren sah es auch bei der Polizei noch ganz anders aus.“, konterte Schwartz. „Ich bin jedenfalls in einer evangelischen Verbandsjugendarbeit groß geworden, in der man sich mit Themen befasst hat wie dem Weltfrieden, dem Umweltschutz und der Integration von Menschen mit Behinderungen. Und wenn jemand bei einem Fest zur Reformation darauf besteht, auch die Schattenseiten zu bedenken, dann hat er alle Freiheit, das zu tun. Wie halten Sie es denn bei Ihren Polizeifesten?“
„Ich besuche keine Polizeifeste.“, antwortete Keller. „haben Sie sonst etwas mitbekommen, dass Thorben Münter vielleicht bedroht wurde oder mit jemandem Streit hatte?“
„Er wurde bestenfalls von einigen Kollegen belächelt.“, erwiderte Schwartz mit einem mitleidigen Zucken der Mundwinkel. „Irgendwann wird man einfach nicht mehr ernst genommen, wenn man sich immer gebärdet, als sei man das personifizierte Gewissen des Kirchenkreises.“
Sie befragten Philipp Schwartz noch lange zu den Aufgaben, den die Theologen im Kirchenkreis unter sich aufteilten, wer besonders gut mit Münter zurecht gekommen war und wer ihn besonders missbilligte und was bei der Veranstaltung am 31.10. genau geplant war und in wessen Verantwortung. Der Pfarrer schwärmte in höchsten Tönen von seinem Projekt und es war nicht zu übersehen, dass er es liebte wie sein Baby und es – falls nötig – mit Zähnen und Klauen verteidigte.
„Wir müssen die angebliche Fortbildung in Süddeutschland genau überprüfen.“, meinte Keller später zu Kerkenbrock. „Ich finde, dieser Schwartz hat das dickste Motiv, das man sich vorstellen kann, er hatte nur nicht die Gelegenheit, aber vielleicht hat er auch nur dafür gesorgt, dass es so aussieht.“
Am späten Vormittag suchten sie Frau Münter auf. Die hatte sich durch Notfallseelsorge und die Einnahme von entsprechenden Medikamenten so weit beruhigt, dass sie zu einem längeren Gespräch fähig war.
„Ja, mein Mann hat es seinen Kollegen nicht immer leicht gemacht, aber ich glaube kaum, dass irgendjemand ihn deswegen umbringen wollte. Seine echten Feinde müssen Sie wohl eher im rechtsextremistischen Umfeld suchen. Die haben sich ja schon im Nazi-Deutschland auf Luther berufen. Als er vorgestern Abend noch einmal raus gegangen ist, hat er mir einen Zettel hinterlassen.“
Sie zeigte den Beamten ein quadratisches Blatt eines handelsüblichen Notziblocks: „Hallo Frauke, bin kurz noch mal Nazis gucken :-) Kann spät werden. Thorben.“
„Verstehen Sie, was er damit meinte?“, fragte Kerkenbrock.
„Ich vermute, er hat eine Mitteilung bekommen, dass irgendwo eine heimliche Veranstaltung von Neonazis abgehalten wird. Er wollte dahin und das beobachten. So etwas hat er häufiger gemacht.“
„Wer wusste, dass er so etwas regelmäßig machte?“, fragte Kerkenbrock.
„Praktisch jeder, der ihn kannte.“, antwortete Frauke Münter. „Er sprach sehr viel darüber.“
„Es wäre demnach möglich, dass ihn jemand in eine Falle gelockt hat?“
„Sie meinen, das waren gar keine Nazis?“, fragte die Witwe irritiert.
„Zumindest nicht notwendigerweise.“, antwortete Kerkenbrock. „Haben Sie sich denn gar nicht gewundert, dass Ihr Mann in der Nacht nicht nach Hause kam? Sie müssen sich doch Sorgen um ihn gemacht haben. Ist doch nicht unwahrscheinlich, dass man verletzt wird, wenn man heimlich Treffen von Neonazis beschattet.“
„Ich habe den Zettel doch erst gefunden, nachdem die Polizei hier war.“, antwortete Frauke Münter. „Vorgestern Nacht bin ich selbst sehr spät nach Hause gekommen, ich war bei einer Freundin und wir haben die halbe Nacht geredet. Ich habe mich dann leise ins Bett geschlichen, um meinen Mann nicht zu wecken. Ich wusste gar nicht, dass er nicht da war.“
„Sie müssen doch bemerkt haben, dass das Bett leer war.“
„Nein.“, erwiderte die Frau des Pfarrers. „Seine Schlafzimmertür war zu. Wir schlafen nicht in einem Zimmer. Ich bin sehr geräuschempfindlich und schlafe bei geschlossenem Fenster. Mein Mann dagegen bekommt Alpträume, wenn nicht ständig frische Luft nachströmt.“
Sie hatte für den Bruchteil einer Sekunde vergessen, dass ihr Mann nie wieder Alpträume haben würde.
Sie ließen sich auch Namen und Kontaktdaten der Freundin geben, mit der Frau Münter die halbe Tatnacht verbracht haben wollte. „Getrennte Schlafzimmer“, meinte Keller, „sind immer ein Indiz für eheliche Konflikte. Die Ausrede mit den unterschiedlichen Schlafbedürfnissen wird einem da jedes Mal aufgetischt.“
„Aber es gibt unterschiedliche Schlafbedürfnisse.“, meinte Kerkenbrock. „Ich kenne einige befreundete Paare, die das so handhaben und trotzdem Kinder kriegen und sehr liebevoll miteinander umgehen.“
„Mag ja sein.“, erwiderte Keller. „Überprüfen müssen wir das Alibi der Witwe aber trotzdem. Dieser Notizzettel wirkt auf mich reichlich konstruiert. Ich kümmere mich um die Alibis. Könnten Sie sich in der Zwischenzeit mit dem Kirchenkreis in Verbindung setzen und sich eine Liste aller dort tätigen Pfarrerinnen und Pfarrer geben lassen? Ich denke wir sollten die alle abklappern, falls die Alibis der Prüfung standhalten.“
„Ist in Ordnung.“, meinte Kerkenbrock. „Vielleicht unterhalte ich mich mal mit der Superintendentin. Die weiß sicher, wer besonders gut mit Münter konnte und wer ihm nicht so grün war, dann müssen wir uns nicht mit jedem unterhalten.“
„Aber die Information haben wir doch schon von Schwartz.“
„Ich hole gern eine zweite Meinung ein.“, antwortete Kerkenbrock. „Und mit der weiblichen Sicht ist das Ganze dann auch gleich ordnungsgemäß gegendert.“
„Sie sprechen definitiv nicht meine Sprache.“, grunzte Keller und lenkte den Wagen zurück zum Präsidium.
JA, IHR LIEBEN, DIES IST NOCH IMMER NICHT DAS ENDE. DARAUF MÜSST IHR NOCH EINE WOCHE WARTEN: VERTREIBT DOCH MIR UND EUCH DIE ZEIT MIT GEWAGTEN HYPOTHESEN UND UNGEHEUERLICHEN VERDÄCHTIGUNGEN.
„Waren Sie wirklich nur im Urlaub oder waren Sie irgendwo im Zauberwald?“, fragte sie ihn. „Sie sehen aus, als hätten Sie einen neuen Lack bekommen.“
„Danke, für das reizende Kompliment.“, erwiderte Keller. „Es ist wohl eher so, als wenn man ein altes Auto mit Politur für den TÜV aufhübscht. Das wäscht sich innerhalb einer Woche wieder runter.“
„Meinen Sie, länger hält das nicht?“, fragte Kerkenbrock. Immerhin betrifft unser neuer Fall ein Opfer aus dem urbanen Milieu, das sollte Ihnen doch gefallen.“
„Ja, aber gefunden wurde die Leiche im Wald, ich habe den Bericht schon gelesen. Ist ja schauerlich. Waren Sie schon beim Psychologen?“
„Haha, ich lach mich gleich tot. Wir haben zu tun, Herr Keller. Ich versuche jetzt gleich Philipp Schwartz zu erreichen, das ist der Pfarrer, der den kirchenkreisweiten Festakt zur Reformation organisiert. Unser Opfer wollte dort nämlich einen Infostand zu Luthers dunklen Abgründen betreiben. Ich wüsste gern, was genau er da geplant hat.“
„Meinen Sie, jemand wollte ihn wegen Ketzerei präventiv bestrafen?“
„Wäre doch möglich.“, meinte Kerkenbrock.
„Haben Sie schon mit der Familie gesprochen?“
„Die waren bisher nicht vernehmungsfähig. Ich schlage vor, die besuchen wir erst am späten Vormittag.“
Philipp Schwartz war zu Hause und empfing die Beamten betont freundlich, so wie ein kundenorientierter Geschäftsmann. Und so sah er auch aus: Jung, dynamisch, gepflegt, im Business-Look gekleidet und ein seriöser Haarschnitt, der aber frech genug geschnitten war, um nicht zu bieder zu wirken. Er sprach laut und fröhlich mit einer Mischung aus angedeuteter, freundschaftlicher Vertraulichkeit, wobei er peinlich darauf achtete, in kein Fettnäpfchen zu treten und nichts Wesentliches von sich preiszugeben. Er hätte den perfekten Jungmanager abgegeben. Über den grausamen Tod seines Kollegen zeigte er sich zutiefst erschüttert und zwar genau in dem Maß, in dem es von ihm als Theologen, Profi und Kollegen erwartet wurde, das heißt, er behielt die Fassung, aber der betroffene Gesichtsausdruck saß wie angegossen.
„Wie kommt es, dass Sie noch nicht informiert sind?“, fragte Keller skeptisch.
„Ich bin erst gestern Nacht von einer Fortbildung aus Süddeutschland zurückgekehrt. Als Sie anriefen, saß ich gerade beim Frühstück. Ich habe noch keine E-mail gelesen, kein Radio gehört und keine Zeitung aufgeschlagen. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Sie organisieren doch die Veranstaltung am 31.10. zum Reformationsjubiläum.“, begann Kerkenbrock die Befragung. „Welche Details sind Ihnen bekannt zum Infostand, den Thorben Münter geplant hatte?“
„Ich weiß nur, dass er Stellwände aufbauen wollte und dann sprach er von einem Brettspiel, sehr einfach gehalten, irgendetwas mit Würfeln und Karten unter der Überschrift: „Was hätte Luther getan?“ Er wollte die Besucher mit den Entgleisungen des Reformators konfrontieren, Also mit seinem Antisemitismus, seinem Unverständnis gegenüber den Bauernaufständen, seiner scharfen Kritik an Thomas Müntzer und seinem Rest-Aberglauben, demzufolge Kinder mit geistigen Behinderungen Wechselbälger des Teufels waren und damit Dämonen, die man töten musste.“
„Gab es Kritik oder Widerstand gegen sein Vorhaben?“, fragte Keller.
„Nein.“, erwiderte Schwartz, ohne zu überlegen. „Warum auch? Das ist ja alles historisch belegt. Natürlich fragt man sich, warum wir, wenn wir das Jubiläum der Reformation feiern, die eine Errungenschaft der Christenheit darstellt, immer gleichzeitig daran erinnern müssen, dass der Reformator kein Heiliger war? Jeder Held der Geschichte hat auch dunkle Seiten. Menschen sind keine perfekten Lichtwesen, deswegen haben wir ja auch alle die Vergebung so nötig. Martin Luther hat das immer betont und war sich auch stets seiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst. Er war ein Kind seiner Zeit und dabei sollte man es belassen. Natürlich ist die Evangelische Kirche heute meilenweit davon entfernt, antisemitisch zu sein, Menschen, die nicht der Norm entsprechen auszugrenzen, Reformwillige zu vertreiben oder politischen Widerstand zu verbieten. Ganz im Gegenteil.“
„Natürlich.“, erwiderte Keller mit gespielter Freundlichkeit. „Das entspricht ja auch der aktuellen gesellschaftlichen Norm. Vor achtzig Jahren sah das aber noch ganz anders aus.“
„Vor achtzig Jahren sah es auch bei der Polizei noch ganz anders aus.“, konterte Schwartz. „Ich bin jedenfalls in einer evangelischen Verbandsjugendarbeit groß geworden, in der man sich mit Themen befasst hat wie dem Weltfrieden, dem Umweltschutz und der Integration von Menschen mit Behinderungen. Und wenn jemand bei einem Fest zur Reformation darauf besteht, auch die Schattenseiten zu bedenken, dann hat er alle Freiheit, das zu tun. Wie halten Sie es denn bei Ihren Polizeifesten?“
„Ich besuche keine Polizeifeste.“, antwortete Keller. „haben Sie sonst etwas mitbekommen, dass Thorben Münter vielleicht bedroht wurde oder mit jemandem Streit hatte?“
„Er wurde bestenfalls von einigen Kollegen belächelt.“, erwiderte Schwartz mit einem mitleidigen Zucken der Mundwinkel. „Irgendwann wird man einfach nicht mehr ernst genommen, wenn man sich immer gebärdet, als sei man das personifizierte Gewissen des Kirchenkreises.“
Sie befragten Philipp Schwartz noch lange zu den Aufgaben, den die Theologen im Kirchenkreis unter sich aufteilten, wer besonders gut mit Münter zurecht gekommen war und wer ihn besonders missbilligte und was bei der Veranstaltung am 31.10. genau geplant war und in wessen Verantwortung. Der Pfarrer schwärmte in höchsten Tönen von seinem Projekt und es war nicht zu übersehen, dass er es liebte wie sein Baby und es – falls nötig – mit Zähnen und Klauen verteidigte.
„Wir müssen die angebliche Fortbildung in Süddeutschland genau überprüfen.“, meinte Keller später zu Kerkenbrock. „Ich finde, dieser Schwartz hat das dickste Motiv, das man sich vorstellen kann, er hatte nur nicht die Gelegenheit, aber vielleicht hat er auch nur dafür gesorgt, dass es so aussieht.“
Am späten Vormittag suchten sie Frau Münter auf. Die hatte sich durch Notfallseelsorge und die Einnahme von entsprechenden Medikamenten so weit beruhigt, dass sie zu einem längeren Gespräch fähig war.
„Ja, mein Mann hat es seinen Kollegen nicht immer leicht gemacht, aber ich glaube kaum, dass irgendjemand ihn deswegen umbringen wollte. Seine echten Feinde müssen Sie wohl eher im rechtsextremistischen Umfeld suchen. Die haben sich ja schon im Nazi-Deutschland auf Luther berufen. Als er vorgestern Abend noch einmal raus gegangen ist, hat er mir einen Zettel hinterlassen.“
Sie zeigte den Beamten ein quadratisches Blatt eines handelsüblichen Notziblocks: „Hallo Frauke, bin kurz noch mal Nazis gucken :-) Kann spät werden. Thorben.“
„Verstehen Sie, was er damit meinte?“, fragte Kerkenbrock.
„Ich vermute, er hat eine Mitteilung bekommen, dass irgendwo eine heimliche Veranstaltung von Neonazis abgehalten wird. Er wollte dahin und das beobachten. So etwas hat er häufiger gemacht.“
„Wer wusste, dass er so etwas regelmäßig machte?“, fragte Kerkenbrock.
„Praktisch jeder, der ihn kannte.“, antwortete Frauke Münter. „Er sprach sehr viel darüber.“
„Es wäre demnach möglich, dass ihn jemand in eine Falle gelockt hat?“
„Sie meinen, das waren gar keine Nazis?“, fragte die Witwe irritiert.
„Zumindest nicht notwendigerweise.“, antwortete Kerkenbrock. „Haben Sie sich denn gar nicht gewundert, dass Ihr Mann in der Nacht nicht nach Hause kam? Sie müssen sich doch Sorgen um ihn gemacht haben. Ist doch nicht unwahrscheinlich, dass man verletzt wird, wenn man heimlich Treffen von Neonazis beschattet.“
„Ich habe den Zettel doch erst gefunden, nachdem die Polizei hier war.“, antwortete Frauke Münter. „Vorgestern Nacht bin ich selbst sehr spät nach Hause gekommen, ich war bei einer Freundin und wir haben die halbe Nacht geredet. Ich habe mich dann leise ins Bett geschlichen, um meinen Mann nicht zu wecken. Ich wusste gar nicht, dass er nicht da war.“
„Sie müssen doch bemerkt haben, dass das Bett leer war.“
„Nein.“, erwiderte die Frau des Pfarrers. „Seine Schlafzimmertür war zu. Wir schlafen nicht in einem Zimmer. Ich bin sehr geräuschempfindlich und schlafe bei geschlossenem Fenster. Mein Mann dagegen bekommt Alpträume, wenn nicht ständig frische Luft nachströmt.“
Sie hatte für den Bruchteil einer Sekunde vergessen, dass ihr Mann nie wieder Alpträume haben würde.
Sie ließen sich auch Namen und Kontaktdaten der Freundin geben, mit der Frau Münter die halbe Tatnacht verbracht haben wollte. „Getrennte Schlafzimmer“, meinte Keller, „sind immer ein Indiz für eheliche Konflikte. Die Ausrede mit den unterschiedlichen Schlafbedürfnissen wird einem da jedes Mal aufgetischt.“
„Aber es gibt unterschiedliche Schlafbedürfnisse.“, meinte Kerkenbrock. „Ich kenne einige befreundete Paare, die das so handhaben und trotzdem Kinder kriegen und sehr liebevoll miteinander umgehen.“
„Mag ja sein.“, erwiderte Keller. „Überprüfen müssen wir das Alibi der Witwe aber trotzdem. Dieser Notizzettel wirkt auf mich reichlich konstruiert. Ich kümmere mich um die Alibis. Könnten Sie sich in der Zwischenzeit mit dem Kirchenkreis in Verbindung setzen und sich eine Liste aller dort tätigen Pfarrerinnen und Pfarrer geben lassen? Ich denke wir sollten die alle abklappern, falls die Alibis der Prüfung standhalten.“
„Ist in Ordnung.“, meinte Kerkenbrock. „Vielleicht unterhalte ich mich mal mit der Superintendentin. Die weiß sicher, wer besonders gut mit Münter konnte und wer ihm nicht so grün war, dann müssen wir uns nicht mit jedem unterhalten.“
„Aber die Information haben wir doch schon von Schwartz.“
„Ich hole gern eine zweite Meinung ein.“, antwortete Kerkenbrock. „Und mit der weiblichen Sicht ist das Ganze dann auch gleich ordnungsgemäß gegendert.“
„Sie sprechen definitiv nicht meine Sprache.“, grunzte Keller und lenkte den Wagen zurück zum Präsidium.
JA, IHR LIEBEN, DIES IST NOCH IMMER NICHT DAS ENDE. DARAUF MÜSST IHR NOCH EINE WOCHE WARTEN: VERTREIBT DOCH MIR UND EUCH DIE ZEIT MIT GEWAGTEN HYPOTHESEN UND UNGEHEUERLICHEN VERDÄCHTIGUNGEN.
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Samstag, 22. April 2017
Fünfzehn Siebzehn - Kurzkrimi zum Spekulieren - 1. Teil
c. fabry, 21:23h
Sabine Kerkenbrock fühlte sich wie die Protagonistin eines klischeehaften englischen Krimis, als sie an den Tatort tief im Teutoburger Wald gelangte. Die Klosterruine zwischen alten Buchen und stinkendem Bärlauch war schaurig genug – auch ohne Ketchup und Majo. Der Anblick war zutiefst erschütternd und ließ sofort an das Werk eines Irren denken – oder an eine Gruppe von Menschen in blinder Wut.
Der Tote – ein durchschnittlich schlanker Mann mittleren Alters - war halb sitzend, halb liegend an eine Mauer gelehnt, übersät mit unzähligen, blutenden Wunden und besprenkelt mit schwarzer oder zumindest tiefdunkler Farbe. Überall lagen Scherben herum, aber auch weitestgehend unbeschädigte, handliche kleine Gläser, die als Wurfgeschosse gedient hatten. Es handelte sich um Tintenfässer, manche waren noch gefüllt. Im Baum hing eine individuell gefertigte Hakenkreuzfahne, die mit Sprühfarbe auf Baumwollstoff gemalt worden war. Um den Hals der Leiche war ein Schal drapiert worden, der ebenfalls von Hand beschriftet worden war mit den Worten: "Luthers späte Rache: 95 Thesen - 95 Anschläge".
„Erscheint wie eine Steinigung, Entschuldigung, wie eine Tintenfassigung“, erklärte die Pathologin Konstanze Flegel. „Es sieht nach mehreren Tätern aus, die das Opfer aus verschiedenen Richtungen und Abständen mit Tintenfässern beworfen haben, wie der akut psychotische Luther die Wand in seinem Studierzimmer, an der er den Teufel zu sehen glaubte. Krasse Symbolik. Gestorben ist der Mann aber vermutlich schon vor dem Bombardement, denn ihm wurde mit einem stumpfen Gegenstand der Schädel eingeschlagen und die darauf folgenden zerebralen Blutungen dürften den Exitus herbei geführt haben. Hier liegt ein dicker Ast, der sich hervorragend als steinzeitliche Keule eignet und es befinden sich Spuren von Blut daran. Den nehmen wir mit.“
Die Identität des Toten war schnell geklärt: Thorben Münter, evangelischer Theologe und Pfarrer in Bielefeld Gadderbaum. Seine Familie musste informiert werden und Sabine Kerkenbrock war nicht glücklich über die Tatsache, dass ihr Vorgesetzter Stefan Keller erst morgen aus dem Urlaub zurückkehrte. Sie musste die Unheilsbotschaft allein überbringen.
Münters Frau war am Boden zerstört und vollkommen gesprächsunfähig. Seine Kollegin Susanne Korte konnte dagegen hilfreiche Informationen liefern: „Thorben war immer auch politisch engagiert.“, sagte sie. „Er war aktiv im Bündnis gegen Rechts „Bielefeld stellt sich quer“ und war auch dafür bekannt. Seine Predigten waren oft klare, politische Statements, das wurde nicht überall gern gehört. Er provozierte gern und konfrontierte die Heile-Welt-Christen mit ihrer eigenen Betriebs-Blindheit. Damit hat er sich viele Feinde gemacht. Dass allerdings jemand so weit gehen würde, ihn zu ermorden, damit hat wirklich niemand gerechnet, am allerwenigsten wohl er selbst.“
„Sie halten es demnach für wahrscheinlich, dass er einem Angriff von Rechtsradikalen zum Opfer fiel?“
„Natürlich. Er war einer der führenden Aktivisten in der antifaschistischen Bewegung. Er stand mit seinem Namen dafür. Sie hatten ihn sicher schon länger auf der schwarzen Liste.“
„Haben Neonazis denn einen Bezug zu Luther?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Es gab da Hinweise am Tatort. Und? Ist Luther ein Nazi-Idol?“
„So weit würde ich nicht gehen in meinen Behauptungen.“, erwiderte Susanne Korte. „Aber Luther ist dafür bekannt, dass er antisemitische Schriften verfasst hat und auch, dass er dazu aufgerufen hat, geistig behinderte Kinder zu töten, weil sie Wechselbälger des Satans seien. Es gibt eine Menge Nazis, die in ihm eine Art Vordenker sehen und noch mehr, die ihn einfach gern vor ihren politischen Karren spannen. Da sind sie dann gern schon einmal lutherischer als der evangelisch-lutherische Theologe.“
„Moment.“, hakte Kerkenbrock nach. „Luther war Antisemit und Begründer der Behinderten-Euthanasie im Dritten Reich und evangelische Kirchengemeinden benennen sich heute noch nach ihm?“
„Na ja.“, rechtfertigte Susanne Korte ihren Anstellungsträger und ihre Religionsgemeinschaft. „Wir gründen unser bürgerliches Gesetzbuch ja auch auf dem römischen Recht und welche Absonderlichkeiten vom römischen Reich ausgegangen sind, muss ich Ihnen sicher nicht erzählen. Es gibt auch sicher haufenweise Freudianer, die Sigmund Freud umgehend aus ihrer WG geworfen hätten und Marxistinnen, die sich umgehend von Karl Marx hätten scheiden lassen, wenn sie ihn überhaupt geheiratet hätten. Lutherische Kirchen stehen für die reformatorischen Gedanken, nicht für Antisemitismus, Obrigkeitshörigkeit und mittelalterliche Angst vor Hexen und Zauberern.“
„Hat Pfarrer Münter sich denn auch öffentlich kritisch mit der Person Martin Luthers auseinandergesetzt?“
„Gelegentlich.“, erwiderte Susanne Korte. „Auf jeden Fall wollte er einen Infostand zu den dunklen Kapiteln in Luthers Biographie betreiben. Unser Kirchenkreis plant im Asapheum in Bethel ein großes Reformationsfest am 31. Oktober zum 500. Jahrestag des Thesenanschlags in Wittenberg. Thorben ging die Glorifizierung und Beweihräucherung dieses zweifelhaften Menschen gegen den Strich. Er wollte dem etwas entgegensetzen.“
„Was genau hatte er da geplant?“
„Keine Ahnung. Da müssen Sie Philipp Schwartz fragen, der organisiert die Veranstaltung. Er ist Pfarrer in der Neustädter Marienkirche.“
Kerkenbrock bedankte sich und fuhr zurück ins Präsidium. Bevor sie weiter Klinken putzen ging, wollte sie bei der KTU und der Gerichtsmedizin vorbei schauen. Vielleicht gab es schon neue Erkenntnisse.
Die Hakenkreuzfahne war auf höchst dilettantische Weise hergestellt worden. Die Experten erklärten, dass dies ein Hinweis darauf war, dass die Täter höchstwahrscheinlich nicht der rechten Szene zuzuordnen waren, denn richtige Nazis verwendeten richtige Fahnen und dumme Jugendliche, die so etwas selbst basteln mussten, hatten keine Ahnung von Luthers antisemitistischer Gesinnung, hatten vielleicht einmal etwas von 95 Thesen gehört und im besten Fall mitbekommen, dass die Reformation sich 2017 zum 500. Mal jährte, wären aber niemals auf das Wortspiel "95 Thesen – 95 Anschläge" gekommen, das in seiner Doppeldeutigkeit sowohl auf den Thesenanschlag als auch auf einen Anschlag im Sinne eines Gewaltverbrechens hinwies. Offenkundig hat der Täter oder hatten die Täter versucht, von den wahren Motiven abzulenken.
Es waren höchstwahrscheinlich exakt 95 Tintenfässer auf den Toten geschleudert worden.
Was die Todesursache betraf, hatte Konstanze sich nicht getäuscht. Der Pfarrer war mit einem dicken Ast bewusstlos geschlagen worden und zwar mit einer solchen Wucht, dass die darauf folgenden Blutungen sein Gehirn zerstört hatten. Die durch die Würfe mit Tintenfässern verursachten Hämatome wären allenfalls unangenehm, aber niemals tödlich gewesen.
Weil es schon spät war und sie Philipp Schwartz nicht erreichen konnte, verschob sie die weiteren Ermittlungen auf den nächsten Tag, an dem sie sich mit Stefan Keller beraten konnte.
Was ist hier passiert? Wer war das? Und warum? Über wilde Spekulationen würde ich mich mal wieder außerordentlich freuen, obwohl mir selbst das Ende der Geschichte natürlich schon bekannt ist :-)
Der Tote – ein durchschnittlich schlanker Mann mittleren Alters - war halb sitzend, halb liegend an eine Mauer gelehnt, übersät mit unzähligen, blutenden Wunden und besprenkelt mit schwarzer oder zumindest tiefdunkler Farbe. Überall lagen Scherben herum, aber auch weitestgehend unbeschädigte, handliche kleine Gläser, die als Wurfgeschosse gedient hatten. Es handelte sich um Tintenfässer, manche waren noch gefüllt. Im Baum hing eine individuell gefertigte Hakenkreuzfahne, die mit Sprühfarbe auf Baumwollstoff gemalt worden war. Um den Hals der Leiche war ein Schal drapiert worden, der ebenfalls von Hand beschriftet worden war mit den Worten: "Luthers späte Rache: 95 Thesen - 95 Anschläge".
„Erscheint wie eine Steinigung, Entschuldigung, wie eine Tintenfassigung“, erklärte die Pathologin Konstanze Flegel. „Es sieht nach mehreren Tätern aus, die das Opfer aus verschiedenen Richtungen und Abständen mit Tintenfässern beworfen haben, wie der akut psychotische Luther die Wand in seinem Studierzimmer, an der er den Teufel zu sehen glaubte. Krasse Symbolik. Gestorben ist der Mann aber vermutlich schon vor dem Bombardement, denn ihm wurde mit einem stumpfen Gegenstand der Schädel eingeschlagen und die darauf folgenden zerebralen Blutungen dürften den Exitus herbei geführt haben. Hier liegt ein dicker Ast, der sich hervorragend als steinzeitliche Keule eignet und es befinden sich Spuren von Blut daran. Den nehmen wir mit.“
Die Identität des Toten war schnell geklärt: Thorben Münter, evangelischer Theologe und Pfarrer in Bielefeld Gadderbaum. Seine Familie musste informiert werden und Sabine Kerkenbrock war nicht glücklich über die Tatsache, dass ihr Vorgesetzter Stefan Keller erst morgen aus dem Urlaub zurückkehrte. Sie musste die Unheilsbotschaft allein überbringen.
Münters Frau war am Boden zerstört und vollkommen gesprächsunfähig. Seine Kollegin Susanne Korte konnte dagegen hilfreiche Informationen liefern: „Thorben war immer auch politisch engagiert.“, sagte sie. „Er war aktiv im Bündnis gegen Rechts „Bielefeld stellt sich quer“ und war auch dafür bekannt. Seine Predigten waren oft klare, politische Statements, das wurde nicht überall gern gehört. Er provozierte gern und konfrontierte die Heile-Welt-Christen mit ihrer eigenen Betriebs-Blindheit. Damit hat er sich viele Feinde gemacht. Dass allerdings jemand so weit gehen würde, ihn zu ermorden, damit hat wirklich niemand gerechnet, am allerwenigsten wohl er selbst.“
„Sie halten es demnach für wahrscheinlich, dass er einem Angriff von Rechtsradikalen zum Opfer fiel?“
„Natürlich. Er war einer der führenden Aktivisten in der antifaschistischen Bewegung. Er stand mit seinem Namen dafür. Sie hatten ihn sicher schon länger auf der schwarzen Liste.“
„Haben Neonazis denn einen Bezug zu Luther?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Es gab da Hinweise am Tatort. Und? Ist Luther ein Nazi-Idol?“
„So weit würde ich nicht gehen in meinen Behauptungen.“, erwiderte Susanne Korte. „Aber Luther ist dafür bekannt, dass er antisemitische Schriften verfasst hat und auch, dass er dazu aufgerufen hat, geistig behinderte Kinder zu töten, weil sie Wechselbälger des Satans seien. Es gibt eine Menge Nazis, die in ihm eine Art Vordenker sehen und noch mehr, die ihn einfach gern vor ihren politischen Karren spannen. Da sind sie dann gern schon einmal lutherischer als der evangelisch-lutherische Theologe.“
„Moment.“, hakte Kerkenbrock nach. „Luther war Antisemit und Begründer der Behinderten-Euthanasie im Dritten Reich und evangelische Kirchengemeinden benennen sich heute noch nach ihm?“
„Na ja.“, rechtfertigte Susanne Korte ihren Anstellungsträger und ihre Religionsgemeinschaft. „Wir gründen unser bürgerliches Gesetzbuch ja auch auf dem römischen Recht und welche Absonderlichkeiten vom römischen Reich ausgegangen sind, muss ich Ihnen sicher nicht erzählen. Es gibt auch sicher haufenweise Freudianer, die Sigmund Freud umgehend aus ihrer WG geworfen hätten und Marxistinnen, die sich umgehend von Karl Marx hätten scheiden lassen, wenn sie ihn überhaupt geheiratet hätten. Lutherische Kirchen stehen für die reformatorischen Gedanken, nicht für Antisemitismus, Obrigkeitshörigkeit und mittelalterliche Angst vor Hexen und Zauberern.“
„Hat Pfarrer Münter sich denn auch öffentlich kritisch mit der Person Martin Luthers auseinandergesetzt?“
„Gelegentlich.“, erwiderte Susanne Korte. „Auf jeden Fall wollte er einen Infostand zu den dunklen Kapiteln in Luthers Biographie betreiben. Unser Kirchenkreis plant im Asapheum in Bethel ein großes Reformationsfest am 31. Oktober zum 500. Jahrestag des Thesenanschlags in Wittenberg. Thorben ging die Glorifizierung und Beweihräucherung dieses zweifelhaften Menschen gegen den Strich. Er wollte dem etwas entgegensetzen.“
„Was genau hatte er da geplant?“
„Keine Ahnung. Da müssen Sie Philipp Schwartz fragen, der organisiert die Veranstaltung. Er ist Pfarrer in der Neustädter Marienkirche.“
Kerkenbrock bedankte sich und fuhr zurück ins Präsidium. Bevor sie weiter Klinken putzen ging, wollte sie bei der KTU und der Gerichtsmedizin vorbei schauen. Vielleicht gab es schon neue Erkenntnisse.
Die Hakenkreuzfahne war auf höchst dilettantische Weise hergestellt worden. Die Experten erklärten, dass dies ein Hinweis darauf war, dass die Täter höchstwahrscheinlich nicht der rechten Szene zuzuordnen waren, denn richtige Nazis verwendeten richtige Fahnen und dumme Jugendliche, die so etwas selbst basteln mussten, hatten keine Ahnung von Luthers antisemitistischer Gesinnung, hatten vielleicht einmal etwas von 95 Thesen gehört und im besten Fall mitbekommen, dass die Reformation sich 2017 zum 500. Mal jährte, wären aber niemals auf das Wortspiel "95 Thesen – 95 Anschläge" gekommen, das in seiner Doppeldeutigkeit sowohl auf den Thesenanschlag als auch auf einen Anschlag im Sinne eines Gewaltverbrechens hinwies. Offenkundig hat der Täter oder hatten die Täter versucht, von den wahren Motiven abzulenken.
Es waren höchstwahrscheinlich exakt 95 Tintenfässer auf den Toten geschleudert worden.
Was die Todesursache betraf, hatte Konstanze sich nicht getäuscht. Der Pfarrer war mit einem dicken Ast bewusstlos geschlagen worden und zwar mit einer solchen Wucht, dass die darauf folgenden Blutungen sein Gehirn zerstört hatten. Die durch die Würfe mit Tintenfässern verursachten Hämatome wären allenfalls unangenehm, aber niemals tödlich gewesen.
Weil es schon spät war und sie Philipp Schwartz nicht erreichen konnte, verschob sie die weiteren Ermittlungen auf den nächsten Tag, an dem sie sich mit Stefan Keller beraten konnte.
Was ist hier passiert? Wer war das? Und warum? Über wilde Spekulationen würde ich mich mal wieder außerordentlich freuen, obwohl mir selbst das Ende der Geschichte natürlich schon bekannt ist :-)
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Dienstag, 11. April 2017
Gewitternacht
c. fabry, 15:28h
Da ich zur Zeit im Endspurt meines aktuellen Romans stecke, hier mal wieder eine Kostprobe aus "Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind"
Kriminalhauptkommissar Stefan Keller gönnte sich einen kurzen Spaziergang über den Nordhemmer Friedhof. Gleich musste er seine letzte Befragung durchführen und dann eine Stunde lang im Auto sitzen, da würde ihm etwas Bewegung vorher gut tun, denn hinterher käme er bestimmt nicht mehr dazu. Unter dem dramatischen Himmel mit den sich bedrohlich auftürmenden Wolken wirkte selbst dieser dem Kahlschlag zum Opfer gefallene Friedhof geheimnisvoll und schaurig. Die kriminaltechnische Untersuchung hatte ergeben, dass die Kinder hier auf dem Friedhof erschlagen worden waren; welch ein grausames Schicksal. Ein Blitz zuckte im Norden durch die Luft. Keller beeilte sich, zu seinem Auto zu kommen.
Nicht allzu überrascht öffnete die Jugendreferentin Katharina Förster ihre Wohnungstür.
„Ah, Herr Keller, das hatte ich mir doch fast gedacht, dass Sie mich sprechen wollten.“, erklärte sie. Sie trug ein sportliches Blusenkleid, das ihre weiblichen Rundungen ungewohnt betonte. Sie war zwar ungeschminkt und für eine junge Frau ihres Alters ziemlich Frisur-los, wirkte aber nicht ganz so graumäusig, wie Keller sie in Erinnerung hatte.
„Sie sind also über den Mord an den beiden Kindern informiert?“, fragte Keller.
„Ja, ich hatte heute Morgen ein Vorbereitungstreffen für die Ferienspiele und da hat man mir das erzählt. Anneliese Gieseking war ja eine der ersten, die bei Sigrid Röthemeier waren, nachdem sie die Leichen entdeckt hatte.“
„Und die Kinder wurden von Ihnen betreut?“
„Kommen Sie doch erst mal rein und setzen Sie sich. Das Gewitter kommt sowieso näher und gleich kommt sintflutartiger Regen, da können Sie eh' nicht zum Auto laufen, sonst sind Sie sofort klatschnass.“
Keller trat in die ihm vertraute Wohnung der Jugendreferentin, die er vor zwei Jahren mehrfach aufgesucht hatte, als er im Kirchenkreis Minden und vor allem in der Gemeinde Holzhausen II-Nordhemmern in mehreren Mordfällen ermittelt hatte. Katharina Förster war ihm hochgradig tatverdächtig erschienen, und er hatte auch ihr gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, doch dann hatte sie sich als äußerst hilfreiche Zeugin erwiesen und wäre beinahe selbst zum Mordopfer geworden. Die Wohnung hatte sich nicht verändert, zumindest nichts, was Keller aufgefallen wäre. Er nahm Platz auf der Couch vor dem noch immer fleckigen Teppich im gemütlichen Wohnzimmer und stellte seine Fragen.
„Also, Frau Förster, haben Sie die Kinder betreut?“
„So würde ich das nicht formulieren. Sie kamen regelmäßig zur Jungschar – das ist überwiegend für Kinder im Grundschulalter – im Holzhauser Gemeindehaus. Ich bin nur alle vierzehn Tage dabei, sonst leiten die Ehrenamtlichen das auch ohne mich.“
„Und welchen Eindruck hatten Sie von den beiden?“
„Aufgeweckt, lebhaft, zielorientiert und immer zu Streichen aufgelegt. Aber sie hatten auch eine kleine sadistische Ader.“
„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Keller.
„Ich meine nicht, dass sie unter einer pathologischen Persönlichkeitsstörung litten und andere Kinder in ihre verborgenen Folterkeller lockten, aber ihre Streich waren schon ziemlich gemein, und sie foppten am liebsten die, die sich am wenigsten zur Wehr setzen konnten. Dabei waren sie ziemlich durchtrieben, denn sie beherrschten es exzellent, den Erwachsenen ein Musterkind-Dasein vorzugaukeln, während sie anderen übel mitspielten. Flogen sie auf, nahmen sie es sportlich, entschuldigten sich bei ihrem Opfer und zeigten sich auch einsichtig, wenn man ihnen klar machte, dass sie den Bogen überspannt hatten. Vielleicht war das auch nur gespielt, aber ich vermute, sie liebten es, sich mit anderen einen Jux zu machen, allerdings wollten sie niemanden verletzen. Sie kommen beide aus intakten Familien, wurden geliebt, Anforderungen ausgesetzt, aber nicht überfordert, haben klare Strukturen erfahren, aber auch viele Freiheiten gehabt. Perfekte Bedingungen, unter denen ein Kind zu einem gesunden Menschen heranwachsen kann.“
„So sehen Sie die Elternhäuser?“
„Hatten Sie einen anderen Eindruck?“
„Ja. Mir kam alles so vor wie vorne hui, hinten Pfui. Nach außen die perfekte, heile Welt, aber auch ganz viel Leere und Lieblosigkeit.“
„Na ja, Tiemanns sind mächtige Prolos und Borcherdings extrem angepasst, das ist vielleicht nicht optimal, aber so sind die Deutschen eben. Wenn man auch so ist, kommt man klar und wird, wenn man nicht allzu viel nachdenkt, meistens glücklich.“
„Tja, so ist es wohl.“, seufzte Keller, und ein greller Blitz, gefolgt von einem gewaltigen Donner entlud sich in geringer Entfernung.
„Das ist ja infernalisch.“, staunte Keller.
„Die Wetterfrösche haben Gewitter-Stürme apokalyptischen Ausmaßes angekündigt.“, erklärte Katharina Förster. „Soll ich Ihnen zur Beruhigung einen Kräutertee kochen?“
„Unsinn!“, wehrte Keller ab und die Jugendreferentin grinste.
Dann fragte er weiter: „Ist Ihnen an den Kindern in letzter Zeit irgendeine Veränderung aufgefallen?“
„Nein, Was sollte mir denn aufgefallen sein?“
„Allgemeine Verhaltensänderungen, erhöhte Aggressivität oder Rückzug, Ängste, Hyperaktivität, was weiß ich.“
„Die waren bis zuletzt so frech und fröhlich wie immer. Aber ich sehe die Kinder auch nur einmal in vierzehn Tagen, maximal neunzig Minuten.“
Keller knurrte unzufrieden.
„Wollen Sie irgendetwas Bestimmtes hören?“, fragte Katharina Förster vorsichtig.
„Nein, nein.“, antwortete Keller. Wir haben da zum Teil merkwürdige Parallelen verschiedener Beobachtungen, was den Jungen betrifft, aber wenn ich Ihnen das erzähle und Sie es dann bestätigen, heißt es hinterher, ich hätte Sie manipuliert.“
Die junge Frau grübelte, was man an Sören Außergewöhnliches beobachten könnte, das gleich mehreren aufgefallen war. So, wie der Polizist herum druckste, konnte es sich ja eigentlich nur um den Verdacht handeln, dass Sören sexuell missbraucht worden war oder selber zum Täter geworden war oder beides. Aber wie kam er darauf? Sie kannte Inga Ludwig, die Grundschullehrerin, die war bestimmt keine hysterische Küchenkinderpsychologin, die hinter jeder Monsterzeichnung einen Kinderschänder witterte. Dann fragte sie gerade heraus: „Gibt es Hinweise auf sexuellen Missbrauch?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Weil Sie sich so beredt darüber ausschweigen, was an dem Jungen merkwürdiges aufgefallen ist. Ich selbst habe keinerlei Hinweise wahrgenommen.“
„Er hat eine Zeichnung angefertigt: eine Figur kniet vor einer anderen und macht schmatz schmatz.“
„Aber das kann doch alles Mögliche bedeuten.“
„Beim Kindersport hat er einem Jungen damit gedroht, ihm in den Mund zu urinieren.“
„Hat er das so formuliert?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Aber Kinder machen so etwas. Vor allem Jungs schocken gern rum mit markigen Sprüchen, dann fühlen sie sich gleich stärker. Haben Sie das als Junge nie getan?“
„Nein, nie.“
„Ach, kommen Sie! Bestimmt haben Sie es nur vergessen oder verdrängt. Ich wollte als Mädchen auch Prinzessin werden und vom strahlenden Prinzen aufs weiße Pferd gehoben werden.“
„Sie?!“, fragte Keller ungläubig.
„Natürlich.“, antwortete Katharina Förster. „Aber ich hatte auch Penisneid.“
„So genau wollte ich's gar nicht wissen.“
„Nicht?“
„Nein.“
„Auf jeden Fall kann es tausend Gründe für solche Zeichnungen geben: Im Gespräch mit Jugendlichen etwas aufgeschnappt oder am wahrscheinlichsten nachts heimlich ferngesehen oder Papas Porno-Sammlung gesichtet. Natürlich sind auch Jungen von solchen Bildern schockiert und kompensieren das, indem sie vor sich und anderen ihr schockiert Sein leugnen. Wenn sie erst so hart sind, dass sie über die brutalen Bilder lachen können, können die brutalen Bilder ihnen nichts mehr anhaben. Ich bin zwar nicht psychologisch qualifiziert, aber ich glaube, das ist ein uralter Mechanismus, den jeder schon einmal bei sich selbst erfahren hat.“
Jetzt prasselte der Regen so ohrenbetäubend aufs Dach, dass ein Gespräch in Zimmerlautstärke kaum noch möglich war.
„Wie lange geht das wohl noch so?“, fragte Keller und blickte nach draußen, wo die Regentropfen in den Pfützen Blasen schlugen, Sturzbäche die Straße hinunter schossen und der Sturm an den hohen Bäumen rüttelte, als wären es dürre Gräser.
„Die halbe Nacht.“, antwortete die Jugendreferentin. „Wo müssen Sie denn heute noch hin?“
„Nach Bielefeld.“
„Davon würde ich abraten. Da können Sie sich auch genauso gut mit einer Rolex am Handgelenk in ein Elendsviertel von Rio De Janeiro setzen.“
„Oder auf eine Parkbank in Duisburg Marxloh?“
„Ja, so ungefähr.“
„Aber wenn ich im Auto schlafe, kann ich auch genauso gut hier von einem Baum erschlagen werden, und ein Hotel gibt es meines Wissens in Nordhemmern nicht.“
„Sie können hier übernachten.“
„Das geht nicht.“
„Wollen Sie lieber sterben?“
„Ich will Ihnen nicht zur Last fallen.“
„Wollen Sie, dass einmal auf ihrem Grabstein steht: Er opferte sich, um niemandem zur Last zu fallen?“
„Ich will keinen Grabstein.“
„Friedwald?“
„Verbrennen und dann Seebestattung.“
„Oh, ein Romantiker.“
„Was soll denn daran romantisch sein? Man wird verfeuert, und die paar Krümel, die davon übrig bleiben, werden ins Meer geworfen wie eine Brausetablette ins Wasserglas. Man löst sich auf im Großen und Ganzen. Nagende Maden in brauner Erde und morschem Holz finde ich dagegen eklig und abstoßend.“
„Aber eigentlich ist es das Gleiche. Anstelle von Feuer zerlegen Kleinstlebewesen und Mikroorganismen Sie in Ihre Bestandteile. Es dauert nur etwas länger.“
„Jedenfalls denke ich, dass ich problemlos nach Hause fahren kann.“
„Als Polizist sollten Sie doch eigentlich wissen, dass so ein Verhalten verantwortungslos ist. Sie gefährden nicht nur sich selbst, sondern auch die, die sie im Falle eines nicht unwahrscheinlichen Unfalles retten müssen.“
„Jetzt haben Sie mich kalt erwischt.“
„Sehen Sie. Ich koche uns jetzt Spaghetti mit irgendeiner leckeren Sauce, Sie entspannen sich bei 'nem Glas Rotwein und ich überlasse Ihnen mein Bett.“
„Nein, keinesfalls!“, protestierte Keller. „Wenn, dann schlafe ich auf dem Sofa.“
„Auf meinem heiligen Sofa? Unterstehen Sie sich, das ist mein Revier. Mögen Sie Tomaten, Olivenöl, Knoblauch und frische Kräuter?“
„Ja, sicher.“
„Und was halten Sie von einem Montepulciano D'Abbruzzo in Bioqualität?“
„Großartig.“
„Gut, dann lege ich mal los. Falls Sie noch Fragen haben, fragen Sie.“
Keller folgte der jungen Frau in die Küche. „Ich hätte mal eine ganz andere Frage, und ich möchte nicht unverschämt erscheinen, aber dürfte ich Ihre Dusche benutzen? Ich bin ganz klebrig von dem schwülen Wetter heute.“
„Ja, natürlich.“, antwortete Katharina Förster. „Hinter der Tür mit dem bunten Poster ist das Bad.“
„Und hätten Sie auch ein Handtuch für mich?“
„Nein, Sie müssen den Fön benutzen.“, antwortete Katharina verschmitzt.
„Den Fön?“
„Ich verleihe grundsätzlich keine Handtücher an Polizisten. - Jetzt gucken Sie mich nicht an, als hätte ich Sie zum Tode verurteilt. Frische Handtücher liegen im Regal, bedienen Sie sich einfach. Sie können auch frische Wäsche von mir haben.“
„Wie bitte?“
„T-Shirts, die Männern passen habe ich genug. Witziger-weise habe ich sogar ein Paket Herrenslips, habe ich mal aus Versehen gekauft, und gemütliche Boxer-Shorts oder Jogginghosen habe ich auch. Ich würde Ihnen auch anbieten, Ihre Kleidung zu waschen, aber ich habe keinen Trockner.“
„Das ist auch wirklich nicht nötig. Vielleicht reicht es, wenn das Zeug über Nacht lüftet.“
„Warten Sie“, sie legte das Schneidemesser, mit dem sie gerade Tomaten zerkleinerte aus der Hand und wusch sich die Hände. „Ich suche Ihnen die Sachen zusammen. Ich kann ja schlecht gleich ins Bad stiefeln, wenn Sie unter der Dusche stehen.“
Keller räusperte sich verlegen. Nach ein paar Minuten kam sie mit einem Stapel sauberer Kleidung aus dem Schlafzimmer, drückte ihn Keller in die Hand und verschwand wieder in der Küche.
Das Bad war höchstens zehn Jahre alt, offensichtlich entstanden, als das Haus so umgebaut wurde, dass mehrere Parteien darin wohnen konnten. Neben einer Riesenbatterie an Kosmetika, die Keller bei dieser Frau niemals erwartet hätte, standen haufenweise schräge Deko-Artikel herum, und es hingen humoristische Postkarten an der Wand. Zum Duschen musste er in die Badewanne steigen, einen Vorhang gab es nicht, also setzte er sich. Zum Glück benutzte sie einfache Seife und kein Duschgel mit exotischem Blumenduft oder Fruchtaroma. Es war eine Wohltat, sich den öligen Film aus Staub und Schweiß herunter zu waschen und sich mit der sanften Massage des Duschstrahls die Muskeln zu lockern. Die frische Kleidung passte einigermaßen, wenn auch die Beine der Jogginghose etwas kurz waren, aber er sah nicht aus wie ein Idiot, sondern wie ein normaler Mann nach Feierabend. Seine angeschwitzte Kleidung unter dem Arm trat er wieder in die Küche. „Kann ich die Klamotten irgendwo aufhängen?“
„Im Kleiderschrank, im Schlafzimmer sind ein paar freie Bügel. Dann können Sie ihr Zeug einfach an den Schrank hängen. Wenn Sie wollen, können Sie sich das Bett selbst beziehen. Bettwäsche ist auch im Schrank.“
„Das ist nicht nötig. Ich kann doch auf Ihrem Sofa schlafen.“
„Kommt nicht in Frage.“
„Dann schlafe ich in Ihrer Bettwäsche.“
„Stehen Sie auf Mädchenschweiß?“
„Und wie!“
„Na, dann viel Vergnügen.“
Keller nahm sich einen Kleiderbügel aus dem vollen Schrank und vermied es, sich neugierig darin umzusehen. Er hängte seine Sachen ordentlich auf und sah sich kurz in dem Zimmer um: Ein breites Bett mit grauer Satin-Bettwäsche stand in einer Ecke des Raums, daneben ein Hocker, der als Nachttisch diente, aber nicht ausreichte, all die Bücher, die sie offensichtlich abwechselnd vor dem Einschlafen las, zu beherbergen. Ein einfaches Holzregal voller Stoffkörbe enthielt wohl das, was an Kleidung nicht mehr in den Schrank passte. Unter der Decke prangte ein riesiges Poster mit einem Bild wie aus einem Märchenbuch, auch sonst hingen viele Reproduktionen berühmter Kunstwerke an den Wänden. Er ging wieder in die Küche.
„Das Poster über Ihrem Bett, entführt Sie das in romantische Märchenprinzessinnen-Träume?“, fragte er.
Sie reichte ihm ein Glas Wein und nahm selbst einen Schluck, dann sagte sie: „Das ist Bruchtal, das Reich Elronds, eines Elbenfürsten in der Geschichte 'Der Herr der Ringe'. Kennen Sie die Filme nicht?“
„Hat mich nie interessiert. Ich hab's nicht so mit Märchen.“
„Das ist kein Märchen. Die Romanvorlage ist Weltliteratur und gilt als Begründung des Fantasy-Genres. Allerdings geht mir der ganze Fantasy-Quatsch auch auf die Nerven, nur platte Effekthascherei. Aber Tolkien war ein Genie. Der war Wissenschaftler und hat vierzig Jahre an den Büchern gearbeitet. Die Geschichte ist absolut zeitlos, wie die Bibel.“
„Sie finden die Bibel ist zeitlos?“
„Wenn man sie nicht zu wörtlich nimmt, sich mit den Hintergründen beschäftigt und es versteht, zwischen den Zeilen zu lesen, schon. - Schmeckt Ihnen der Wein?“
„Der ist ziemlich lecker.“
„Das Essen ist auch fertig. Setzen wir uns gleich hier in die Küche? Das ist zum Essen bequemer als auf der Couch.“
„Das sehe ich auch so.“
Keller hatte noch nie Spaghetti mit kalter Tomatensauce gekostet, aber es schmeckte herrlich aromatisch, die Nudeln waren bissfest, nicht zu hart und klebten nicht. Es gab knackigen, grünen Salat dazu, und der Wein war wirklich eine Wohltat. Er lobte Katharina Försters Kochkünste und half ihr anschließend beim Spülen. Der Wein entspannte ihn nicht nur, sondern regte auch seine Sinne an. Die junge Frau erschien ihm plötzlich gar nicht mehr so spröde, sondern fast schon anmutig, und hin und wieder stieg ihm ein Hauch ihres Duftes in die Nase, kein Parfum, aber trotzdem frisch und natürlich. Er musste sich konzentrieren, um nicht instinktiv näher an sie heran zu rücken.
„Ich würde ja jetzt Fernsehen vorschlagen“, sagte die Jugendreferentin, „aber bei dem Inferno da draußen habe ich alles ausgestöpselt, wo der Blitz einschlagen kann. Setzen wir uns trotzdem ins Wohnzimmer? Ist irgendwie gemütlicher.“
„Meinetwegen.“, sagte Keller.
Sie nahmen den Wein mit, setzten sich beide aufs Sofa und Katharina Förster schenkte ihnen nach.
„Sie haben noch gar nicht zu Hause angerufen.“, stellte sie fest.
„Ich lebe allein.“, erklärte Keller. „Ich muss niemanden informieren.“
„Ja, das hat auch Vorteile.“, sagte Katharina. „Sie haben ja auch nicht gerade einen familienfreundlichen Beruf.“
„Das können Sie laut sagen. Aber Ihre Arbeitszeiten sind doch für ein geordnetes Familienleben auch nicht gerade förderlich, oder?“
„Ich glaube, solange die Kinder klein sind, ist das eher von Vorteil. Unsereins ist ja morgens meistens zu Hause. Wenn man dann mit jemandem zusammen ist, der normale Arbeitszeiten hat und beide nicht ganz voll erwerbstätig sind, kann man sich da ganz gut abwechseln. Das Problem ist eher, jemanden kennenzulernen. Die Männer in meinem beruflichen Umfeld heiraten meistens früh und sind auch größtenteils nicht nach meinem Geschmack. Ansonsten sehe ich tagein tagaus nur Kinder und Teenager. Ich stehe auch nicht auf diese chronisch besoffenen Dorf-Vereinsmeier, und jemanden in der Disco oder Kneipe aufzureißen, gehört ebenfalls nicht zu meinen Kernkompetenzen.“
Keller grinste. Dann sagte er: „Geht mir ähnlich. Seit meiner Scheidung vor acht Jahren sehe ich nur noch zu, dass ich meine Arbeitswoche vernünftig über die Bühne bringe, und dann hänge ich zu Hause 'rum.“
„Haben Sie Kinder?“, fragte Katharina Förster.
„Einen Sohn.“, antwortete Keller. „Aber der ist schon erwachsen.“
„Haben Sie denn noch Kontakt zu ihm?“
„Selten.“
„Und was macht er so?“
„Er ist Physiotherapeut. Kommt mehr nach seiner Mutter, die ist Krankenschwester.“
„Da könnten Sie doch seinen Service häufiger in Anspruch nehmen.“
Wie meinen Sie das?“
„Massagen und so.“
„Mach ich einen verkrampften Eindruck auf Sie?“
„Nein, aber etwas angespannt wirken Sie schon. Darf ich mal?“
Vorsichtig begann die Jugendreferentin, Kellers Schultern abzutasten.“
„Was machen Sie da?“, fragte er irritiert.
„Ich fühle, ob da Verspannungen sind.“
„Und?“
„Sieht ganz so aus.“
„Haben Sie etwa auch mal als Physiotherapeutin gearbeitet?“
„Nein, aber in meinem letzten Leben war ich eine große Schamanin.“
„Wie bitte?“
„Ach nee, die Nummer zieht ja nur bei den Esoterik-Fuzzis.“ Katharina Förster kicherte. Dann sagte sie: „Ich habe selbst oft Muskelverspannungen, und im Studium hatte ich ein paar Freundinnen und Freunde, mit denen ich mich gegenseitig massiert habe. Mit der Zeit bekommt man ein Gespür dafür. So eine leicht verspannte Rückenmuskulatur kann man damit schon lockern. Könnten Sie sich etwas zur Seite drehen? Dann muss ich mich nicht so verrenken.“
Keller gehorchte, ließ den Oberkörper ein wenig nach vorn fallen und genoss die sanfte Knet- und Klopfmassage an seinen Schulterblättern und entlang der Wirbelsäulen-Muskulatur. Sie schien gar nicht müde zu werden, und eine Welle wohliger Schauer breitete sich von seinem Rücken über den gesamten Körper aus. Als sie irgendwann sagte: „So, jetzt kann ich nicht mehr.“ und wieder zum Weinglas griff, bedankte er sich und sagte: „Nachdem Sie so ausdauernd meine Muskeln gelockert haben, müsste ich mich eigentlich revanchieren. Ich bin aber nicht sicher, ob ich das kann.“
„Da kann man nicht viel falsch machen.“, erklärte sie. „Sie dürfen nur nicht direkt auf der Wirbelsäule herum drücken, aber die Muskelstränge, auch die über den Rippen, kann man nach Herzenslust bearbeiten.“ Sie drehte ihm den Rücken zu und ließ die schulterlangen Haare nach vorn hängen. „Nur zu, trauen Sie sich. Ich schreie schon rechtzeitig, wenn's weh tut.“
Er begann vorsichtig, mit den Fingerspitzen ihre Schulterblätter zu kneten und fuhr dann mit den Daumen rechts und links der Wirbelsäule entlang. Die restlichen Finger glitten dabei sanft über ihre Seiten und er bemerkte, wie sie kurz den Atem anhielt. Er hielt inne. „Hab' ich was falsch gemacht?“
„Nein, nein, alles gut.“
Er setzte die Massage fort und beobachtete das heftige Pochen ihrer Halsschlagader. Sie war mindestens zwanzig Jahre jünger als er, ihre Haut war glatt und weich und roch nach unverbrauchter Jugend und das, was er mit den Händen ertastete, fühlte sich fest und wohlgeformt an. Seine Schläfen schienen plötzlich im gleichen Rhythmus zu pochen wie ihre Halsschlagader. Wie lange hatte er keine Frau mehr im Arm gehalten? Und diese hier erschien ihm so sanft und hingebungsvoll. Die gezielten Massagegriffe waren längst in zärtliches Streicheln übergegangen, und sie wich ihm nicht aus, sondern lehnte sich, im Gegenteil, zurück und schmiegte sich in seine Arme. Er begann vorsichtig, ihren Hals zu küssen und über ihre Brüste zu streicheln.
Nachher wusste er nicht einmal mehr, wie sie ins Schlafzimmer gelangt waren und wie und wo sie sich unterwegs ihrer Kleidung entledigt hatten. Er erinnerte sich dunkel an einen Wortwechsel über Empfängnis-Verhütung und AIDS-Prävention, und sie hatten beides verworfen, weil sie beteuerte, sich in einer unfruchtbaren Phase zu befinden und beide seit vielen Jahren keinen Sexualpartner gehabt hatten und auch nie promiskuitiv gewesen waren. Auf einmal hatte das Leben einen neuen Glanz und entzückt warf er einen Blick auf die schlafende Elfe, in deren Bett er lag, bevor er sich auf die Seite rollte und in einen tiefen traumlosen Schlaf sank.
Kriminalhauptkommissar Stefan Keller gönnte sich einen kurzen Spaziergang über den Nordhemmer Friedhof. Gleich musste er seine letzte Befragung durchführen und dann eine Stunde lang im Auto sitzen, da würde ihm etwas Bewegung vorher gut tun, denn hinterher käme er bestimmt nicht mehr dazu. Unter dem dramatischen Himmel mit den sich bedrohlich auftürmenden Wolken wirkte selbst dieser dem Kahlschlag zum Opfer gefallene Friedhof geheimnisvoll und schaurig. Die kriminaltechnische Untersuchung hatte ergeben, dass die Kinder hier auf dem Friedhof erschlagen worden waren; welch ein grausames Schicksal. Ein Blitz zuckte im Norden durch die Luft. Keller beeilte sich, zu seinem Auto zu kommen.
Nicht allzu überrascht öffnete die Jugendreferentin Katharina Förster ihre Wohnungstür.
„Ah, Herr Keller, das hatte ich mir doch fast gedacht, dass Sie mich sprechen wollten.“, erklärte sie. Sie trug ein sportliches Blusenkleid, das ihre weiblichen Rundungen ungewohnt betonte. Sie war zwar ungeschminkt und für eine junge Frau ihres Alters ziemlich Frisur-los, wirkte aber nicht ganz so graumäusig, wie Keller sie in Erinnerung hatte.
„Sie sind also über den Mord an den beiden Kindern informiert?“, fragte Keller.
„Ja, ich hatte heute Morgen ein Vorbereitungstreffen für die Ferienspiele und da hat man mir das erzählt. Anneliese Gieseking war ja eine der ersten, die bei Sigrid Röthemeier waren, nachdem sie die Leichen entdeckt hatte.“
„Und die Kinder wurden von Ihnen betreut?“
„Kommen Sie doch erst mal rein und setzen Sie sich. Das Gewitter kommt sowieso näher und gleich kommt sintflutartiger Regen, da können Sie eh' nicht zum Auto laufen, sonst sind Sie sofort klatschnass.“
Keller trat in die ihm vertraute Wohnung der Jugendreferentin, die er vor zwei Jahren mehrfach aufgesucht hatte, als er im Kirchenkreis Minden und vor allem in der Gemeinde Holzhausen II-Nordhemmern in mehreren Mordfällen ermittelt hatte. Katharina Förster war ihm hochgradig tatverdächtig erschienen, und er hatte auch ihr gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, doch dann hatte sie sich als äußerst hilfreiche Zeugin erwiesen und wäre beinahe selbst zum Mordopfer geworden. Die Wohnung hatte sich nicht verändert, zumindest nichts, was Keller aufgefallen wäre. Er nahm Platz auf der Couch vor dem noch immer fleckigen Teppich im gemütlichen Wohnzimmer und stellte seine Fragen.
„Also, Frau Förster, haben Sie die Kinder betreut?“
„So würde ich das nicht formulieren. Sie kamen regelmäßig zur Jungschar – das ist überwiegend für Kinder im Grundschulalter – im Holzhauser Gemeindehaus. Ich bin nur alle vierzehn Tage dabei, sonst leiten die Ehrenamtlichen das auch ohne mich.“
„Und welchen Eindruck hatten Sie von den beiden?“
„Aufgeweckt, lebhaft, zielorientiert und immer zu Streichen aufgelegt. Aber sie hatten auch eine kleine sadistische Ader.“
„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Keller.
„Ich meine nicht, dass sie unter einer pathologischen Persönlichkeitsstörung litten und andere Kinder in ihre verborgenen Folterkeller lockten, aber ihre Streich waren schon ziemlich gemein, und sie foppten am liebsten die, die sich am wenigsten zur Wehr setzen konnten. Dabei waren sie ziemlich durchtrieben, denn sie beherrschten es exzellent, den Erwachsenen ein Musterkind-Dasein vorzugaukeln, während sie anderen übel mitspielten. Flogen sie auf, nahmen sie es sportlich, entschuldigten sich bei ihrem Opfer und zeigten sich auch einsichtig, wenn man ihnen klar machte, dass sie den Bogen überspannt hatten. Vielleicht war das auch nur gespielt, aber ich vermute, sie liebten es, sich mit anderen einen Jux zu machen, allerdings wollten sie niemanden verletzen. Sie kommen beide aus intakten Familien, wurden geliebt, Anforderungen ausgesetzt, aber nicht überfordert, haben klare Strukturen erfahren, aber auch viele Freiheiten gehabt. Perfekte Bedingungen, unter denen ein Kind zu einem gesunden Menschen heranwachsen kann.“
„So sehen Sie die Elternhäuser?“
„Hatten Sie einen anderen Eindruck?“
„Ja. Mir kam alles so vor wie vorne hui, hinten Pfui. Nach außen die perfekte, heile Welt, aber auch ganz viel Leere und Lieblosigkeit.“
„Na ja, Tiemanns sind mächtige Prolos und Borcherdings extrem angepasst, das ist vielleicht nicht optimal, aber so sind die Deutschen eben. Wenn man auch so ist, kommt man klar und wird, wenn man nicht allzu viel nachdenkt, meistens glücklich.“
„Tja, so ist es wohl.“, seufzte Keller, und ein greller Blitz, gefolgt von einem gewaltigen Donner entlud sich in geringer Entfernung.
„Das ist ja infernalisch.“, staunte Keller.
„Die Wetterfrösche haben Gewitter-Stürme apokalyptischen Ausmaßes angekündigt.“, erklärte Katharina Förster. „Soll ich Ihnen zur Beruhigung einen Kräutertee kochen?“
„Unsinn!“, wehrte Keller ab und die Jugendreferentin grinste.
Dann fragte er weiter: „Ist Ihnen an den Kindern in letzter Zeit irgendeine Veränderung aufgefallen?“
„Nein, Was sollte mir denn aufgefallen sein?“
„Allgemeine Verhaltensänderungen, erhöhte Aggressivität oder Rückzug, Ängste, Hyperaktivität, was weiß ich.“
„Die waren bis zuletzt so frech und fröhlich wie immer. Aber ich sehe die Kinder auch nur einmal in vierzehn Tagen, maximal neunzig Minuten.“
Keller knurrte unzufrieden.
„Wollen Sie irgendetwas Bestimmtes hören?“, fragte Katharina Förster vorsichtig.
„Nein, nein.“, antwortete Keller. Wir haben da zum Teil merkwürdige Parallelen verschiedener Beobachtungen, was den Jungen betrifft, aber wenn ich Ihnen das erzähle und Sie es dann bestätigen, heißt es hinterher, ich hätte Sie manipuliert.“
Die junge Frau grübelte, was man an Sören Außergewöhnliches beobachten könnte, das gleich mehreren aufgefallen war. So, wie der Polizist herum druckste, konnte es sich ja eigentlich nur um den Verdacht handeln, dass Sören sexuell missbraucht worden war oder selber zum Täter geworden war oder beides. Aber wie kam er darauf? Sie kannte Inga Ludwig, die Grundschullehrerin, die war bestimmt keine hysterische Küchenkinderpsychologin, die hinter jeder Monsterzeichnung einen Kinderschänder witterte. Dann fragte sie gerade heraus: „Gibt es Hinweise auf sexuellen Missbrauch?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Weil Sie sich so beredt darüber ausschweigen, was an dem Jungen merkwürdiges aufgefallen ist. Ich selbst habe keinerlei Hinweise wahrgenommen.“
„Er hat eine Zeichnung angefertigt: eine Figur kniet vor einer anderen und macht schmatz schmatz.“
„Aber das kann doch alles Mögliche bedeuten.“
„Beim Kindersport hat er einem Jungen damit gedroht, ihm in den Mund zu urinieren.“
„Hat er das so formuliert?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Aber Kinder machen so etwas. Vor allem Jungs schocken gern rum mit markigen Sprüchen, dann fühlen sie sich gleich stärker. Haben Sie das als Junge nie getan?“
„Nein, nie.“
„Ach, kommen Sie! Bestimmt haben Sie es nur vergessen oder verdrängt. Ich wollte als Mädchen auch Prinzessin werden und vom strahlenden Prinzen aufs weiße Pferd gehoben werden.“
„Sie?!“, fragte Keller ungläubig.
„Natürlich.“, antwortete Katharina Förster. „Aber ich hatte auch Penisneid.“
„So genau wollte ich's gar nicht wissen.“
„Nicht?“
„Nein.“
„Auf jeden Fall kann es tausend Gründe für solche Zeichnungen geben: Im Gespräch mit Jugendlichen etwas aufgeschnappt oder am wahrscheinlichsten nachts heimlich ferngesehen oder Papas Porno-Sammlung gesichtet. Natürlich sind auch Jungen von solchen Bildern schockiert und kompensieren das, indem sie vor sich und anderen ihr schockiert Sein leugnen. Wenn sie erst so hart sind, dass sie über die brutalen Bilder lachen können, können die brutalen Bilder ihnen nichts mehr anhaben. Ich bin zwar nicht psychologisch qualifiziert, aber ich glaube, das ist ein uralter Mechanismus, den jeder schon einmal bei sich selbst erfahren hat.“
Jetzt prasselte der Regen so ohrenbetäubend aufs Dach, dass ein Gespräch in Zimmerlautstärke kaum noch möglich war.
„Wie lange geht das wohl noch so?“, fragte Keller und blickte nach draußen, wo die Regentropfen in den Pfützen Blasen schlugen, Sturzbäche die Straße hinunter schossen und der Sturm an den hohen Bäumen rüttelte, als wären es dürre Gräser.
„Die halbe Nacht.“, antwortete die Jugendreferentin. „Wo müssen Sie denn heute noch hin?“
„Nach Bielefeld.“
„Davon würde ich abraten. Da können Sie sich auch genauso gut mit einer Rolex am Handgelenk in ein Elendsviertel von Rio De Janeiro setzen.“
„Oder auf eine Parkbank in Duisburg Marxloh?“
„Ja, so ungefähr.“
„Aber wenn ich im Auto schlafe, kann ich auch genauso gut hier von einem Baum erschlagen werden, und ein Hotel gibt es meines Wissens in Nordhemmern nicht.“
„Sie können hier übernachten.“
„Das geht nicht.“
„Wollen Sie lieber sterben?“
„Ich will Ihnen nicht zur Last fallen.“
„Wollen Sie, dass einmal auf ihrem Grabstein steht: Er opferte sich, um niemandem zur Last zu fallen?“
„Ich will keinen Grabstein.“
„Friedwald?“
„Verbrennen und dann Seebestattung.“
„Oh, ein Romantiker.“
„Was soll denn daran romantisch sein? Man wird verfeuert, und die paar Krümel, die davon übrig bleiben, werden ins Meer geworfen wie eine Brausetablette ins Wasserglas. Man löst sich auf im Großen und Ganzen. Nagende Maden in brauner Erde und morschem Holz finde ich dagegen eklig und abstoßend.“
„Aber eigentlich ist es das Gleiche. Anstelle von Feuer zerlegen Kleinstlebewesen und Mikroorganismen Sie in Ihre Bestandteile. Es dauert nur etwas länger.“
„Jedenfalls denke ich, dass ich problemlos nach Hause fahren kann.“
„Als Polizist sollten Sie doch eigentlich wissen, dass so ein Verhalten verantwortungslos ist. Sie gefährden nicht nur sich selbst, sondern auch die, die sie im Falle eines nicht unwahrscheinlichen Unfalles retten müssen.“
„Jetzt haben Sie mich kalt erwischt.“
„Sehen Sie. Ich koche uns jetzt Spaghetti mit irgendeiner leckeren Sauce, Sie entspannen sich bei 'nem Glas Rotwein und ich überlasse Ihnen mein Bett.“
„Nein, keinesfalls!“, protestierte Keller. „Wenn, dann schlafe ich auf dem Sofa.“
„Auf meinem heiligen Sofa? Unterstehen Sie sich, das ist mein Revier. Mögen Sie Tomaten, Olivenöl, Knoblauch und frische Kräuter?“
„Ja, sicher.“
„Und was halten Sie von einem Montepulciano D'Abbruzzo in Bioqualität?“
„Großartig.“
„Gut, dann lege ich mal los. Falls Sie noch Fragen haben, fragen Sie.“
Keller folgte der jungen Frau in die Küche. „Ich hätte mal eine ganz andere Frage, und ich möchte nicht unverschämt erscheinen, aber dürfte ich Ihre Dusche benutzen? Ich bin ganz klebrig von dem schwülen Wetter heute.“
„Ja, natürlich.“, antwortete Katharina Förster. „Hinter der Tür mit dem bunten Poster ist das Bad.“
„Und hätten Sie auch ein Handtuch für mich?“
„Nein, Sie müssen den Fön benutzen.“, antwortete Katharina verschmitzt.
„Den Fön?“
„Ich verleihe grundsätzlich keine Handtücher an Polizisten. - Jetzt gucken Sie mich nicht an, als hätte ich Sie zum Tode verurteilt. Frische Handtücher liegen im Regal, bedienen Sie sich einfach. Sie können auch frische Wäsche von mir haben.“
„Wie bitte?“
„T-Shirts, die Männern passen habe ich genug. Witziger-weise habe ich sogar ein Paket Herrenslips, habe ich mal aus Versehen gekauft, und gemütliche Boxer-Shorts oder Jogginghosen habe ich auch. Ich würde Ihnen auch anbieten, Ihre Kleidung zu waschen, aber ich habe keinen Trockner.“
„Das ist auch wirklich nicht nötig. Vielleicht reicht es, wenn das Zeug über Nacht lüftet.“
„Warten Sie“, sie legte das Schneidemesser, mit dem sie gerade Tomaten zerkleinerte aus der Hand und wusch sich die Hände. „Ich suche Ihnen die Sachen zusammen. Ich kann ja schlecht gleich ins Bad stiefeln, wenn Sie unter der Dusche stehen.“
Keller räusperte sich verlegen. Nach ein paar Minuten kam sie mit einem Stapel sauberer Kleidung aus dem Schlafzimmer, drückte ihn Keller in die Hand und verschwand wieder in der Küche.
Das Bad war höchstens zehn Jahre alt, offensichtlich entstanden, als das Haus so umgebaut wurde, dass mehrere Parteien darin wohnen konnten. Neben einer Riesenbatterie an Kosmetika, die Keller bei dieser Frau niemals erwartet hätte, standen haufenweise schräge Deko-Artikel herum, und es hingen humoristische Postkarten an der Wand. Zum Duschen musste er in die Badewanne steigen, einen Vorhang gab es nicht, also setzte er sich. Zum Glück benutzte sie einfache Seife und kein Duschgel mit exotischem Blumenduft oder Fruchtaroma. Es war eine Wohltat, sich den öligen Film aus Staub und Schweiß herunter zu waschen und sich mit der sanften Massage des Duschstrahls die Muskeln zu lockern. Die frische Kleidung passte einigermaßen, wenn auch die Beine der Jogginghose etwas kurz waren, aber er sah nicht aus wie ein Idiot, sondern wie ein normaler Mann nach Feierabend. Seine angeschwitzte Kleidung unter dem Arm trat er wieder in die Küche. „Kann ich die Klamotten irgendwo aufhängen?“
„Im Kleiderschrank, im Schlafzimmer sind ein paar freie Bügel. Dann können Sie ihr Zeug einfach an den Schrank hängen. Wenn Sie wollen, können Sie sich das Bett selbst beziehen. Bettwäsche ist auch im Schrank.“
„Das ist nicht nötig. Ich kann doch auf Ihrem Sofa schlafen.“
„Kommt nicht in Frage.“
„Dann schlafe ich in Ihrer Bettwäsche.“
„Stehen Sie auf Mädchenschweiß?“
„Und wie!“
„Na, dann viel Vergnügen.“
Keller nahm sich einen Kleiderbügel aus dem vollen Schrank und vermied es, sich neugierig darin umzusehen. Er hängte seine Sachen ordentlich auf und sah sich kurz in dem Zimmer um: Ein breites Bett mit grauer Satin-Bettwäsche stand in einer Ecke des Raums, daneben ein Hocker, der als Nachttisch diente, aber nicht ausreichte, all die Bücher, die sie offensichtlich abwechselnd vor dem Einschlafen las, zu beherbergen. Ein einfaches Holzregal voller Stoffkörbe enthielt wohl das, was an Kleidung nicht mehr in den Schrank passte. Unter der Decke prangte ein riesiges Poster mit einem Bild wie aus einem Märchenbuch, auch sonst hingen viele Reproduktionen berühmter Kunstwerke an den Wänden. Er ging wieder in die Küche.
„Das Poster über Ihrem Bett, entführt Sie das in romantische Märchenprinzessinnen-Träume?“, fragte er.
Sie reichte ihm ein Glas Wein und nahm selbst einen Schluck, dann sagte sie: „Das ist Bruchtal, das Reich Elronds, eines Elbenfürsten in der Geschichte 'Der Herr der Ringe'. Kennen Sie die Filme nicht?“
„Hat mich nie interessiert. Ich hab's nicht so mit Märchen.“
„Das ist kein Märchen. Die Romanvorlage ist Weltliteratur und gilt als Begründung des Fantasy-Genres. Allerdings geht mir der ganze Fantasy-Quatsch auch auf die Nerven, nur platte Effekthascherei. Aber Tolkien war ein Genie. Der war Wissenschaftler und hat vierzig Jahre an den Büchern gearbeitet. Die Geschichte ist absolut zeitlos, wie die Bibel.“
„Sie finden die Bibel ist zeitlos?“
„Wenn man sie nicht zu wörtlich nimmt, sich mit den Hintergründen beschäftigt und es versteht, zwischen den Zeilen zu lesen, schon. - Schmeckt Ihnen der Wein?“
„Der ist ziemlich lecker.“
„Das Essen ist auch fertig. Setzen wir uns gleich hier in die Küche? Das ist zum Essen bequemer als auf der Couch.“
„Das sehe ich auch so.“
Keller hatte noch nie Spaghetti mit kalter Tomatensauce gekostet, aber es schmeckte herrlich aromatisch, die Nudeln waren bissfest, nicht zu hart und klebten nicht. Es gab knackigen, grünen Salat dazu, und der Wein war wirklich eine Wohltat. Er lobte Katharina Försters Kochkünste und half ihr anschließend beim Spülen. Der Wein entspannte ihn nicht nur, sondern regte auch seine Sinne an. Die junge Frau erschien ihm plötzlich gar nicht mehr so spröde, sondern fast schon anmutig, und hin und wieder stieg ihm ein Hauch ihres Duftes in die Nase, kein Parfum, aber trotzdem frisch und natürlich. Er musste sich konzentrieren, um nicht instinktiv näher an sie heran zu rücken.
„Ich würde ja jetzt Fernsehen vorschlagen“, sagte die Jugendreferentin, „aber bei dem Inferno da draußen habe ich alles ausgestöpselt, wo der Blitz einschlagen kann. Setzen wir uns trotzdem ins Wohnzimmer? Ist irgendwie gemütlicher.“
„Meinetwegen.“, sagte Keller.
Sie nahmen den Wein mit, setzten sich beide aufs Sofa und Katharina Förster schenkte ihnen nach.
„Sie haben noch gar nicht zu Hause angerufen.“, stellte sie fest.
„Ich lebe allein.“, erklärte Keller. „Ich muss niemanden informieren.“
„Ja, das hat auch Vorteile.“, sagte Katharina. „Sie haben ja auch nicht gerade einen familienfreundlichen Beruf.“
„Das können Sie laut sagen. Aber Ihre Arbeitszeiten sind doch für ein geordnetes Familienleben auch nicht gerade förderlich, oder?“
„Ich glaube, solange die Kinder klein sind, ist das eher von Vorteil. Unsereins ist ja morgens meistens zu Hause. Wenn man dann mit jemandem zusammen ist, der normale Arbeitszeiten hat und beide nicht ganz voll erwerbstätig sind, kann man sich da ganz gut abwechseln. Das Problem ist eher, jemanden kennenzulernen. Die Männer in meinem beruflichen Umfeld heiraten meistens früh und sind auch größtenteils nicht nach meinem Geschmack. Ansonsten sehe ich tagein tagaus nur Kinder und Teenager. Ich stehe auch nicht auf diese chronisch besoffenen Dorf-Vereinsmeier, und jemanden in der Disco oder Kneipe aufzureißen, gehört ebenfalls nicht zu meinen Kernkompetenzen.“
Keller grinste. Dann sagte er: „Geht mir ähnlich. Seit meiner Scheidung vor acht Jahren sehe ich nur noch zu, dass ich meine Arbeitswoche vernünftig über die Bühne bringe, und dann hänge ich zu Hause 'rum.“
„Haben Sie Kinder?“, fragte Katharina Förster.
„Einen Sohn.“, antwortete Keller. „Aber der ist schon erwachsen.“
„Haben Sie denn noch Kontakt zu ihm?“
„Selten.“
„Und was macht er so?“
„Er ist Physiotherapeut. Kommt mehr nach seiner Mutter, die ist Krankenschwester.“
„Da könnten Sie doch seinen Service häufiger in Anspruch nehmen.“
Wie meinen Sie das?“
„Massagen und so.“
„Mach ich einen verkrampften Eindruck auf Sie?“
„Nein, aber etwas angespannt wirken Sie schon. Darf ich mal?“
Vorsichtig begann die Jugendreferentin, Kellers Schultern abzutasten.“
„Was machen Sie da?“, fragte er irritiert.
„Ich fühle, ob da Verspannungen sind.“
„Und?“
„Sieht ganz so aus.“
„Haben Sie etwa auch mal als Physiotherapeutin gearbeitet?“
„Nein, aber in meinem letzten Leben war ich eine große Schamanin.“
„Wie bitte?“
„Ach nee, die Nummer zieht ja nur bei den Esoterik-Fuzzis.“ Katharina Förster kicherte. Dann sagte sie: „Ich habe selbst oft Muskelverspannungen, und im Studium hatte ich ein paar Freundinnen und Freunde, mit denen ich mich gegenseitig massiert habe. Mit der Zeit bekommt man ein Gespür dafür. So eine leicht verspannte Rückenmuskulatur kann man damit schon lockern. Könnten Sie sich etwas zur Seite drehen? Dann muss ich mich nicht so verrenken.“
Keller gehorchte, ließ den Oberkörper ein wenig nach vorn fallen und genoss die sanfte Knet- und Klopfmassage an seinen Schulterblättern und entlang der Wirbelsäulen-Muskulatur. Sie schien gar nicht müde zu werden, und eine Welle wohliger Schauer breitete sich von seinem Rücken über den gesamten Körper aus. Als sie irgendwann sagte: „So, jetzt kann ich nicht mehr.“ und wieder zum Weinglas griff, bedankte er sich und sagte: „Nachdem Sie so ausdauernd meine Muskeln gelockert haben, müsste ich mich eigentlich revanchieren. Ich bin aber nicht sicher, ob ich das kann.“
„Da kann man nicht viel falsch machen.“, erklärte sie. „Sie dürfen nur nicht direkt auf der Wirbelsäule herum drücken, aber die Muskelstränge, auch die über den Rippen, kann man nach Herzenslust bearbeiten.“ Sie drehte ihm den Rücken zu und ließ die schulterlangen Haare nach vorn hängen. „Nur zu, trauen Sie sich. Ich schreie schon rechtzeitig, wenn's weh tut.“
Er begann vorsichtig, mit den Fingerspitzen ihre Schulterblätter zu kneten und fuhr dann mit den Daumen rechts und links der Wirbelsäule entlang. Die restlichen Finger glitten dabei sanft über ihre Seiten und er bemerkte, wie sie kurz den Atem anhielt. Er hielt inne. „Hab' ich was falsch gemacht?“
„Nein, nein, alles gut.“
Er setzte die Massage fort und beobachtete das heftige Pochen ihrer Halsschlagader. Sie war mindestens zwanzig Jahre jünger als er, ihre Haut war glatt und weich und roch nach unverbrauchter Jugend und das, was er mit den Händen ertastete, fühlte sich fest und wohlgeformt an. Seine Schläfen schienen plötzlich im gleichen Rhythmus zu pochen wie ihre Halsschlagader. Wie lange hatte er keine Frau mehr im Arm gehalten? Und diese hier erschien ihm so sanft und hingebungsvoll. Die gezielten Massagegriffe waren längst in zärtliches Streicheln übergegangen, und sie wich ihm nicht aus, sondern lehnte sich, im Gegenteil, zurück und schmiegte sich in seine Arme. Er begann vorsichtig, ihren Hals zu küssen und über ihre Brüste zu streicheln.
Nachher wusste er nicht einmal mehr, wie sie ins Schlafzimmer gelangt waren und wie und wo sie sich unterwegs ihrer Kleidung entledigt hatten. Er erinnerte sich dunkel an einen Wortwechsel über Empfängnis-Verhütung und AIDS-Prävention, und sie hatten beides verworfen, weil sie beteuerte, sich in einer unfruchtbaren Phase zu befinden und beide seit vielen Jahren keinen Sexualpartner gehabt hatten und auch nie promiskuitiv gewesen waren. Auf einmal hatte das Leben einen neuen Glanz und entzückt warf er einen Blick auf die schlafende Elfe, in deren Bett er lag, bevor er sich auf die Seite rollte und in einen tiefen traumlosen Schlaf sank.
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