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Dienstag, 11. April 2017
Gewitternacht
c. fabry, 15:28h
Da ich zur Zeit im Endspurt meines aktuellen Romans stecke, hier mal wieder eine Kostprobe aus "Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind"
Kriminalhauptkommissar Stefan Keller gönnte sich einen kurzen Spaziergang über den Nordhemmer Friedhof. Gleich musste er seine letzte Befragung durchführen und dann eine Stunde lang im Auto sitzen, da würde ihm etwas Bewegung vorher gut tun, denn hinterher käme er bestimmt nicht mehr dazu. Unter dem dramatischen Himmel mit den sich bedrohlich auftürmenden Wolken wirkte selbst dieser dem Kahlschlag zum Opfer gefallene Friedhof geheimnisvoll und schaurig. Die kriminaltechnische Untersuchung hatte ergeben, dass die Kinder hier auf dem Friedhof erschlagen worden waren; welch ein grausames Schicksal. Ein Blitz zuckte im Norden durch die Luft. Keller beeilte sich, zu seinem Auto zu kommen.
Nicht allzu überrascht öffnete die Jugendreferentin Katharina Förster ihre Wohnungstür.
„Ah, Herr Keller, das hatte ich mir doch fast gedacht, dass Sie mich sprechen wollten.“, erklärte sie. Sie trug ein sportliches Blusenkleid, das ihre weiblichen Rundungen ungewohnt betonte. Sie war zwar ungeschminkt und für eine junge Frau ihres Alters ziemlich Frisur-los, wirkte aber nicht ganz so graumäusig, wie Keller sie in Erinnerung hatte.
„Sie sind also über den Mord an den beiden Kindern informiert?“, fragte Keller.
„Ja, ich hatte heute Morgen ein Vorbereitungstreffen für die Ferienspiele und da hat man mir das erzählt. Anneliese Gieseking war ja eine der ersten, die bei Sigrid Röthemeier waren, nachdem sie die Leichen entdeckt hatte.“
„Und die Kinder wurden von Ihnen betreut?“
„Kommen Sie doch erst mal rein und setzen Sie sich. Das Gewitter kommt sowieso näher und gleich kommt sintflutartiger Regen, da können Sie eh' nicht zum Auto laufen, sonst sind Sie sofort klatschnass.“
Keller trat in die ihm vertraute Wohnung der Jugendreferentin, die er vor zwei Jahren mehrfach aufgesucht hatte, als er im Kirchenkreis Minden und vor allem in der Gemeinde Holzhausen II-Nordhemmern in mehreren Mordfällen ermittelt hatte. Katharina Förster war ihm hochgradig tatverdächtig erschienen, und er hatte auch ihr gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, doch dann hatte sie sich als äußerst hilfreiche Zeugin erwiesen und wäre beinahe selbst zum Mordopfer geworden. Die Wohnung hatte sich nicht verändert, zumindest nichts, was Keller aufgefallen wäre. Er nahm Platz auf der Couch vor dem noch immer fleckigen Teppich im gemütlichen Wohnzimmer und stellte seine Fragen.
„Also, Frau Förster, haben Sie die Kinder betreut?“
„So würde ich das nicht formulieren. Sie kamen regelmäßig zur Jungschar – das ist überwiegend für Kinder im Grundschulalter – im Holzhauser Gemeindehaus. Ich bin nur alle vierzehn Tage dabei, sonst leiten die Ehrenamtlichen das auch ohne mich.“
„Und welchen Eindruck hatten Sie von den beiden?“
„Aufgeweckt, lebhaft, zielorientiert und immer zu Streichen aufgelegt. Aber sie hatten auch eine kleine sadistische Ader.“
„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Keller.
„Ich meine nicht, dass sie unter einer pathologischen Persönlichkeitsstörung litten und andere Kinder in ihre verborgenen Folterkeller lockten, aber ihre Streich waren schon ziemlich gemein, und sie foppten am liebsten die, die sich am wenigsten zur Wehr setzen konnten. Dabei waren sie ziemlich durchtrieben, denn sie beherrschten es exzellent, den Erwachsenen ein Musterkind-Dasein vorzugaukeln, während sie anderen übel mitspielten. Flogen sie auf, nahmen sie es sportlich, entschuldigten sich bei ihrem Opfer und zeigten sich auch einsichtig, wenn man ihnen klar machte, dass sie den Bogen überspannt hatten. Vielleicht war das auch nur gespielt, aber ich vermute, sie liebten es, sich mit anderen einen Jux zu machen, allerdings wollten sie niemanden verletzen. Sie kommen beide aus intakten Familien, wurden geliebt, Anforderungen ausgesetzt, aber nicht überfordert, haben klare Strukturen erfahren, aber auch viele Freiheiten gehabt. Perfekte Bedingungen, unter denen ein Kind zu einem gesunden Menschen heranwachsen kann.“
„So sehen Sie die Elternhäuser?“
„Hatten Sie einen anderen Eindruck?“
„Ja. Mir kam alles so vor wie vorne hui, hinten Pfui. Nach außen die perfekte, heile Welt, aber auch ganz viel Leere und Lieblosigkeit.“
„Na ja, Tiemanns sind mächtige Prolos und Borcherdings extrem angepasst, das ist vielleicht nicht optimal, aber so sind die Deutschen eben. Wenn man auch so ist, kommt man klar und wird, wenn man nicht allzu viel nachdenkt, meistens glücklich.“
„Tja, so ist es wohl.“, seufzte Keller, und ein greller Blitz, gefolgt von einem gewaltigen Donner entlud sich in geringer Entfernung.
„Das ist ja infernalisch.“, staunte Keller.
„Die Wetterfrösche haben Gewitter-Stürme apokalyptischen Ausmaßes angekündigt.“, erklärte Katharina Förster. „Soll ich Ihnen zur Beruhigung einen Kräutertee kochen?“
„Unsinn!“, wehrte Keller ab und die Jugendreferentin grinste.
Dann fragte er weiter: „Ist Ihnen an den Kindern in letzter Zeit irgendeine Veränderung aufgefallen?“
„Nein, Was sollte mir denn aufgefallen sein?“
„Allgemeine Verhaltensänderungen, erhöhte Aggressivität oder Rückzug, Ängste, Hyperaktivität, was weiß ich.“
„Die waren bis zuletzt so frech und fröhlich wie immer. Aber ich sehe die Kinder auch nur einmal in vierzehn Tagen, maximal neunzig Minuten.“
Keller knurrte unzufrieden.
„Wollen Sie irgendetwas Bestimmtes hören?“, fragte Katharina Förster vorsichtig.
„Nein, nein.“, antwortete Keller. Wir haben da zum Teil merkwürdige Parallelen verschiedener Beobachtungen, was den Jungen betrifft, aber wenn ich Ihnen das erzähle und Sie es dann bestätigen, heißt es hinterher, ich hätte Sie manipuliert.“
Die junge Frau grübelte, was man an Sören Außergewöhnliches beobachten könnte, das gleich mehreren aufgefallen war. So, wie der Polizist herum druckste, konnte es sich ja eigentlich nur um den Verdacht handeln, dass Sören sexuell missbraucht worden war oder selber zum Täter geworden war oder beides. Aber wie kam er darauf? Sie kannte Inga Ludwig, die Grundschullehrerin, die war bestimmt keine hysterische Küchenkinderpsychologin, die hinter jeder Monsterzeichnung einen Kinderschänder witterte. Dann fragte sie gerade heraus: „Gibt es Hinweise auf sexuellen Missbrauch?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Weil Sie sich so beredt darüber ausschweigen, was an dem Jungen merkwürdiges aufgefallen ist. Ich selbst habe keinerlei Hinweise wahrgenommen.“
„Er hat eine Zeichnung angefertigt: eine Figur kniet vor einer anderen und macht schmatz schmatz.“
„Aber das kann doch alles Mögliche bedeuten.“
„Beim Kindersport hat er einem Jungen damit gedroht, ihm in den Mund zu urinieren.“
„Hat er das so formuliert?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Aber Kinder machen so etwas. Vor allem Jungs schocken gern rum mit markigen Sprüchen, dann fühlen sie sich gleich stärker. Haben Sie das als Junge nie getan?“
„Nein, nie.“
„Ach, kommen Sie! Bestimmt haben Sie es nur vergessen oder verdrängt. Ich wollte als Mädchen auch Prinzessin werden und vom strahlenden Prinzen aufs weiße Pferd gehoben werden.“
„Sie?!“, fragte Keller ungläubig.
„Natürlich.“, antwortete Katharina Förster. „Aber ich hatte auch Penisneid.“
„So genau wollte ich's gar nicht wissen.“
„Nicht?“
„Nein.“
„Auf jeden Fall kann es tausend Gründe für solche Zeichnungen geben: Im Gespräch mit Jugendlichen etwas aufgeschnappt oder am wahrscheinlichsten nachts heimlich ferngesehen oder Papas Porno-Sammlung gesichtet. Natürlich sind auch Jungen von solchen Bildern schockiert und kompensieren das, indem sie vor sich und anderen ihr schockiert Sein leugnen. Wenn sie erst so hart sind, dass sie über die brutalen Bilder lachen können, können die brutalen Bilder ihnen nichts mehr anhaben. Ich bin zwar nicht psychologisch qualifiziert, aber ich glaube, das ist ein uralter Mechanismus, den jeder schon einmal bei sich selbst erfahren hat.“
Jetzt prasselte der Regen so ohrenbetäubend aufs Dach, dass ein Gespräch in Zimmerlautstärke kaum noch möglich war.
„Wie lange geht das wohl noch so?“, fragte Keller und blickte nach draußen, wo die Regentropfen in den Pfützen Blasen schlugen, Sturzbäche die Straße hinunter schossen und der Sturm an den hohen Bäumen rüttelte, als wären es dürre Gräser.
„Die halbe Nacht.“, antwortete die Jugendreferentin. „Wo müssen Sie denn heute noch hin?“
„Nach Bielefeld.“
„Davon würde ich abraten. Da können Sie sich auch genauso gut mit einer Rolex am Handgelenk in ein Elendsviertel von Rio De Janeiro setzen.“
„Oder auf eine Parkbank in Duisburg Marxloh?“
„Ja, so ungefähr.“
„Aber wenn ich im Auto schlafe, kann ich auch genauso gut hier von einem Baum erschlagen werden, und ein Hotel gibt es meines Wissens in Nordhemmern nicht.“
„Sie können hier übernachten.“
„Das geht nicht.“
„Wollen Sie lieber sterben?“
„Ich will Ihnen nicht zur Last fallen.“
„Wollen Sie, dass einmal auf ihrem Grabstein steht: Er opferte sich, um niemandem zur Last zu fallen?“
„Ich will keinen Grabstein.“
„Friedwald?“
„Verbrennen und dann Seebestattung.“
„Oh, ein Romantiker.“
„Was soll denn daran romantisch sein? Man wird verfeuert, und die paar Krümel, die davon übrig bleiben, werden ins Meer geworfen wie eine Brausetablette ins Wasserglas. Man löst sich auf im Großen und Ganzen. Nagende Maden in brauner Erde und morschem Holz finde ich dagegen eklig und abstoßend.“
„Aber eigentlich ist es das Gleiche. Anstelle von Feuer zerlegen Kleinstlebewesen und Mikroorganismen Sie in Ihre Bestandteile. Es dauert nur etwas länger.“
„Jedenfalls denke ich, dass ich problemlos nach Hause fahren kann.“
„Als Polizist sollten Sie doch eigentlich wissen, dass so ein Verhalten verantwortungslos ist. Sie gefährden nicht nur sich selbst, sondern auch die, die sie im Falle eines nicht unwahrscheinlichen Unfalles retten müssen.“
„Jetzt haben Sie mich kalt erwischt.“
„Sehen Sie. Ich koche uns jetzt Spaghetti mit irgendeiner leckeren Sauce, Sie entspannen sich bei 'nem Glas Rotwein und ich überlasse Ihnen mein Bett.“
„Nein, keinesfalls!“, protestierte Keller. „Wenn, dann schlafe ich auf dem Sofa.“
„Auf meinem heiligen Sofa? Unterstehen Sie sich, das ist mein Revier. Mögen Sie Tomaten, Olivenöl, Knoblauch und frische Kräuter?“
„Ja, sicher.“
„Und was halten Sie von einem Montepulciano D'Abbruzzo in Bioqualität?“
„Großartig.“
„Gut, dann lege ich mal los. Falls Sie noch Fragen haben, fragen Sie.“
Keller folgte der jungen Frau in die Küche. „Ich hätte mal eine ganz andere Frage, und ich möchte nicht unverschämt erscheinen, aber dürfte ich Ihre Dusche benutzen? Ich bin ganz klebrig von dem schwülen Wetter heute.“
„Ja, natürlich.“, antwortete Katharina Förster. „Hinter der Tür mit dem bunten Poster ist das Bad.“
„Und hätten Sie auch ein Handtuch für mich?“
„Nein, Sie müssen den Fön benutzen.“, antwortete Katharina verschmitzt.
„Den Fön?“
„Ich verleihe grundsätzlich keine Handtücher an Polizisten. - Jetzt gucken Sie mich nicht an, als hätte ich Sie zum Tode verurteilt. Frische Handtücher liegen im Regal, bedienen Sie sich einfach. Sie können auch frische Wäsche von mir haben.“
„Wie bitte?“
„T-Shirts, die Männern passen habe ich genug. Witziger-weise habe ich sogar ein Paket Herrenslips, habe ich mal aus Versehen gekauft, und gemütliche Boxer-Shorts oder Jogginghosen habe ich auch. Ich würde Ihnen auch anbieten, Ihre Kleidung zu waschen, aber ich habe keinen Trockner.“
„Das ist auch wirklich nicht nötig. Vielleicht reicht es, wenn das Zeug über Nacht lüftet.“
„Warten Sie“, sie legte das Schneidemesser, mit dem sie gerade Tomaten zerkleinerte aus der Hand und wusch sich die Hände. „Ich suche Ihnen die Sachen zusammen. Ich kann ja schlecht gleich ins Bad stiefeln, wenn Sie unter der Dusche stehen.“
Keller räusperte sich verlegen. Nach ein paar Minuten kam sie mit einem Stapel sauberer Kleidung aus dem Schlafzimmer, drückte ihn Keller in die Hand und verschwand wieder in der Küche.
Das Bad war höchstens zehn Jahre alt, offensichtlich entstanden, als das Haus so umgebaut wurde, dass mehrere Parteien darin wohnen konnten. Neben einer Riesenbatterie an Kosmetika, die Keller bei dieser Frau niemals erwartet hätte, standen haufenweise schräge Deko-Artikel herum, und es hingen humoristische Postkarten an der Wand. Zum Duschen musste er in die Badewanne steigen, einen Vorhang gab es nicht, also setzte er sich. Zum Glück benutzte sie einfache Seife und kein Duschgel mit exotischem Blumenduft oder Fruchtaroma. Es war eine Wohltat, sich den öligen Film aus Staub und Schweiß herunter zu waschen und sich mit der sanften Massage des Duschstrahls die Muskeln zu lockern. Die frische Kleidung passte einigermaßen, wenn auch die Beine der Jogginghose etwas kurz waren, aber er sah nicht aus wie ein Idiot, sondern wie ein normaler Mann nach Feierabend. Seine angeschwitzte Kleidung unter dem Arm trat er wieder in die Küche. „Kann ich die Klamotten irgendwo aufhängen?“
„Im Kleiderschrank, im Schlafzimmer sind ein paar freie Bügel. Dann können Sie ihr Zeug einfach an den Schrank hängen. Wenn Sie wollen, können Sie sich das Bett selbst beziehen. Bettwäsche ist auch im Schrank.“
„Das ist nicht nötig. Ich kann doch auf Ihrem Sofa schlafen.“
„Kommt nicht in Frage.“
„Dann schlafe ich in Ihrer Bettwäsche.“
„Stehen Sie auf Mädchenschweiß?“
„Und wie!“
„Na, dann viel Vergnügen.“
Keller nahm sich einen Kleiderbügel aus dem vollen Schrank und vermied es, sich neugierig darin umzusehen. Er hängte seine Sachen ordentlich auf und sah sich kurz in dem Zimmer um: Ein breites Bett mit grauer Satin-Bettwäsche stand in einer Ecke des Raums, daneben ein Hocker, der als Nachttisch diente, aber nicht ausreichte, all die Bücher, die sie offensichtlich abwechselnd vor dem Einschlafen las, zu beherbergen. Ein einfaches Holzregal voller Stoffkörbe enthielt wohl das, was an Kleidung nicht mehr in den Schrank passte. Unter der Decke prangte ein riesiges Poster mit einem Bild wie aus einem Märchenbuch, auch sonst hingen viele Reproduktionen berühmter Kunstwerke an den Wänden. Er ging wieder in die Küche.
„Das Poster über Ihrem Bett, entführt Sie das in romantische Märchenprinzessinnen-Träume?“, fragte er.
Sie reichte ihm ein Glas Wein und nahm selbst einen Schluck, dann sagte sie: „Das ist Bruchtal, das Reich Elronds, eines Elbenfürsten in der Geschichte 'Der Herr der Ringe'. Kennen Sie die Filme nicht?“
„Hat mich nie interessiert. Ich hab's nicht so mit Märchen.“
„Das ist kein Märchen. Die Romanvorlage ist Weltliteratur und gilt als Begründung des Fantasy-Genres. Allerdings geht mir der ganze Fantasy-Quatsch auch auf die Nerven, nur platte Effekthascherei. Aber Tolkien war ein Genie. Der war Wissenschaftler und hat vierzig Jahre an den Büchern gearbeitet. Die Geschichte ist absolut zeitlos, wie die Bibel.“
„Sie finden die Bibel ist zeitlos?“
„Wenn man sie nicht zu wörtlich nimmt, sich mit den Hintergründen beschäftigt und es versteht, zwischen den Zeilen zu lesen, schon. - Schmeckt Ihnen der Wein?“
„Der ist ziemlich lecker.“
„Das Essen ist auch fertig. Setzen wir uns gleich hier in die Küche? Das ist zum Essen bequemer als auf der Couch.“
„Das sehe ich auch so.“
Keller hatte noch nie Spaghetti mit kalter Tomatensauce gekostet, aber es schmeckte herrlich aromatisch, die Nudeln waren bissfest, nicht zu hart und klebten nicht. Es gab knackigen, grünen Salat dazu, und der Wein war wirklich eine Wohltat. Er lobte Katharina Försters Kochkünste und half ihr anschließend beim Spülen. Der Wein entspannte ihn nicht nur, sondern regte auch seine Sinne an. Die junge Frau erschien ihm plötzlich gar nicht mehr so spröde, sondern fast schon anmutig, und hin und wieder stieg ihm ein Hauch ihres Duftes in die Nase, kein Parfum, aber trotzdem frisch und natürlich. Er musste sich konzentrieren, um nicht instinktiv näher an sie heran zu rücken.
„Ich würde ja jetzt Fernsehen vorschlagen“, sagte die Jugendreferentin, „aber bei dem Inferno da draußen habe ich alles ausgestöpselt, wo der Blitz einschlagen kann. Setzen wir uns trotzdem ins Wohnzimmer? Ist irgendwie gemütlicher.“
„Meinetwegen.“, sagte Keller.
Sie nahmen den Wein mit, setzten sich beide aufs Sofa und Katharina Förster schenkte ihnen nach.
„Sie haben noch gar nicht zu Hause angerufen.“, stellte sie fest.
„Ich lebe allein.“, erklärte Keller. „Ich muss niemanden informieren.“
„Ja, das hat auch Vorteile.“, sagte Katharina. „Sie haben ja auch nicht gerade einen familienfreundlichen Beruf.“
„Das können Sie laut sagen. Aber Ihre Arbeitszeiten sind doch für ein geordnetes Familienleben auch nicht gerade förderlich, oder?“
„Ich glaube, solange die Kinder klein sind, ist das eher von Vorteil. Unsereins ist ja morgens meistens zu Hause. Wenn man dann mit jemandem zusammen ist, der normale Arbeitszeiten hat und beide nicht ganz voll erwerbstätig sind, kann man sich da ganz gut abwechseln. Das Problem ist eher, jemanden kennenzulernen. Die Männer in meinem beruflichen Umfeld heiraten meistens früh und sind auch größtenteils nicht nach meinem Geschmack. Ansonsten sehe ich tagein tagaus nur Kinder und Teenager. Ich stehe auch nicht auf diese chronisch besoffenen Dorf-Vereinsmeier, und jemanden in der Disco oder Kneipe aufzureißen, gehört ebenfalls nicht zu meinen Kernkompetenzen.“
Keller grinste. Dann sagte er: „Geht mir ähnlich. Seit meiner Scheidung vor acht Jahren sehe ich nur noch zu, dass ich meine Arbeitswoche vernünftig über die Bühne bringe, und dann hänge ich zu Hause 'rum.“
„Haben Sie Kinder?“, fragte Katharina Förster.
„Einen Sohn.“, antwortete Keller. „Aber der ist schon erwachsen.“
„Haben Sie denn noch Kontakt zu ihm?“
„Selten.“
„Und was macht er so?“
„Er ist Physiotherapeut. Kommt mehr nach seiner Mutter, die ist Krankenschwester.“
„Da könnten Sie doch seinen Service häufiger in Anspruch nehmen.“
Wie meinen Sie das?“
„Massagen und so.“
„Mach ich einen verkrampften Eindruck auf Sie?“
„Nein, aber etwas angespannt wirken Sie schon. Darf ich mal?“
Vorsichtig begann die Jugendreferentin, Kellers Schultern abzutasten.“
„Was machen Sie da?“, fragte er irritiert.
„Ich fühle, ob da Verspannungen sind.“
„Und?“
„Sieht ganz so aus.“
„Haben Sie etwa auch mal als Physiotherapeutin gearbeitet?“
„Nein, aber in meinem letzten Leben war ich eine große Schamanin.“
„Wie bitte?“
„Ach nee, die Nummer zieht ja nur bei den Esoterik-Fuzzis.“ Katharina Förster kicherte. Dann sagte sie: „Ich habe selbst oft Muskelverspannungen, und im Studium hatte ich ein paar Freundinnen und Freunde, mit denen ich mich gegenseitig massiert habe. Mit der Zeit bekommt man ein Gespür dafür. So eine leicht verspannte Rückenmuskulatur kann man damit schon lockern. Könnten Sie sich etwas zur Seite drehen? Dann muss ich mich nicht so verrenken.“
Keller gehorchte, ließ den Oberkörper ein wenig nach vorn fallen und genoss die sanfte Knet- und Klopfmassage an seinen Schulterblättern und entlang der Wirbelsäulen-Muskulatur. Sie schien gar nicht müde zu werden, und eine Welle wohliger Schauer breitete sich von seinem Rücken über den gesamten Körper aus. Als sie irgendwann sagte: „So, jetzt kann ich nicht mehr.“ und wieder zum Weinglas griff, bedankte er sich und sagte: „Nachdem Sie so ausdauernd meine Muskeln gelockert haben, müsste ich mich eigentlich revanchieren. Ich bin aber nicht sicher, ob ich das kann.“
„Da kann man nicht viel falsch machen.“, erklärte sie. „Sie dürfen nur nicht direkt auf der Wirbelsäule herum drücken, aber die Muskelstränge, auch die über den Rippen, kann man nach Herzenslust bearbeiten.“ Sie drehte ihm den Rücken zu und ließ die schulterlangen Haare nach vorn hängen. „Nur zu, trauen Sie sich. Ich schreie schon rechtzeitig, wenn's weh tut.“
Er begann vorsichtig, mit den Fingerspitzen ihre Schulterblätter zu kneten und fuhr dann mit den Daumen rechts und links der Wirbelsäule entlang. Die restlichen Finger glitten dabei sanft über ihre Seiten und er bemerkte, wie sie kurz den Atem anhielt. Er hielt inne. „Hab' ich was falsch gemacht?“
„Nein, nein, alles gut.“
Er setzte die Massage fort und beobachtete das heftige Pochen ihrer Halsschlagader. Sie war mindestens zwanzig Jahre jünger als er, ihre Haut war glatt und weich und roch nach unverbrauchter Jugend und das, was er mit den Händen ertastete, fühlte sich fest und wohlgeformt an. Seine Schläfen schienen plötzlich im gleichen Rhythmus zu pochen wie ihre Halsschlagader. Wie lange hatte er keine Frau mehr im Arm gehalten? Und diese hier erschien ihm so sanft und hingebungsvoll. Die gezielten Massagegriffe waren längst in zärtliches Streicheln übergegangen, und sie wich ihm nicht aus, sondern lehnte sich, im Gegenteil, zurück und schmiegte sich in seine Arme. Er begann vorsichtig, ihren Hals zu küssen und über ihre Brüste zu streicheln.
Nachher wusste er nicht einmal mehr, wie sie ins Schlafzimmer gelangt waren und wie und wo sie sich unterwegs ihrer Kleidung entledigt hatten. Er erinnerte sich dunkel an einen Wortwechsel über Empfängnis-Verhütung und AIDS-Prävention, und sie hatten beides verworfen, weil sie beteuerte, sich in einer unfruchtbaren Phase zu befinden und beide seit vielen Jahren keinen Sexualpartner gehabt hatten und auch nie promiskuitiv gewesen waren. Auf einmal hatte das Leben einen neuen Glanz und entzückt warf er einen Blick auf die schlafende Elfe, in deren Bett er lag, bevor er sich auf die Seite rollte und in einen tiefen traumlosen Schlaf sank.
Kriminalhauptkommissar Stefan Keller gönnte sich einen kurzen Spaziergang über den Nordhemmer Friedhof. Gleich musste er seine letzte Befragung durchführen und dann eine Stunde lang im Auto sitzen, da würde ihm etwas Bewegung vorher gut tun, denn hinterher käme er bestimmt nicht mehr dazu. Unter dem dramatischen Himmel mit den sich bedrohlich auftürmenden Wolken wirkte selbst dieser dem Kahlschlag zum Opfer gefallene Friedhof geheimnisvoll und schaurig. Die kriminaltechnische Untersuchung hatte ergeben, dass die Kinder hier auf dem Friedhof erschlagen worden waren; welch ein grausames Schicksal. Ein Blitz zuckte im Norden durch die Luft. Keller beeilte sich, zu seinem Auto zu kommen.
Nicht allzu überrascht öffnete die Jugendreferentin Katharina Förster ihre Wohnungstür.
„Ah, Herr Keller, das hatte ich mir doch fast gedacht, dass Sie mich sprechen wollten.“, erklärte sie. Sie trug ein sportliches Blusenkleid, das ihre weiblichen Rundungen ungewohnt betonte. Sie war zwar ungeschminkt und für eine junge Frau ihres Alters ziemlich Frisur-los, wirkte aber nicht ganz so graumäusig, wie Keller sie in Erinnerung hatte.
„Sie sind also über den Mord an den beiden Kindern informiert?“, fragte Keller.
„Ja, ich hatte heute Morgen ein Vorbereitungstreffen für die Ferienspiele und da hat man mir das erzählt. Anneliese Gieseking war ja eine der ersten, die bei Sigrid Röthemeier waren, nachdem sie die Leichen entdeckt hatte.“
„Und die Kinder wurden von Ihnen betreut?“
„Kommen Sie doch erst mal rein und setzen Sie sich. Das Gewitter kommt sowieso näher und gleich kommt sintflutartiger Regen, da können Sie eh' nicht zum Auto laufen, sonst sind Sie sofort klatschnass.“
Keller trat in die ihm vertraute Wohnung der Jugendreferentin, die er vor zwei Jahren mehrfach aufgesucht hatte, als er im Kirchenkreis Minden und vor allem in der Gemeinde Holzhausen II-Nordhemmern in mehreren Mordfällen ermittelt hatte. Katharina Förster war ihm hochgradig tatverdächtig erschienen, und er hatte auch ihr gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, doch dann hatte sie sich als äußerst hilfreiche Zeugin erwiesen und wäre beinahe selbst zum Mordopfer geworden. Die Wohnung hatte sich nicht verändert, zumindest nichts, was Keller aufgefallen wäre. Er nahm Platz auf der Couch vor dem noch immer fleckigen Teppich im gemütlichen Wohnzimmer und stellte seine Fragen.
„Also, Frau Förster, haben Sie die Kinder betreut?“
„So würde ich das nicht formulieren. Sie kamen regelmäßig zur Jungschar – das ist überwiegend für Kinder im Grundschulalter – im Holzhauser Gemeindehaus. Ich bin nur alle vierzehn Tage dabei, sonst leiten die Ehrenamtlichen das auch ohne mich.“
„Und welchen Eindruck hatten Sie von den beiden?“
„Aufgeweckt, lebhaft, zielorientiert und immer zu Streichen aufgelegt. Aber sie hatten auch eine kleine sadistische Ader.“
„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Keller.
„Ich meine nicht, dass sie unter einer pathologischen Persönlichkeitsstörung litten und andere Kinder in ihre verborgenen Folterkeller lockten, aber ihre Streich waren schon ziemlich gemein, und sie foppten am liebsten die, die sich am wenigsten zur Wehr setzen konnten. Dabei waren sie ziemlich durchtrieben, denn sie beherrschten es exzellent, den Erwachsenen ein Musterkind-Dasein vorzugaukeln, während sie anderen übel mitspielten. Flogen sie auf, nahmen sie es sportlich, entschuldigten sich bei ihrem Opfer und zeigten sich auch einsichtig, wenn man ihnen klar machte, dass sie den Bogen überspannt hatten. Vielleicht war das auch nur gespielt, aber ich vermute, sie liebten es, sich mit anderen einen Jux zu machen, allerdings wollten sie niemanden verletzen. Sie kommen beide aus intakten Familien, wurden geliebt, Anforderungen ausgesetzt, aber nicht überfordert, haben klare Strukturen erfahren, aber auch viele Freiheiten gehabt. Perfekte Bedingungen, unter denen ein Kind zu einem gesunden Menschen heranwachsen kann.“
„So sehen Sie die Elternhäuser?“
„Hatten Sie einen anderen Eindruck?“
„Ja. Mir kam alles so vor wie vorne hui, hinten Pfui. Nach außen die perfekte, heile Welt, aber auch ganz viel Leere und Lieblosigkeit.“
„Na ja, Tiemanns sind mächtige Prolos und Borcherdings extrem angepasst, das ist vielleicht nicht optimal, aber so sind die Deutschen eben. Wenn man auch so ist, kommt man klar und wird, wenn man nicht allzu viel nachdenkt, meistens glücklich.“
„Tja, so ist es wohl.“, seufzte Keller, und ein greller Blitz, gefolgt von einem gewaltigen Donner entlud sich in geringer Entfernung.
„Das ist ja infernalisch.“, staunte Keller.
„Die Wetterfrösche haben Gewitter-Stürme apokalyptischen Ausmaßes angekündigt.“, erklärte Katharina Förster. „Soll ich Ihnen zur Beruhigung einen Kräutertee kochen?“
„Unsinn!“, wehrte Keller ab und die Jugendreferentin grinste.
Dann fragte er weiter: „Ist Ihnen an den Kindern in letzter Zeit irgendeine Veränderung aufgefallen?“
„Nein, Was sollte mir denn aufgefallen sein?“
„Allgemeine Verhaltensänderungen, erhöhte Aggressivität oder Rückzug, Ängste, Hyperaktivität, was weiß ich.“
„Die waren bis zuletzt so frech und fröhlich wie immer. Aber ich sehe die Kinder auch nur einmal in vierzehn Tagen, maximal neunzig Minuten.“
Keller knurrte unzufrieden.
„Wollen Sie irgendetwas Bestimmtes hören?“, fragte Katharina Förster vorsichtig.
„Nein, nein.“, antwortete Keller. Wir haben da zum Teil merkwürdige Parallelen verschiedener Beobachtungen, was den Jungen betrifft, aber wenn ich Ihnen das erzähle und Sie es dann bestätigen, heißt es hinterher, ich hätte Sie manipuliert.“
Die junge Frau grübelte, was man an Sören Außergewöhnliches beobachten könnte, das gleich mehreren aufgefallen war. So, wie der Polizist herum druckste, konnte es sich ja eigentlich nur um den Verdacht handeln, dass Sören sexuell missbraucht worden war oder selber zum Täter geworden war oder beides. Aber wie kam er darauf? Sie kannte Inga Ludwig, die Grundschullehrerin, die war bestimmt keine hysterische Küchenkinderpsychologin, die hinter jeder Monsterzeichnung einen Kinderschänder witterte. Dann fragte sie gerade heraus: „Gibt es Hinweise auf sexuellen Missbrauch?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Weil Sie sich so beredt darüber ausschweigen, was an dem Jungen merkwürdiges aufgefallen ist. Ich selbst habe keinerlei Hinweise wahrgenommen.“
„Er hat eine Zeichnung angefertigt: eine Figur kniet vor einer anderen und macht schmatz schmatz.“
„Aber das kann doch alles Mögliche bedeuten.“
„Beim Kindersport hat er einem Jungen damit gedroht, ihm in den Mund zu urinieren.“
„Hat er das so formuliert?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Aber Kinder machen so etwas. Vor allem Jungs schocken gern rum mit markigen Sprüchen, dann fühlen sie sich gleich stärker. Haben Sie das als Junge nie getan?“
„Nein, nie.“
„Ach, kommen Sie! Bestimmt haben Sie es nur vergessen oder verdrängt. Ich wollte als Mädchen auch Prinzessin werden und vom strahlenden Prinzen aufs weiße Pferd gehoben werden.“
„Sie?!“, fragte Keller ungläubig.
„Natürlich.“, antwortete Katharina Förster. „Aber ich hatte auch Penisneid.“
„So genau wollte ich's gar nicht wissen.“
„Nicht?“
„Nein.“
„Auf jeden Fall kann es tausend Gründe für solche Zeichnungen geben: Im Gespräch mit Jugendlichen etwas aufgeschnappt oder am wahrscheinlichsten nachts heimlich ferngesehen oder Papas Porno-Sammlung gesichtet. Natürlich sind auch Jungen von solchen Bildern schockiert und kompensieren das, indem sie vor sich und anderen ihr schockiert Sein leugnen. Wenn sie erst so hart sind, dass sie über die brutalen Bilder lachen können, können die brutalen Bilder ihnen nichts mehr anhaben. Ich bin zwar nicht psychologisch qualifiziert, aber ich glaube, das ist ein uralter Mechanismus, den jeder schon einmal bei sich selbst erfahren hat.“
Jetzt prasselte der Regen so ohrenbetäubend aufs Dach, dass ein Gespräch in Zimmerlautstärke kaum noch möglich war.
„Wie lange geht das wohl noch so?“, fragte Keller und blickte nach draußen, wo die Regentropfen in den Pfützen Blasen schlugen, Sturzbäche die Straße hinunter schossen und der Sturm an den hohen Bäumen rüttelte, als wären es dürre Gräser.
„Die halbe Nacht.“, antwortete die Jugendreferentin. „Wo müssen Sie denn heute noch hin?“
„Nach Bielefeld.“
„Davon würde ich abraten. Da können Sie sich auch genauso gut mit einer Rolex am Handgelenk in ein Elendsviertel von Rio De Janeiro setzen.“
„Oder auf eine Parkbank in Duisburg Marxloh?“
„Ja, so ungefähr.“
„Aber wenn ich im Auto schlafe, kann ich auch genauso gut hier von einem Baum erschlagen werden, und ein Hotel gibt es meines Wissens in Nordhemmern nicht.“
„Sie können hier übernachten.“
„Das geht nicht.“
„Wollen Sie lieber sterben?“
„Ich will Ihnen nicht zur Last fallen.“
„Wollen Sie, dass einmal auf ihrem Grabstein steht: Er opferte sich, um niemandem zur Last zu fallen?“
„Ich will keinen Grabstein.“
„Friedwald?“
„Verbrennen und dann Seebestattung.“
„Oh, ein Romantiker.“
„Was soll denn daran romantisch sein? Man wird verfeuert, und die paar Krümel, die davon übrig bleiben, werden ins Meer geworfen wie eine Brausetablette ins Wasserglas. Man löst sich auf im Großen und Ganzen. Nagende Maden in brauner Erde und morschem Holz finde ich dagegen eklig und abstoßend.“
„Aber eigentlich ist es das Gleiche. Anstelle von Feuer zerlegen Kleinstlebewesen und Mikroorganismen Sie in Ihre Bestandteile. Es dauert nur etwas länger.“
„Jedenfalls denke ich, dass ich problemlos nach Hause fahren kann.“
„Als Polizist sollten Sie doch eigentlich wissen, dass so ein Verhalten verantwortungslos ist. Sie gefährden nicht nur sich selbst, sondern auch die, die sie im Falle eines nicht unwahrscheinlichen Unfalles retten müssen.“
„Jetzt haben Sie mich kalt erwischt.“
„Sehen Sie. Ich koche uns jetzt Spaghetti mit irgendeiner leckeren Sauce, Sie entspannen sich bei 'nem Glas Rotwein und ich überlasse Ihnen mein Bett.“
„Nein, keinesfalls!“, protestierte Keller. „Wenn, dann schlafe ich auf dem Sofa.“
„Auf meinem heiligen Sofa? Unterstehen Sie sich, das ist mein Revier. Mögen Sie Tomaten, Olivenöl, Knoblauch und frische Kräuter?“
„Ja, sicher.“
„Und was halten Sie von einem Montepulciano D'Abbruzzo in Bioqualität?“
„Großartig.“
„Gut, dann lege ich mal los. Falls Sie noch Fragen haben, fragen Sie.“
Keller folgte der jungen Frau in die Küche. „Ich hätte mal eine ganz andere Frage, und ich möchte nicht unverschämt erscheinen, aber dürfte ich Ihre Dusche benutzen? Ich bin ganz klebrig von dem schwülen Wetter heute.“
„Ja, natürlich.“, antwortete Katharina Förster. „Hinter der Tür mit dem bunten Poster ist das Bad.“
„Und hätten Sie auch ein Handtuch für mich?“
„Nein, Sie müssen den Fön benutzen.“, antwortete Katharina verschmitzt.
„Den Fön?“
„Ich verleihe grundsätzlich keine Handtücher an Polizisten. - Jetzt gucken Sie mich nicht an, als hätte ich Sie zum Tode verurteilt. Frische Handtücher liegen im Regal, bedienen Sie sich einfach. Sie können auch frische Wäsche von mir haben.“
„Wie bitte?“
„T-Shirts, die Männern passen habe ich genug. Witziger-weise habe ich sogar ein Paket Herrenslips, habe ich mal aus Versehen gekauft, und gemütliche Boxer-Shorts oder Jogginghosen habe ich auch. Ich würde Ihnen auch anbieten, Ihre Kleidung zu waschen, aber ich habe keinen Trockner.“
„Das ist auch wirklich nicht nötig. Vielleicht reicht es, wenn das Zeug über Nacht lüftet.“
„Warten Sie“, sie legte das Schneidemesser, mit dem sie gerade Tomaten zerkleinerte aus der Hand und wusch sich die Hände. „Ich suche Ihnen die Sachen zusammen. Ich kann ja schlecht gleich ins Bad stiefeln, wenn Sie unter der Dusche stehen.“
Keller räusperte sich verlegen. Nach ein paar Minuten kam sie mit einem Stapel sauberer Kleidung aus dem Schlafzimmer, drückte ihn Keller in die Hand und verschwand wieder in der Küche.
Das Bad war höchstens zehn Jahre alt, offensichtlich entstanden, als das Haus so umgebaut wurde, dass mehrere Parteien darin wohnen konnten. Neben einer Riesenbatterie an Kosmetika, die Keller bei dieser Frau niemals erwartet hätte, standen haufenweise schräge Deko-Artikel herum, und es hingen humoristische Postkarten an der Wand. Zum Duschen musste er in die Badewanne steigen, einen Vorhang gab es nicht, also setzte er sich. Zum Glück benutzte sie einfache Seife und kein Duschgel mit exotischem Blumenduft oder Fruchtaroma. Es war eine Wohltat, sich den öligen Film aus Staub und Schweiß herunter zu waschen und sich mit der sanften Massage des Duschstrahls die Muskeln zu lockern. Die frische Kleidung passte einigermaßen, wenn auch die Beine der Jogginghose etwas kurz waren, aber er sah nicht aus wie ein Idiot, sondern wie ein normaler Mann nach Feierabend. Seine angeschwitzte Kleidung unter dem Arm trat er wieder in die Küche. „Kann ich die Klamotten irgendwo aufhängen?“
„Im Kleiderschrank, im Schlafzimmer sind ein paar freie Bügel. Dann können Sie ihr Zeug einfach an den Schrank hängen. Wenn Sie wollen, können Sie sich das Bett selbst beziehen. Bettwäsche ist auch im Schrank.“
„Das ist nicht nötig. Ich kann doch auf Ihrem Sofa schlafen.“
„Kommt nicht in Frage.“
„Dann schlafe ich in Ihrer Bettwäsche.“
„Stehen Sie auf Mädchenschweiß?“
„Und wie!“
„Na, dann viel Vergnügen.“
Keller nahm sich einen Kleiderbügel aus dem vollen Schrank und vermied es, sich neugierig darin umzusehen. Er hängte seine Sachen ordentlich auf und sah sich kurz in dem Zimmer um: Ein breites Bett mit grauer Satin-Bettwäsche stand in einer Ecke des Raums, daneben ein Hocker, der als Nachttisch diente, aber nicht ausreichte, all die Bücher, die sie offensichtlich abwechselnd vor dem Einschlafen las, zu beherbergen. Ein einfaches Holzregal voller Stoffkörbe enthielt wohl das, was an Kleidung nicht mehr in den Schrank passte. Unter der Decke prangte ein riesiges Poster mit einem Bild wie aus einem Märchenbuch, auch sonst hingen viele Reproduktionen berühmter Kunstwerke an den Wänden. Er ging wieder in die Küche.
„Das Poster über Ihrem Bett, entführt Sie das in romantische Märchenprinzessinnen-Träume?“, fragte er.
Sie reichte ihm ein Glas Wein und nahm selbst einen Schluck, dann sagte sie: „Das ist Bruchtal, das Reich Elronds, eines Elbenfürsten in der Geschichte 'Der Herr der Ringe'. Kennen Sie die Filme nicht?“
„Hat mich nie interessiert. Ich hab's nicht so mit Märchen.“
„Das ist kein Märchen. Die Romanvorlage ist Weltliteratur und gilt als Begründung des Fantasy-Genres. Allerdings geht mir der ganze Fantasy-Quatsch auch auf die Nerven, nur platte Effekthascherei. Aber Tolkien war ein Genie. Der war Wissenschaftler und hat vierzig Jahre an den Büchern gearbeitet. Die Geschichte ist absolut zeitlos, wie die Bibel.“
„Sie finden die Bibel ist zeitlos?“
„Wenn man sie nicht zu wörtlich nimmt, sich mit den Hintergründen beschäftigt und es versteht, zwischen den Zeilen zu lesen, schon. - Schmeckt Ihnen der Wein?“
„Der ist ziemlich lecker.“
„Das Essen ist auch fertig. Setzen wir uns gleich hier in die Küche? Das ist zum Essen bequemer als auf der Couch.“
„Das sehe ich auch so.“
Keller hatte noch nie Spaghetti mit kalter Tomatensauce gekostet, aber es schmeckte herrlich aromatisch, die Nudeln waren bissfest, nicht zu hart und klebten nicht. Es gab knackigen, grünen Salat dazu, und der Wein war wirklich eine Wohltat. Er lobte Katharina Försters Kochkünste und half ihr anschließend beim Spülen. Der Wein entspannte ihn nicht nur, sondern regte auch seine Sinne an. Die junge Frau erschien ihm plötzlich gar nicht mehr so spröde, sondern fast schon anmutig, und hin und wieder stieg ihm ein Hauch ihres Duftes in die Nase, kein Parfum, aber trotzdem frisch und natürlich. Er musste sich konzentrieren, um nicht instinktiv näher an sie heran zu rücken.
„Ich würde ja jetzt Fernsehen vorschlagen“, sagte die Jugendreferentin, „aber bei dem Inferno da draußen habe ich alles ausgestöpselt, wo der Blitz einschlagen kann. Setzen wir uns trotzdem ins Wohnzimmer? Ist irgendwie gemütlicher.“
„Meinetwegen.“, sagte Keller.
Sie nahmen den Wein mit, setzten sich beide aufs Sofa und Katharina Förster schenkte ihnen nach.
„Sie haben noch gar nicht zu Hause angerufen.“, stellte sie fest.
„Ich lebe allein.“, erklärte Keller. „Ich muss niemanden informieren.“
„Ja, das hat auch Vorteile.“, sagte Katharina. „Sie haben ja auch nicht gerade einen familienfreundlichen Beruf.“
„Das können Sie laut sagen. Aber Ihre Arbeitszeiten sind doch für ein geordnetes Familienleben auch nicht gerade förderlich, oder?“
„Ich glaube, solange die Kinder klein sind, ist das eher von Vorteil. Unsereins ist ja morgens meistens zu Hause. Wenn man dann mit jemandem zusammen ist, der normale Arbeitszeiten hat und beide nicht ganz voll erwerbstätig sind, kann man sich da ganz gut abwechseln. Das Problem ist eher, jemanden kennenzulernen. Die Männer in meinem beruflichen Umfeld heiraten meistens früh und sind auch größtenteils nicht nach meinem Geschmack. Ansonsten sehe ich tagein tagaus nur Kinder und Teenager. Ich stehe auch nicht auf diese chronisch besoffenen Dorf-Vereinsmeier, und jemanden in der Disco oder Kneipe aufzureißen, gehört ebenfalls nicht zu meinen Kernkompetenzen.“
Keller grinste. Dann sagte er: „Geht mir ähnlich. Seit meiner Scheidung vor acht Jahren sehe ich nur noch zu, dass ich meine Arbeitswoche vernünftig über die Bühne bringe, und dann hänge ich zu Hause 'rum.“
„Haben Sie Kinder?“, fragte Katharina Förster.
„Einen Sohn.“, antwortete Keller. „Aber der ist schon erwachsen.“
„Haben Sie denn noch Kontakt zu ihm?“
„Selten.“
„Und was macht er so?“
„Er ist Physiotherapeut. Kommt mehr nach seiner Mutter, die ist Krankenschwester.“
„Da könnten Sie doch seinen Service häufiger in Anspruch nehmen.“
Wie meinen Sie das?“
„Massagen und so.“
„Mach ich einen verkrampften Eindruck auf Sie?“
„Nein, aber etwas angespannt wirken Sie schon. Darf ich mal?“
Vorsichtig begann die Jugendreferentin, Kellers Schultern abzutasten.“
„Was machen Sie da?“, fragte er irritiert.
„Ich fühle, ob da Verspannungen sind.“
„Und?“
„Sieht ganz so aus.“
„Haben Sie etwa auch mal als Physiotherapeutin gearbeitet?“
„Nein, aber in meinem letzten Leben war ich eine große Schamanin.“
„Wie bitte?“
„Ach nee, die Nummer zieht ja nur bei den Esoterik-Fuzzis.“ Katharina Förster kicherte. Dann sagte sie: „Ich habe selbst oft Muskelverspannungen, und im Studium hatte ich ein paar Freundinnen und Freunde, mit denen ich mich gegenseitig massiert habe. Mit der Zeit bekommt man ein Gespür dafür. So eine leicht verspannte Rückenmuskulatur kann man damit schon lockern. Könnten Sie sich etwas zur Seite drehen? Dann muss ich mich nicht so verrenken.“
Keller gehorchte, ließ den Oberkörper ein wenig nach vorn fallen und genoss die sanfte Knet- und Klopfmassage an seinen Schulterblättern und entlang der Wirbelsäulen-Muskulatur. Sie schien gar nicht müde zu werden, und eine Welle wohliger Schauer breitete sich von seinem Rücken über den gesamten Körper aus. Als sie irgendwann sagte: „So, jetzt kann ich nicht mehr.“ und wieder zum Weinglas griff, bedankte er sich und sagte: „Nachdem Sie so ausdauernd meine Muskeln gelockert haben, müsste ich mich eigentlich revanchieren. Ich bin aber nicht sicher, ob ich das kann.“
„Da kann man nicht viel falsch machen.“, erklärte sie. „Sie dürfen nur nicht direkt auf der Wirbelsäule herum drücken, aber die Muskelstränge, auch die über den Rippen, kann man nach Herzenslust bearbeiten.“ Sie drehte ihm den Rücken zu und ließ die schulterlangen Haare nach vorn hängen. „Nur zu, trauen Sie sich. Ich schreie schon rechtzeitig, wenn's weh tut.“
Er begann vorsichtig, mit den Fingerspitzen ihre Schulterblätter zu kneten und fuhr dann mit den Daumen rechts und links der Wirbelsäule entlang. Die restlichen Finger glitten dabei sanft über ihre Seiten und er bemerkte, wie sie kurz den Atem anhielt. Er hielt inne. „Hab' ich was falsch gemacht?“
„Nein, nein, alles gut.“
Er setzte die Massage fort und beobachtete das heftige Pochen ihrer Halsschlagader. Sie war mindestens zwanzig Jahre jünger als er, ihre Haut war glatt und weich und roch nach unverbrauchter Jugend und das, was er mit den Händen ertastete, fühlte sich fest und wohlgeformt an. Seine Schläfen schienen plötzlich im gleichen Rhythmus zu pochen wie ihre Halsschlagader. Wie lange hatte er keine Frau mehr im Arm gehalten? Und diese hier erschien ihm so sanft und hingebungsvoll. Die gezielten Massagegriffe waren längst in zärtliches Streicheln übergegangen, und sie wich ihm nicht aus, sondern lehnte sich, im Gegenteil, zurück und schmiegte sich in seine Arme. Er begann vorsichtig, ihren Hals zu küssen und über ihre Brüste zu streicheln.
Nachher wusste er nicht einmal mehr, wie sie ins Schlafzimmer gelangt waren und wie und wo sie sich unterwegs ihrer Kleidung entledigt hatten. Er erinnerte sich dunkel an einen Wortwechsel über Empfängnis-Verhütung und AIDS-Prävention, und sie hatten beides verworfen, weil sie beteuerte, sich in einer unfruchtbaren Phase zu befinden und beide seit vielen Jahren keinen Sexualpartner gehabt hatten und auch nie promiskuitiv gewesen waren. Auf einmal hatte das Leben einen neuen Glanz und entzückt warf er einen Blick auf die schlafende Elfe, in deren Bett er lag, bevor er sich auf die Seite rollte und in einen tiefen traumlosen Schlaf sank.
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Dienstag, 4. April 2017
Lennart
c. fabry, 11:35h
Der Vater war chronisch abwesend. 1967 hätte niemand das in irgendeiner Weise ungewöhnlich gefunden. 2017 jedoch waren Väter im Familienleben präsenter geworden. Nicht in gleicher Weise wie die Mütter – von einigen Ausnahmen einmal abgesehen – aber präsenter. Doch dieser Vater leitete ein Unternehmen. 16-Stunden-Tage waren die Regel. Freie Wochenenden gab es kaum. Er war der Versorger, ansonsten ein Fremder, ein Abstraktum.
Die Mutter war körperlich anwesend. Sie war karitativ für den Lions-Club tätig, bei dem ihr Gatte ordentliches Mitglied war. Frauen waren hier nach wie vor nur schmückendes Beiwerk. Die Mutter hatte viele Termine, um repräsentationsfähig und präsentabel zu bleiben.
Der Sohn war dreizehn, fast vierzehn Jahre alt. Er hatte alles, was Jugendliche in seinem Alter sich wünschen können: PC, Tablett, PS2, I-Phone 5, BMX-Rad, Rennrad, Longboard, Stereoanlage...die üblichen Konfirmationsgeschenke würden für ihn nicht mehr infrage kommen. Das müsste schon eine besondere Reise sein oder ein teures Event. Seine Mutter hatte schon ein paar Mal gegoogelt, abends, wenn der Junge schlief. Wenn sie dachte, dass der Junge schlief.
Der Junge war frei wie ein Vogel. Die Ergebnisse mussten am Ende stimmen, wie er dahin kam, war egal. Bis jetzt hatte er sich leidlich durchlaviert. Wo es in der Schule hakte, half das große Taschengeld. Überall konnte man sich Unterstützung kaufen, es war alles eine Frage des Preises.
Dann kam aber auch noch dieser kirchliche Unterricht dazu, bei diesem blöden Pfaffen, den wirklich kein Mensch ernst nehmen konnte, nicht einmal seine Eltern. Diesen Foliengriller steckte er mit links in die Tasche und das ließ er ihn auch spüren. Er würde in wenigen Jahren ein Weltmarkt-relevantes Unternehmen leiten, wer war schon dieser Pfaffe mit seinen zehn Geboten, seinen uralten Chorälen, die kein Mensch mehr verstand und seinen flachen langweiligen Geschichten. Er musste seine 1 1/2 Jahre absitzen, dann das Ritual in der Kirche über sich ergehen lassen und seine Eltern waren zufrieden. Es war überaus wichtig, sie zufrieden zu stellen, sonst liefen sie nicht rund. Und wenn sie nicht rund liefen, bekam er nicht, was er wollte.
Aber er brauchte etwas zur Kompensation. Jede Woche zu diesem blöden Geseier ein entspanntes Gesicht zu machen, das war einfach zu viel verlangt. Trotz seiner Bemühungen, war er schon mehrfach mit dem Pfaffen aneinandergeraten, mal waren seine Fragen zu kritisch, mal hatte er einen Kaugummi im Mund, mal war er abgelenkt von erhellenderen Gesprächen mit seinen Sitznachbarn. Der Pfaffe hatte ihn auf dem Kieker, er musste vorsichtig sein. Aber nichts setzte ihn so sehr unter inneren Druck wie Speichelleckerei, ganz besonders, wenn er den, dessen Speichel er lecken sollte, als minderwertig erachtete. Diesen Druck wurde er nur los, indem er denjenigen, dem er sich unterwerfen musste, demütigte. Er hatte sich den Klassiker gegönnt: Brennende Zeitung auf Hundescheiße vor Pfarrers Haustür, klingeln, weglaufen. Es hatte funktioniert, der Pfaffe hatte reichlich Scheiße am Schuh. Und geflucht hatte er, dass es eine wahre Wonne war. So ein Erlebnis gewann deutlich an Wert, wenn man es mit anderen teilen und ihre Bewunderung einheimsen konnte. Er hatte es gefilmt und herum gezeigt. Das brachte ihm große Anerkennung.
Doch dann bekam er Streit mit Jakob. Er wusste nicht einmal mehr warum, aber Jakob hatte schließlich angekündigt, ihn beim Pfaffen anzuschwärzen, ihm das mit dem Video zu erzählen, das Lennart überall herumgezeigt hatte, das mit der Scheiße am Schuh. Im Grunde wäre es ein Genuss gewesen, ins Gesicht des Pfaffen zu blicken, in dem Wissen, dass er Kenntnis davon hatte, wer ihm diese unliebsame Überraschung beschert hatte, wer ihn letztendlich gefickt hatte. Doch so wie dieser Pfaffe drauf war, würde er sich weigern, Lennart zu konfirmieren. Seine Eltern würden unzufrieden mit ihm sein, weil das Ergebnis nicht stimmte. Das konnte er sich nicht leisten, es würde seinen Komfort einschränken und ihn in seinen Möglichkeiten beschneiden, das durfte er keinesfalls zulassen.
Er war kein gewöhnlicher Teenager. Wenn er ausnahmsweise etwas auf Papier schrieb, dann nur auf dem hochwertigen Firmenpapier seines Vaters, mintgrünes Bütten mit einem dezenten Wasserzeichen oben links. Und er schrieb immer mit dunkelgrüner Tinte, das war sein Markenzeichen geworden. In einem Anflug von Schwachsinn, den andere vielleicht als Menschlichkeit oder freundschaftliche Verbundenheit verstanden hätten, hatte er Jakob etwas von seinem Vorrat abgegeben. Er hatte es bald bereut, denn Jakob, der ihn zutiefst bewundert hatte und ihm stets wie ein Hündchen nachgelaufen war, hatte sich ebenfalls dunkelgrüne Tintenpatronen besorgt und imitierte ihn, wie schon so oft. Allein dieses schamlose Kopieren seiner Originalität konnte er nicht dulden. Erst recht nicht die Gefährdung seiner elterlichen Beziehung.
Die letzte Stunde im kirchlichen Unterricht hatte ihm dann das Material geliefert. Der Pfaffe hatte Jakob einen Spruch rein gereicht und Jakob hatte das gar nicht cool genommen. Alle hatten das mitbekommen. Ihm hätte das ja nicht passieren können, dass er sich geschämt hätte, weil er diesen dämlichen Konfi-Kalender verlegt hatte, einfach lächerlich. Aber Jakob war eben ein Zwerg, nicht äußerlich, nein da brachte er es schon auf 1,75, aber innerlich, was seine Persönlichkeit betraf, sein Selbstbewusstsein, seine innere Stärke, da war er ein Zwerg. Geradezu prädestiniert für einen Suizid infolge einer Demütigung.
Er wusste nicht mehr, wie er es geschafft hatte, ihn zu der Mutprobe zu überreden. Schließlich hatte Jakob eingewilligt, den Kopf durch die Schlinge gesteckt und den Stuhl weggekickt. Es war abgesprochen, dass Lennart ihn nach dreißig Sekunden rettete. Und Lennart zählte: „27, 28, 29, 30, 31, 32, 33...“, dann sah er schweigend zu, so lange bis Jakob aufhörte zu zappeln. Er sah die ganze Zeit hin. Das würde ihn nur härter machen.
Dann schrieb er den Abschiedsbrief. Zum Glück hatte er von allen Bögen, die er Jakob damals überlassen hatte, das Firmenlogo mit der Schneidemaschine abgetrennt. Die Verbindung zur Firma seines Vaters würde niemand herstellen. Jakobs Handschrift zu imitieren, war eine seiner leichteren Übungen. Eine krakelige Jungenschrift, die der seinen äußerst ähnlich war, nur das s und das t schrieb Jakob anders, aber das bekam er hin. Er war kein gewöhnlicher Teenager.
Die Mutter war körperlich anwesend. Sie war karitativ für den Lions-Club tätig, bei dem ihr Gatte ordentliches Mitglied war. Frauen waren hier nach wie vor nur schmückendes Beiwerk. Die Mutter hatte viele Termine, um repräsentationsfähig und präsentabel zu bleiben.
Der Sohn war dreizehn, fast vierzehn Jahre alt. Er hatte alles, was Jugendliche in seinem Alter sich wünschen können: PC, Tablett, PS2, I-Phone 5, BMX-Rad, Rennrad, Longboard, Stereoanlage...die üblichen Konfirmationsgeschenke würden für ihn nicht mehr infrage kommen. Das müsste schon eine besondere Reise sein oder ein teures Event. Seine Mutter hatte schon ein paar Mal gegoogelt, abends, wenn der Junge schlief. Wenn sie dachte, dass der Junge schlief.
Der Junge war frei wie ein Vogel. Die Ergebnisse mussten am Ende stimmen, wie er dahin kam, war egal. Bis jetzt hatte er sich leidlich durchlaviert. Wo es in der Schule hakte, half das große Taschengeld. Überall konnte man sich Unterstützung kaufen, es war alles eine Frage des Preises.
Dann kam aber auch noch dieser kirchliche Unterricht dazu, bei diesem blöden Pfaffen, den wirklich kein Mensch ernst nehmen konnte, nicht einmal seine Eltern. Diesen Foliengriller steckte er mit links in die Tasche und das ließ er ihn auch spüren. Er würde in wenigen Jahren ein Weltmarkt-relevantes Unternehmen leiten, wer war schon dieser Pfaffe mit seinen zehn Geboten, seinen uralten Chorälen, die kein Mensch mehr verstand und seinen flachen langweiligen Geschichten. Er musste seine 1 1/2 Jahre absitzen, dann das Ritual in der Kirche über sich ergehen lassen und seine Eltern waren zufrieden. Es war überaus wichtig, sie zufrieden zu stellen, sonst liefen sie nicht rund. Und wenn sie nicht rund liefen, bekam er nicht, was er wollte.
Aber er brauchte etwas zur Kompensation. Jede Woche zu diesem blöden Geseier ein entspanntes Gesicht zu machen, das war einfach zu viel verlangt. Trotz seiner Bemühungen, war er schon mehrfach mit dem Pfaffen aneinandergeraten, mal waren seine Fragen zu kritisch, mal hatte er einen Kaugummi im Mund, mal war er abgelenkt von erhellenderen Gesprächen mit seinen Sitznachbarn. Der Pfaffe hatte ihn auf dem Kieker, er musste vorsichtig sein. Aber nichts setzte ihn so sehr unter inneren Druck wie Speichelleckerei, ganz besonders, wenn er den, dessen Speichel er lecken sollte, als minderwertig erachtete. Diesen Druck wurde er nur los, indem er denjenigen, dem er sich unterwerfen musste, demütigte. Er hatte sich den Klassiker gegönnt: Brennende Zeitung auf Hundescheiße vor Pfarrers Haustür, klingeln, weglaufen. Es hatte funktioniert, der Pfaffe hatte reichlich Scheiße am Schuh. Und geflucht hatte er, dass es eine wahre Wonne war. So ein Erlebnis gewann deutlich an Wert, wenn man es mit anderen teilen und ihre Bewunderung einheimsen konnte. Er hatte es gefilmt und herum gezeigt. Das brachte ihm große Anerkennung.
Doch dann bekam er Streit mit Jakob. Er wusste nicht einmal mehr warum, aber Jakob hatte schließlich angekündigt, ihn beim Pfaffen anzuschwärzen, ihm das mit dem Video zu erzählen, das Lennart überall herumgezeigt hatte, das mit der Scheiße am Schuh. Im Grunde wäre es ein Genuss gewesen, ins Gesicht des Pfaffen zu blicken, in dem Wissen, dass er Kenntnis davon hatte, wer ihm diese unliebsame Überraschung beschert hatte, wer ihn letztendlich gefickt hatte. Doch so wie dieser Pfaffe drauf war, würde er sich weigern, Lennart zu konfirmieren. Seine Eltern würden unzufrieden mit ihm sein, weil das Ergebnis nicht stimmte. Das konnte er sich nicht leisten, es würde seinen Komfort einschränken und ihn in seinen Möglichkeiten beschneiden, das durfte er keinesfalls zulassen.
Er war kein gewöhnlicher Teenager. Wenn er ausnahmsweise etwas auf Papier schrieb, dann nur auf dem hochwertigen Firmenpapier seines Vaters, mintgrünes Bütten mit einem dezenten Wasserzeichen oben links. Und er schrieb immer mit dunkelgrüner Tinte, das war sein Markenzeichen geworden. In einem Anflug von Schwachsinn, den andere vielleicht als Menschlichkeit oder freundschaftliche Verbundenheit verstanden hätten, hatte er Jakob etwas von seinem Vorrat abgegeben. Er hatte es bald bereut, denn Jakob, der ihn zutiefst bewundert hatte und ihm stets wie ein Hündchen nachgelaufen war, hatte sich ebenfalls dunkelgrüne Tintenpatronen besorgt und imitierte ihn, wie schon so oft. Allein dieses schamlose Kopieren seiner Originalität konnte er nicht dulden. Erst recht nicht die Gefährdung seiner elterlichen Beziehung.
Die letzte Stunde im kirchlichen Unterricht hatte ihm dann das Material geliefert. Der Pfaffe hatte Jakob einen Spruch rein gereicht und Jakob hatte das gar nicht cool genommen. Alle hatten das mitbekommen. Ihm hätte das ja nicht passieren können, dass er sich geschämt hätte, weil er diesen dämlichen Konfi-Kalender verlegt hatte, einfach lächerlich. Aber Jakob war eben ein Zwerg, nicht äußerlich, nein da brachte er es schon auf 1,75, aber innerlich, was seine Persönlichkeit betraf, sein Selbstbewusstsein, seine innere Stärke, da war er ein Zwerg. Geradezu prädestiniert für einen Suizid infolge einer Demütigung.
Er wusste nicht mehr, wie er es geschafft hatte, ihn zu der Mutprobe zu überreden. Schließlich hatte Jakob eingewilligt, den Kopf durch die Schlinge gesteckt und den Stuhl weggekickt. Es war abgesprochen, dass Lennart ihn nach dreißig Sekunden rettete. Und Lennart zählte: „27, 28, 29, 30, 31, 32, 33...“, dann sah er schweigend zu, so lange bis Jakob aufhörte zu zappeln. Er sah die ganze Zeit hin. Das würde ihn nur härter machen.
Dann schrieb er den Abschiedsbrief. Zum Glück hatte er von allen Bögen, die er Jakob damals überlassen hatte, das Firmenlogo mit der Schneidemaschine abgetrennt. Die Verbindung zur Firma seines Vaters würde niemand herstellen. Jakobs Handschrift zu imitieren, war eine seiner leichteren Übungen. Eine krakelige Jungenschrift, die der seinen äußerst ähnlich war, nur das s und das t schrieb Jakob anders, aber das bekam er hin. Er war kein gewöhnlicher Teenager.
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Freitag, 31. März 2017
Ketzerkoketterie
c. fabry, 00:03h
Angewidert stieg Keller in sein Auto. Für wen hielt dieser blasierte Theologe sich eigentlich? Einer seiner Konfirmanden hatte sich das Leben genommen, weil er an Depressionen litt. In seinem Abschiedsbrief hatte es geheißen:
„Ich habe lange gehofft, dass irgendwann doch noch etwas aus mir wird, aber als sogar Pastor Mendel gesagt hat, dass er sich fragt, ob Leute, die ihren Konfi-Kalender verlieren, überhaupt noch irgendwas geregelt kriegen, da ist es mir klar geworden. Ich schaffe mein Leben einfach nicht. Und ich will auch niemandem mehr zur Last fallen.“
Nicht die Spur von Schuldbewusstsein oder wenigstens Selbstkritik war in der Miene des Pfarrers aufgetaucht. Er schien sich statt dessen in seiner Einschätzung bestätigt zu fühlen. Wie konnte jemand das Christsein zu seinem Beruf machen und dann derartig verantwortungslos in den Seelen Heranwachsender herumholzen?
Im Gemeindehaus ging die Dienstbesprechung weiter. Regina Führmann sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte sie eine Beerdigung. Ja ganz genau, liebe Leser, die Beisetzung des verstorbenen Konfirmanden. Jakob Ebeling. Und während sie auf heißen Kohlen saß, stahl Reinhard Mendel ihr die Zeit mit Nebensächlichkeiten des Gemeindealltags.
„Hältst du dich nächsten Sonntag eigentlich an den Predigttext?“, fragte er seine Kollegin.
„Natürlich.“, antwortete Regina. „Warum fragst du?“
„Ach, wir haben beim Bibelkreis gestern sehr angeregt diskutiert. Es ging ziemlich ketzerisch zu.“ Er versuchte gewinnend zu lachen, doch sein Gekicher klang irgendwie unstimmig und ein bisschen irrsinnig. „Günther meinte, das Heiligen des Feiertages, könne man auch dahingehend interpretieren, dass man einfach die Füße hochlegen soll und nicht zwingend den Gottesdienst besuchen muss.“
„Was soll denn daran ketzerisch sein?“, fragte die Pfarrerin, „Das Füße Hochlegen ist doch der Sinn des Sonntags. In den zehn Geboten steht nicht: Du sollst den Feiertag heiligen, indem du zwischen zehn und elf Uhr eine umfangreiche Liturgie abspulst in deren Rahmen du zwanzig Minuten zum vorgesehenen Bibeltext predigst.“
„Aber Regina!“, echauffierte sich der Kollege. „Wenn du das am Sonntag von der Kanzel verkündest, kreuzigen dich unsere Hardliner. Ich finde den Gedanken ja auch interessant, aber ich würde das nie öffentlich äußern.“
„Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken, ich muss los, habe gleich eine Beerdigung.“
„Ach ja, der Jakob.“, seufzte Reinhard Mendel. „Das ist ja tragisch, ich wäre eigentlich gern dahin gegangen, normalerweise hätte ich ihn ja auch beerdigt, aber die Eltern haben deutlich erklärt, dass sie mich nicht dabei haben wollen. Eine Unverschämtheit.“
Regina musste sich auf die Zunge beißen, um nicht eine Bemerkung entschlüpfen zu lassen, aus der ihr vollstes Verständnis für die Eltern gesprochen hätte. Sie hatte den Abschiedsbrief selbst in der Hand gehalten. Mit dunkelgrüner Tinte hatte Jakob seine anklagenden letzten Worte auf mintfarbenem Papier festgehalten, in seiner krakeligen Jungenschrift.
Es war die schlimmste Trauerfeier ihres Lebens. Ein Kind, das den Lebensmut verloren hatte, welch eine Verschwendung. Die gebrochenen Eltern, die fassungslosen Freunde, die vielen Menschen am Grab des Jugendlichen. Sie hatte Mühe, nicht selbst in Tränen auszubrechen.
Hinterher legte sie sich in die Badewanne, um den Kopf frei zu kriegen. Sie hatte für heute alle anderen Termine abgesagt. Als sie endlich am Schreibtisch saß und über ihrer Predigt brütete, sehnte sie sich nach Urlaub. Endlich mal wieder einen arbeitsfreien Sonntag erleben. Sie griff nach der hübschen Kladde, in die sie regelmäßig ihre Gedichte schrieb, vielleicht würde sich daraus irgendwann einmal etwas machen lassen. Sie schlug eine neue Seite auf und schrieb hinein:
Sonntag
ausschlafen
Maus gucken
Brötchen zum Frühstück
stricken
Sonntagsmärchen
spazieren gehen
auf der Sonnenterrasse rumliegen
Verkehrsberuhigung
lesen
telefonieren
Kuchen am Nachmittag
vögeln
Tatort gucken
Midsomer Murders
Halleluja!
Schon bezeichnend, dass der Gottesdienst darin nicht vorkam. Schade, dass sie das nicht in ihrer Predigt würde vorlesen können. Sie stellte sich vor, was passieren würde, wenn sie es täte und musste schmunzeln. So vieles, was sich eigentlich hätte ändern müssen, blieb wie es war, weil die Starrsinnigen auf die Bremse traten. Sie hatten Angst, dass sich etwas ändern könnte und sie sich plötzlich in einer Kirche wiederfänden, zu der sie nicht mehr dazu gehörten. Am schlimmsten waren die, die sich für die kritischsten Geister hielten, aber sich selbst und anderen lauter Denkverbote auferlegten. Reinhard Mendel kokettierte mit seinem angeblichen Ketzertum. Wenn der gewusst hätte, für was sie stand, wäre ihm die Spucke weggeblieben.
Sie holte die Post herein. Lennart Behneke hatte ihr eine Ausarbeitung zu seinem Konfirmationsspruch in den Briefkasten gelegt. Sie hatte vorgeschlagen, sich seine Gedanken einmal durchzulesen und gegebenenfalls mit ihrem Kollegen zu reden, der Lennart vorgeworfen hatte, seine Hausaufgabe nicht ordentlich gemacht zu haben. Sie fand es schon unsäglich, Konfirmanden überhaupt mit Hausaufgaben zu behelligen, dann aber ein „Ungenügend“ auszusprechen, war der Gipfel der Anmaßung. Als sie den Zettel in der Hand hielt, lief ihr ein Schauer über den Rücken: es war eine krakelige Jungenschrift in dunkelgrüner Tinte auf mintgrünem Papier.
„Ich habe lange gehofft, dass irgendwann doch noch etwas aus mir wird, aber als sogar Pastor Mendel gesagt hat, dass er sich fragt, ob Leute, die ihren Konfi-Kalender verlieren, überhaupt noch irgendwas geregelt kriegen, da ist es mir klar geworden. Ich schaffe mein Leben einfach nicht. Und ich will auch niemandem mehr zur Last fallen.“
Nicht die Spur von Schuldbewusstsein oder wenigstens Selbstkritik war in der Miene des Pfarrers aufgetaucht. Er schien sich statt dessen in seiner Einschätzung bestätigt zu fühlen. Wie konnte jemand das Christsein zu seinem Beruf machen und dann derartig verantwortungslos in den Seelen Heranwachsender herumholzen?
Im Gemeindehaus ging die Dienstbesprechung weiter. Regina Führmann sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte sie eine Beerdigung. Ja ganz genau, liebe Leser, die Beisetzung des verstorbenen Konfirmanden. Jakob Ebeling. Und während sie auf heißen Kohlen saß, stahl Reinhard Mendel ihr die Zeit mit Nebensächlichkeiten des Gemeindealltags.
„Hältst du dich nächsten Sonntag eigentlich an den Predigttext?“, fragte er seine Kollegin.
„Natürlich.“, antwortete Regina. „Warum fragst du?“
„Ach, wir haben beim Bibelkreis gestern sehr angeregt diskutiert. Es ging ziemlich ketzerisch zu.“ Er versuchte gewinnend zu lachen, doch sein Gekicher klang irgendwie unstimmig und ein bisschen irrsinnig. „Günther meinte, das Heiligen des Feiertages, könne man auch dahingehend interpretieren, dass man einfach die Füße hochlegen soll und nicht zwingend den Gottesdienst besuchen muss.“
„Was soll denn daran ketzerisch sein?“, fragte die Pfarrerin, „Das Füße Hochlegen ist doch der Sinn des Sonntags. In den zehn Geboten steht nicht: Du sollst den Feiertag heiligen, indem du zwischen zehn und elf Uhr eine umfangreiche Liturgie abspulst in deren Rahmen du zwanzig Minuten zum vorgesehenen Bibeltext predigst.“
„Aber Regina!“, echauffierte sich der Kollege. „Wenn du das am Sonntag von der Kanzel verkündest, kreuzigen dich unsere Hardliner. Ich finde den Gedanken ja auch interessant, aber ich würde das nie öffentlich äußern.“
„Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken, ich muss los, habe gleich eine Beerdigung.“
„Ach ja, der Jakob.“, seufzte Reinhard Mendel. „Das ist ja tragisch, ich wäre eigentlich gern dahin gegangen, normalerweise hätte ich ihn ja auch beerdigt, aber die Eltern haben deutlich erklärt, dass sie mich nicht dabei haben wollen. Eine Unverschämtheit.“
Regina musste sich auf die Zunge beißen, um nicht eine Bemerkung entschlüpfen zu lassen, aus der ihr vollstes Verständnis für die Eltern gesprochen hätte. Sie hatte den Abschiedsbrief selbst in der Hand gehalten. Mit dunkelgrüner Tinte hatte Jakob seine anklagenden letzten Worte auf mintfarbenem Papier festgehalten, in seiner krakeligen Jungenschrift.
Es war die schlimmste Trauerfeier ihres Lebens. Ein Kind, das den Lebensmut verloren hatte, welch eine Verschwendung. Die gebrochenen Eltern, die fassungslosen Freunde, die vielen Menschen am Grab des Jugendlichen. Sie hatte Mühe, nicht selbst in Tränen auszubrechen.
Hinterher legte sie sich in die Badewanne, um den Kopf frei zu kriegen. Sie hatte für heute alle anderen Termine abgesagt. Als sie endlich am Schreibtisch saß und über ihrer Predigt brütete, sehnte sie sich nach Urlaub. Endlich mal wieder einen arbeitsfreien Sonntag erleben. Sie griff nach der hübschen Kladde, in die sie regelmäßig ihre Gedichte schrieb, vielleicht würde sich daraus irgendwann einmal etwas machen lassen. Sie schlug eine neue Seite auf und schrieb hinein:
Sonntag
ausschlafen
Maus gucken
Brötchen zum Frühstück
stricken
Sonntagsmärchen
spazieren gehen
auf der Sonnenterrasse rumliegen
Verkehrsberuhigung
lesen
telefonieren
Kuchen am Nachmittag
vögeln
Tatort gucken
Midsomer Murders
Halleluja!
Schon bezeichnend, dass der Gottesdienst darin nicht vorkam. Schade, dass sie das nicht in ihrer Predigt würde vorlesen können. Sie stellte sich vor, was passieren würde, wenn sie es täte und musste schmunzeln. So vieles, was sich eigentlich hätte ändern müssen, blieb wie es war, weil die Starrsinnigen auf die Bremse traten. Sie hatten Angst, dass sich etwas ändern könnte und sie sich plötzlich in einer Kirche wiederfänden, zu der sie nicht mehr dazu gehörten. Am schlimmsten waren die, die sich für die kritischsten Geister hielten, aber sich selbst und anderen lauter Denkverbote auferlegten. Reinhard Mendel kokettierte mit seinem angeblichen Ketzertum. Wenn der gewusst hätte, für was sie stand, wäre ihm die Spucke weggeblieben.
Sie holte die Post herein. Lennart Behneke hatte ihr eine Ausarbeitung zu seinem Konfirmationsspruch in den Briefkasten gelegt. Sie hatte vorgeschlagen, sich seine Gedanken einmal durchzulesen und gegebenenfalls mit ihrem Kollegen zu reden, der Lennart vorgeworfen hatte, seine Hausaufgabe nicht ordentlich gemacht zu haben. Sie fand es schon unsäglich, Konfirmanden überhaupt mit Hausaufgaben zu behelligen, dann aber ein „Ungenügend“ auszusprechen, war der Gipfel der Anmaßung. Als sie den Zettel in der Hand hielt, lief ihr ein Schauer über den Rücken: es war eine krakelige Jungenschrift in dunkelgrüner Tinte auf mintgrünem Papier.
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Freitag, 24. März 2017
Alles wegen B., weiblich - abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 11:27h
„Schickt mir diesen Uriah“, befiehlt David. „Ich bin wild entschlossen, die Geschichte zu einem sauberen Ende zu bringen. Uriah ist ein verlässlicher Soldat, der Befehlen von oben stets nachkommt, es dürfte also ein Leichtes sein, die Angelegenheit zu regeln.“
Uriah tritt auf und wartet, dass der König das Wort an ihn richtet.
„Mein lieber Uriah. Wie lange bist du schon von zu Hause fort?“
„Achtzehn Monate.“
„Das ist eine ziemlich lange Zeit, geradezu eine Zumutung, wenn man bedenkt, dass deine schöne, junge Frau die ganze Zeit sehnsüchtig zu Hause sitzt und auf Dich wartet. Die Jahre machen sie nicht besser. Du bist ein treuer Diener des Hofes, ein stattlicher Soldat voller Verdienste, wie mir mehrfach zu Ohren gekommen ist. Geh heim, lass dich ein bisschen von deiner Angetrauten verwöhnen, ihr habt es beide redlich verdient.“
„Das kann ich nicht bringen. Meine Waffenbrüder schlafen im Staub vor den Mauern der Stadt und ich soll im weichen Bett bei meiner Frau liegen? Ich könnte den Rest meines Lebens nicht mehr in den Spiegel blicken.“
„Dann trink wenigstens einen Schluck mit mir. Dieser edle Tropfen stammt aus den Trauben die auf den Weinbergen bei Hebron gereift sind, ein hervorragender Jahrgang.“
„Ist er denn auch koscher?“
„Selbstverständlich! Ich bin ein gesalbter des Herrn. Nimm und trink!“
Uriah kostet den Wein.
„Mmh. Wirklich außerordentlich.“
„Sag ich doch. Komm, wir trinken auf die vergangenen Siege und jene, die noch kommen sollen.“
Nach etlichen Bechern Wein kann Uriah kaum noch gerade stehen. Der König dagegen ist noch im Vollbesitz seiner Sinne.
„Los Uriah, Du musst jetzt dringend ins Bett und Deinen Rausch ausschlafen. Aber nicht, dass deine Kameraden dich so sehen. Geh lieber nach Hause und schlaf im eigenen Bett. Morgen kannst du gern berichten, du hättest die ganze Nacht den König in geheimer Mission beraten. Ich werde das bezeugen.“
„Nee. Dss kannich nich mach'n – hk -ich schlaf bei mein' Kam'rad'n, die ham da nix bei.“
Uriah geht ab. David steht die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Er flüstert vor sich hin: „Verdammt, was mach ich denn jetzt? Wenn Bathseba niederkommt, nachdem sie ihren Mann nachweislich zwei Jahre nicht gesehen hat, wird man sie der Hurerei bezichtigen und sie steinigen. Und wenn ich eingreife und zu dem Kind stehe, bin ich als König erledigt, dann kann ich nur noch den Despoten geben. Freiwillig wird mein Volk mir nicht mehr treu zur Seite stehen. Ach wäre ich doch an diesem Nachmittag nicht auf die Terrasse gegangen und hätte ich nicht diese Schönheit bei ihrer rituellen Waschung beobachtet. Dann hätte ich mich nicht verliebt und sie nie zu mir kommen lassen, dann wäre das alles nicht passiert. Vielleicht könnte Bathseba ihren Mann im Feld besuchen? Ach das ist auch Quatsch, er würde sie nie beschlafen, wenn überall seine Kameraden da herumlungern. Den Plan Kuckuckskind muss ich aufgeben. Nun muss doch Plan B her, es nützt ja nichts. Wenn der Uriah doch nicht so starrsinnig wäre, dann hätte noch alles gut werden können.“
David macht sich durch Klopfzeichen bemerkbar. Ein Diener erscheint. David befiehlt:
„Bring mir den Schreiber, er soll einen Brief aufsetzen und ihn gleich morgen früh nach Sonnenaufgang dem General Joab überbringen. Es ist dringend.“
Der Diener geht ab, der Schreiber erscheint. David diktiert:
„Mein lieber und treuer Joab. Stell den Soldaten Uriah in die erste Reihe, wo die Schlacht am heftigsten tobt. Vereinbare mit allen anderen ein Zeichen für einen plötzlich Rückzug, nur Uriah soll nichts davon wissen, damit er stehen bleibt und erschlagen wird.“
Der Bote geht ab. Einige Tage später betritt Joab den Thronsaal und überbringt folgende Nachricht: „Sehr verehrter König, ich bin hier, um Euch mitzuteilen, die Männer von Rabba waren auf dem Feld zu übermächtig, wir drängten sie zurück bis vor die Tore der Stadt, wo die Mauerschützen einige von uns erschossen, auch Uriah, den Hetiter.“
Ein Mann im schwarzen Rollkragen-Pullover und Cremefarbenen Jacket verkündet: „In der Pause, für die wir uns 20 Minuten Zeit nehmen, dürfen Sie sich ein Getränk gönnen. Danach folgt der zweite Teil, den Sie sicher mit Spannung erwarten.“
Eine kleine Runde von Zuschauern nippt an ihren Sektgläsern.
„Also den David-Darsteller fand ich wirklich ganz hervorragend.“, meinte Pfarrer Rauer. „Dieses Hin- und Hergerissensein zwischen dem Richtigen, das er tun will und den niederen Motiven, die immer wieder obsiegen. Die Stimmlage, das Minenspiel, der Hermann ist ganz hinter dem David zurückgetreten.“
„Den David fand ich auch gut.“, erwiderte Pfarrerin Gödde. „Aber von Joab hätte ich mir mehr Widerspruchsgeist gewünscht. Im Samuel-Text spürt man ja schon seine innere Abscheu gegen Davids Befehl, den er nur widerwillig ausführt und der ihn mit Verachtung erfüllt. Und im Text überbringt er die Nachricht ja auch nicht persönlich sondern schickt einen Boten.“
„Ach“, mischt Karl Reschke sich ein. „In der Liebe und in der Kunst ist alles erlaubt.“
„Heißt das nicht in der Liebe und im Krieg?“, hakt Pfarrerin Gödde nach.
Niemand antwortet.
Nach der Pause stockt das Stück plötzlich. Nun müsste der Prophet Nathan im Thronsaal auftauchen, doch er erscheint nicht. Karl Reschke flüstert in Pfarrer Rauers Ohr: „Ob der Georg wohl immer noch im Uriah-Kostüm feststeckt?“
„Wieso?“
„Na, er spielt doch auch den Nathan. Die beiden Rollen waren doch geradezu prädestiniert für eine Doppelrolle. Der Mahner und Überbringer der Strafe mit dem Gesicht des Opfers, das verstärkt doch die Dramatik.“
„Hm.“
Lothar Rosche verschwindet hinter der Bühne. Als Regisseur weiß er am besten, wer hier gerade fehlt. Nach wenigen Augenblicken kehrt er leichenblass zurück.
„Der Georg“, wimmert er „Der Georg.“ Mehr bringt er nicht über die Lippen
Beherzt läuft Pfarrerin Gödde hinter die Bühne und sieht den Georg ebenfalls. Er liegt in unnatürlicher Körperhaltung in der Garderobe, seinen Kopf bedecken mehrere blutende Wunden, alles liegt voller Tonscherben und ist mit Blut besprenkelt. Sie fühlt nach seinem Puls, überprüft seine Atmung, stellt aber kein Lebenszeichen fest. Irgendjemand hat schon die Polizei gerufen, die sind in Windeseile da und niemand darf den Saal verlassen. Befragungen, Zeugenaussagen und schon jetzt die Frage nach dem Motiv.
Kommisar Stefan Keller hat mehrere Hinweise bekommen.
„Der Georg war ja schon ein Intrigant. Die Doppeltrolle hat er dem Jochen abgeschwatzt.“
Der Jochen hat aber die gesamt Pause hindurch Sekt ausgeschenkt.
„Georg Mertens war ein regelrechter Schürzenjäger. Der hat schon vielen Frauen das Herz gebrochen, vorzugsweise den verheirateten, die halten sich mehr zurück, weil sie etwas zu verlieren haben.“
„Der Georg hat sich ja selbst als Atheisten bezeichnet. Schon komisch, dass so einer eine Rolle in einem biblischen Stück spielt und dann an der Stelle auf die Weise stirbt, wie der Charakter den er verkörpert.“
Keller studierte das skurrile Gesicht der Aussagenden, hielt es aber für unwahrscheinlich dass sie mit ihrem hinfälligen Körper und den schwer von Arthritis verformten Händen in der Lage war, jemandem mit Wucht mehrere Male eine Tonvase über den Schädel zu ziehen.
„Das musste ja passieren. Der Georg hatte ja was mit der Frau vom Karl, Karl Reschke, der Autor des Stückes. Da ist wohl jemandem die Sicherung durchgebrannt.“
Karl Reschke hat ungefähr 120 Zeuginnen und Zeugen, dass er den Saal nicht mal für einen Toilettengang verlassen hat.
In der Ecke steht ein untersetzter Mann in den Fünfzigern, der auf Keller seltsam aus der Zeit gefallen wirkt, so als gehöre er eigentlich der Generation seiner Eltern an. Bei Russlanddeutschen mit starker religiöser Prägung ist ihm das schon öfter aufgefallen. Der Mann ist ebenfalls sehr blass. Keller geht auf ihn zu.
„Geht es Ihnen gut?“
„Danke, ja, alles in Ordnung.“
„Und wer sind Sie?“
„Ich bin Peter Kleemann. Ich bin der Küster.“
„Waren Sie auch während des gesamten Stückes hier vor Ort?“
„Ja, ich habe bei solchen Veranstaltungen Dienst.“
„Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?“
„Nein.“, antwortet der Küster und versucht ein entspanntes Lächeln, das ihm aber nicht sonderlich gelingt. „So viele Leute, die alle durcheinanderlaufen. Ich habe nur aufgepasst, dass keiner die Notausgänge zuräumt und dass schnell ein Krankenwagen zur Stelle ist, falls jemand ohnmächtig wird.“
„Haben Sie auch meine Kollegen informiert?“
„Nein, das war jemand Anderes.“
Der Küster wirkt nach wie vor aufgeregt, seine Augen huschen hin und her, er steht offenkundig unter Schock.
„Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?“
„Ja, natürlich.“
„Haben Sie den Toten gesehen?“
„Nein.“
„Haben Sie eine Ahnung, woher das Messer stammen könnte?“
„Welches Messer?“
„Die Mordwaffe.“
„Aber das war doch eine Vase.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Alle reden darüber.“
„Niemand redet darüber. Ich glaube, Sie müssen uns begleiten.“
Es dauert ein bisschen, bis Peter Kleemann redet. Als es so weit ist, bricht es aus ihm heraus: „Diese Kirchengemeinde ist kein christlicher Ort, diese Kirchengemeinde ist ein Sündenpfuhl. Spötter und Ketzer sitzen im Presbyterium, der Jugendarbeiter ist homosexuell, der Pfarrer prasst mit seinem vielen Geld, ist aber geizig, wenn er einmal anderen etwas abgeben soll und der Georg Mertens hat nicht nur überall herumposaunt, dass er nicht an Gott glaubt, er hat mehrfach die Ehe gebrochen und allen ins Gesicht gegrinst. Mich hat er behandelt wie seinen Lakaien, dabei hat er hier nur Theater gespielt und ist zum Männerkreis gegangen. Irgendjemand musste diese Gemeinde einfach wachrütteln, ihnen zeigen, dass sie so nicht weiter machen können, dass das, was sie da tun, nicht Gottes Wille ist.“
„Und Sie kennen den Willen Gottes?“
„Selbstverständlich. Den könnte jeder kennen. Man muss nur gründlich in der Bibel lesen, da steht alles drin.“
„Soso.“
„Und von einer evangelischen Kirchengemeinde erwarte ich das auch. Aber in dieser Gemeinde hat sich der Teufel ans Werk gemacht.“
„Da gebe ich Ihnen Recht.“, erwiderte Keller. „Nur denke ich, dass wir beide in unserer Auffassung darüber, wer oder was der Teufel ist, deutlich auseinandergehen. Sie werden mit dieser Gemeinde jedenfalls nie wieder in Kontakt treten müssen. Dafür sorgen wir.“
Uriah tritt auf und wartet, dass der König das Wort an ihn richtet.
„Mein lieber Uriah. Wie lange bist du schon von zu Hause fort?“
„Achtzehn Monate.“
„Das ist eine ziemlich lange Zeit, geradezu eine Zumutung, wenn man bedenkt, dass deine schöne, junge Frau die ganze Zeit sehnsüchtig zu Hause sitzt und auf Dich wartet. Die Jahre machen sie nicht besser. Du bist ein treuer Diener des Hofes, ein stattlicher Soldat voller Verdienste, wie mir mehrfach zu Ohren gekommen ist. Geh heim, lass dich ein bisschen von deiner Angetrauten verwöhnen, ihr habt es beide redlich verdient.“
„Das kann ich nicht bringen. Meine Waffenbrüder schlafen im Staub vor den Mauern der Stadt und ich soll im weichen Bett bei meiner Frau liegen? Ich könnte den Rest meines Lebens nicht mehr in den Spiegel blicken.“
„Dann trink wenigstens einen Schluck mit mir. Dieser edle Tropfen stammt aus den Trauben die auf den Weinbergen bei Hebron gereift sind, ein hervorragender Jahrgang.“
„Ist er denn auch koscher?“
„Selbstverständlich! Ich bin ein gesalbter des Herrn. Nimm und trink!“
Uriah kostet den Wein.
„Mmh. Wirklich außerordentlich.“
„Sag ich doch. Komm, wir trinken auf die vergangenen Siege und jene, die noch kommen sollen.“
Nach etlichen Bechern Wein kann Uriah kaum noch gerade stehen. Der König dagegen ist noch im Vollbesitz seiner Sinne.
„Los Uriah, Du musst jetzt dringend ins Bett und Deinen Rausch ausschlafen. Aber nicht, dass deine Kameraden dich so sehen. Geh lieber nach Hause und schlaf im eigenen Bett. Morgen kannst du gern berichten, du hättest die ganze Nacht den König in geheimer Mission beraten. Ich werde das bezeugen.“
„Nee. Dss kannich nich mach'n – hk -ich schlaf bei mein' Kam'rad'n, die ham da nix bei.“
Uriah geht ab. David steht die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Er flüstert vor sich hin: „Verdammt, was mach ich denn jetzt? Wenn Bathseba niederkommt, nachdem sie ihren Mann nachweislich zwei Jahre nicht gesehen hat, wird man sie der Hurerei bezichtigen und sie steinigen. Und wenn ich eingreife und zu dem Kind stehe, bin ich als König erledigt, dann kann ich nur noch den Despoten geben. Freiwillig wird mein Volk mir nicht mehr treu zur Seite stehen. Ach wäre ich doch an diesem Nachmittag nicht auf die Terrasse gegangen und hätte ich nicht diese Schönheit bei ihrer rituellen Waschung beobachtet. Dann hätte ich mich nicht verliebt und sie nie zu mir kommen lassen, dann wäre das alles nicht passiert. Vielleicht könnte Bathseba ihren Mann im Feld besuchen? Ach das ist auch Quatsch, er würde sie nie beschlafen, wenn überall seine Kameraden da herumlungern. Den Plan Kuckuckskind muss ich aufgeben. Nun muss doch Plan B her, es nützt ja nichts. Wenn der Uriah doch nicht so starrsinnig wäre, dann hätte noch alles gut werden können.“
David macht sich durch Klopfzeichen bemerkbar. Ein Diener erscheint. David befiehlt:
„Bring mir den Schreiber, er soll einen Brief aufsetzen und ihn gleich morgen früh nach Sonnenaufgang dem General Joab überbringen. Es ist dringend.“
Der Diener geht ab, der Schreiber erscheint. David diktiert:
„Mein lieber und treuer Joab. Stell den Soldaten Uriah in die erste Reihe, wo die Schlacht am heftigsten tobt. Vereinbare mit allen anderen ein Zeichen für einen plötzlich Rückzug, nur Uriah soll nichts davon wissen, damit er stehen bleibt und erschlagen wird.“
Der Bote geht ab. Einige Tage später betritt Joab den Thronsaal und überbringt folgende Nachricht: „Sehr verehrter König, ich bin hier, um Euch mitzuteilen, die Männer von Rabba waren auf dem Feld zu übermächtig, wir drängten sie zurück bis vor die Tore der Stadt, wo die Mauerschützen einige von uns erschossen, auch Uriah, den Hetiter.“
Ein Mann im schwarzen Rollkragen-Pullover und Cremefarbenen Jacket verkündet: „In der Pause, für die wir uns 20 Minuten Zeit nehmen, dürfen Sie sich ein Getränk gönnen. Danach folgt der zweite Teil, den Sie sicher mit Spannung erwarten.“
Eine kleine Runde von Zuschauern nippt an ihren Sektgläsern.
„Also den David-Darsteller fand ich wirklich ganz hervorragend.“, meinte Pfarrer Rauer. „Dieses Hin- und Hergerissensein zwischen dem Richtigen, das er tun will und den niederen Motiven, die immer wieder obsiegen. Die Stimmlage, das Minenspiel, der Hermann ist ganz hinter dem David zurückgetreten.“
„Den David fand ich auch gut.“, erwiderte Pfarrerin Gödde. „Aber von Joab hätte ich mir mehr Widerspruchsgeist gewünscht. Im Samuel-Text spürt man ja schon seine innere Abscheu gegen Davids Befehl, den er nur widerwillig ausführt und der ihn mit Verachtung erfüllt. Und im Text überbringt er die Nachricht ja auch nicht persönlich sondern schickt einen Boten.“
„Ach“, mischt Karl Reschke sich ein. „In der Liebe und in der Kunst ist alles erlaubt.“
„Heißt das nicht in der Liebe und im Krieg?“, hakt Pfarrerin Gödde nach.
Niemand antwortet.
Nach der Pause stockt das Stück plötzlich. Nun müsste der Prophet Nathan im Thronsaal auftauchen, doch er erscheint nicht. Karl Reschke flüstert in Pfarrer Rauers Ohr: „Ob der Georg wohl immer noch im Uriah-Kostüm feststeckt?“
„Wieso?“
„Na, er spielt doch auch den Nathan. Die beiden Rollen waren doch geradezu prädestiniert für eine Doppelrolle. Der Mahner und Überbringer der Strafe mit dem Gesicht des Opfers, das verstärkt doch die Dramatik.“
„Hm.“
Lothar Rosche verschwindet hinter der Bühne. Als Regisseur weiß er am besten, wer hier gerade fehlt. Nach wenigen Augenblicken kehrt er leichenblass zurück.
„Der Georg“, wimmert er „Der Georg.“ Mehr bringt er nicht über die Lippen
Beherzt läuft Pfarrerin Gödde hinter die Bühne und sieht den Georg ebenfalls. Er liegt in unnatürlicher Körperhaltung in der Garderobe, seinen Kopf bedecken mehrere blutende Wunden, alles liegt voller Tonscherben und ist mit Blut besprenkelt. Sie fühlt nach seinem Puls, überprüft seine Atmung, stellt aber kein Lebenszeichen fest. Irgendjemand hat schon die Polizei gerufen, die sind in Windeseile da und niemand darf den Saal verlassen. Befragungen, Zeugenaussagen und schon jetzt die Frage nach dem Motiv.
Kommisar Stefan Keller hat mehrere Hinweise bekommen.
„Der Georg war ja schon ein Intrigant. Die Doppeltrolle hat er dem Jochen abgeschwatzt.“
Der Jochen hat aber die gesamt Pause hindurch Sekt ausgeschenkt.
„Georg Mertens war ein regelrechter Schürzenjäger. Der hat schon vielen Frauen das Herz gebrochen, vorzugsweise den verheirateten, die halten sich mehr zurück, weil sie etwas zu verlieren haben.“
„Der Georg hat sich ja selbst als Atheisten bezeichnet. Schon komisch, dass so einer eine Rolle in einem biblischen Stück spielt und dann an der Stelle auf die Weise stirbt, wie der Charakter den er verkörpert.“
Keller studierte das skurrile Gesicht der Aussagenden, hielt es aber für unwahrscheinlich dass sie mit ihrem hinfälligen Körper und den schwer von Arthritis verformten Händen in der Lage war, jemandem mit Wucht mehrere Male eine Tonvase über den Schädel zu ziehen.
„Das musste ja passieren. Der Georg hatte ja was mit der Frau vom Karl, Karl Reschke, der Autor des Stückes. Da ist wohl jemandem die Sicherung durchgebrannt.“
Karl Reschke hat ungefähr 120 Zeuginnen und Zeugen, dass er den Saal nicht mal für einen Toilettengang verlassen hat.
In der Ecke steht ein untersetzter Mann in den Fünfzigern, der auf Keller seltsam aus der Zeit gefallen wirkt, so als gehöre er eigentlich der Generation seiner Eltern an. Bei Russlanddeutschen mit starker religiöser Prägung ist ihm das schon öfter aufgefallen. Der Mann ist ebenfalls sehr blass. Keller geht auf ihn zu.
„Geht es Ihnen gut?“
„Danke, ja, alles in Ordnung.“
„Und wer sind Sie?“
„Ich bin Peter Kleemann. Ich bin der Küster.“
„Waren Sie auch während des gesamten Stückes hier vor Ort?“
„Ja, ich habe bei solchen Veranstaltungen Dienst.“
„Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?“
„Nein.“, antwortet der Küster und versucht ein entspanntes Lächeln, das ihm aber nicht sonderlich gelingt. „So viele Leute, die alle durcheinanderlaufen. Ich habe nur aufgepasst, dass keiner die Notausgänge zuräumt und dass schnell ein Krankenwagen zur Stelle ist, falls jemand ohnmächtig wird.“
„Haben Sie auch meine Kollegen informiert?“
„Nein, das war jemand Anderes.“
Der Küster wirkt nach wie vor aufgeregt, seine Augen huschen hin und her, er steht offenkundig unter Schock.
„Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?“
„Ja, natürlich.“
„Haben Sie den Toten gesehen?“
„Nein.“
„Haben Sie eine Ahnung, woher das Messer stammen könnte?“
„Welches Messer?“
„Die Mordwaffe.“
„Aber das war doch eine Vase.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Alle reden darüber.“
„Niemand redet darüber. Ich glaube, Sie müssen uns begleiten.“
Es dauert ein bisschen, bis Peter Kleemann redet. Als es so weit ist, bricht es aus ihm heraus: „Diese Kirchengemeinde ist kein christlicher Ort, diese Kirchengemeinde ist ein Sündenpfuhl. Spötter und Ketzer sitzen im Presbyterium, der Jugendarbeiter ist homosexuell, der Pfarrer prasst mit seinem vielen Geld, ist aber geizig, wenn er einmal anderen etwas abgeben soll und der Georg Mertens hat nicht nur überall herumposaunt, dass er nicht an Gott glaubt, er hat mehrfach die Ehe gebrochen und allen ins Gesicht gegrinst. Mich hat er behandelt wie seinen Lakaien, dabei hat er hier nur Theater gespielt und ist zum Männerkreis gegangen. Irgendjemand musste diese Gemeinde einfach wachrütteln, ihnen zeigen, dass sie so nicht weiter machen können, dass das, was sie da tun, nicht Gottes Wille ist.“
„Und Sie kennen den Willen Gottes?“
„Selbstverständlich. Den könnte jeder kennen. Man muss nur gründlich in der Bibel lesen, da steht alles drin.“
„Soso.“
„Und von einer evangelischen Kirchengemeinde erwarte ich das auch. Aber in dieser Gemeinde hat sich der Teufel ans Werk gemacht.“
„Da gebe ich Ihnen Recht.“, erwiderte Keller. „Nur denke ich, dass wir beide in unserer Auffassung darüber, wer oder was der Teufel ist, deutlich auseinandergehen. Sie werden mit dieser Gemeinde jedenfalls nie wieder in Kontakt treten müssen. Dafür sorgen wir.“
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