... newer stories
Dienstag, 4. April 2017
Lennart
c. fabry, 11:35h
Der Vater war chronisch abwesend. 1967 hätte niemand das in irgendeiner Weise ungewöhnlich gefunden. 2017 jedoch waren Väter im Familienleben präsenter geworden. Nicht in gleicher Weise wie die Mütter – von einigen Ausnahmen einmal abgesehen – aber präsenter. Doch dieser Vater leitete ein Unternehmen. 16-Stunden-Tage waren die Regel. Freie Wochenenden gab es kaum. Er war der Versorger, ansonsten ein Fremder, ein Abstraktum.
Die Mutter war körperlich anwesend. Sie war karitativ für den Lions-Club tätig, bei dem ihr Gatte ordentliches Mitglied war. Frauen waren hier nach wie vor nur schmückendes Beiwerk. Die Mutter hatte viele Termine, um repräsentationsfähig und präsentabel zu bleiben.
Der Sohn war dreizehn, fast vierzehn Jahre alt. Er hatte alles, was Jugendliche in seinem Alter sich wünschen können: PC, Tablett, PS2, I-Phone 5, BMX-Rad, Rennrad, Longboard, Stereoanlage...die üblichen Konfirmationsgeschenke würden für ihn nicht mehr infrage kommen. Das müsste schon eine besondere Reise sein oder ein teures Event. Seine Mutter hatte schon ein paar Mal gegoogelt, abends, wenn der Junge schlief. Wenn sie dachte, dass der Junge schlief.
Der Junge war frei wie ein Vogel. Die Ergebnisse mussten am Ende stimmen, wie er dahin kam, war egal. Bis jetzt hatte er sich leidlich durchlaviert. Wo es in der Schule hakte, half das große Taschengeld. Überall konnte man sich Unterstützung kaufen, es war alles eine Frage des Preises.
Dann kam aber auch noch dieser kirchliche Unterricht dazu, bei diesem blöden Pfaffen, den wirklich kein Mensch ernst nehmen konnte, nicht einmal seine Eltern. Diesen Foliengriller steckte er mit links in die Tasche und das ließ er ihn auch spüren. Er würde in wenigen Jahren ein Weltmarkt-relevantes Unternehmen leiten, wer war schon dieser Pfaffe mit seinen zehn Geboten, seinen uralten Chorälen, die kein Mensch mehr verstand und seinen flachen langweiligen Geschichten. Er musste seine 1 1/2 Jahre absitzen, dann das Ritual in der Kirche über sich ergehen lassen und seine Eltern waren zufrieden. Es war überaus wichtig, sie zufrieden zu stellen, sonst liefen sie nicht rund. Und wenn sie nicht rund liefen, bekam er nicht, was er wollte.
Aber er brauchte etwas zur Kompensation. Jede Woche zu diesem blöden Geseier ein entspanntes Gesicht zu machen, das war einfach zu viel verlangt. Trotz seiner Bemühungen, war er schon mehrfach mit dem Pfaffen aneinandergeraten, mal waren seine Fragen zu kritisch, mal hatte er einen Kaugummi im Mund, mal war er abgelenkt von erhellenderen Gesprächen mit seinen Sitznachbarn. Der Pfaffe hatte ihn auf dem Kieker, er musste vorsichtig sein. Aber nichts setzte ihn so sehr unter inneren Druck wie Speichelleckerei, ganz besonders, wenn er den, dessen Speichel er lecken sollte, als minderwertig erachtete. Diesen Druck wurde er nur los, indem er denjenigen, dem er sich unterwerfen musste, demütigte. Er hatte sich den Klassiker gegönnt: Brennende Zeitung auf Hundescheiße vor Pfarrers Haustür, klingeln, weglaufen. Es hatte funktioniert, der Pfaffe hatte reichlich Scheiße am Schuh. Und geflucht hatte er, dass es eine wahre Wonne war. So ein Erlebnis gewann deutlich an Wert, wenn man es mit anderen teilen und ihre Bewunderung einheimsen konnte. Er hatte es gefilmt und herum gezeigt. Das brachte ihm große Anerkennung.
Doch dann bekam er Streit mit Jakob. Er wusste nicht einmal mehr warum, aber Jakob hatte schließlich angekündigt, ihn beim Pfaffen anzuschwärzen, ihm das mit dem Video zu erzählen, das Lennart überall herumgezeigt hatte, das mit der Scheiße am Schuh. Im Grunde wäre es ein Genuss gewesen, ins Gesicht des Pfaffen zu blicken, in dem Wissen, dass er Kenntnis davon hatte, wer ihm diese unliebsame Überraschung beschert hatte, wer ihn letztendlich gefickt hatte. Doch so wie dieser Pfaffe drauf war, würde er sich weigern, Lennart zu konfirmieren. Seine Eltern würden unzufrieden mit ihm sein, weil das Ergebnis nicht stimmte. Das konnte er sich nicht leisten, es würde seinen Komfort einschränken und ihn in seinen Möglichkeiten beschneiden, das durfte er keinesfalls zulassen.
Er war kein gewöhnlicher Teenager. Wenn er ausnahmsweise etwas auf Papier schrieb, dann nur auf dem hochwertigen Firmenpapier seines Vaters, mintgrünes Bütten mit einem dezenten Wasserzeichen oben links. Und er schrieb immer mit dunkelgrüner Tinte, das war sein Markenzeichen geworden. In einem Anflug von Schwachsinn, den andere vielleicht als Menschlichkeit oder freundschaftliche Verbundenheit verstanden hätten, hatte er Jakob etwas von seinem Vorrat abgegeben. Er hatte es bald bereut, denn Jakob, der ihn zutiefst bewundert hatte und ihm stets wie ein Hündchen nachgelaufen war, hatte sich ebenfalls dunkelgrüne Tintenpatronen besorgt und imitierte ihn, wie schon so oft. Allein dieses schamlose Kopieren seiner Originalität konnte er nicht dulden. Erst recht nicht die Gefährdung seiner elterlichen Beziehung.
Die letzte Stunde im kirchlichen Unterricht hatte ihm dann das Material geliefert. Der Pfaffe hatte Jakob einen Spruch rein gereicht und Jakob hatte das gar nicht cool genommen. Alle hatten das mitbekommen. Ihm hätte das ja nicht passieren können, dass er sich geschämt hätte, weil er diesen dämlichen Konfi-Kalender verlegt hatte, einfach lächerlich. Aber Jakob war eben ein Zwerg, nicht äußerlich, nein da brachte er es schon auf 1,75, aber innerlich, was seine Persönlichkeit betraf, sein Selbstbewusstsein, seine innere Stärke, da war er ein Zwerg. Geradezu prädestiniert für einen Suizid infolge einer Demütigung.
Er wusste nicht mehr, wie er es geschafft hatte, ihn zu der Mutprobe zu überreden. Schließlich hatte Jakob eingewilligt, den Kopf durch die Schlinge gesteckt und den Stuhl weggekickt. Es war abgesprochen, dass Lennart ihn nach dreißig Sekunden rettete. Und Lennart zählte: „27, 28, 29, 30, 31, 32, 33...“, dann sah er schweigend zu, so lange bis Jakob aufhörte zu zappeln. Er sah die ganze Zeit hin. Das würde ihn nur härter machen.
Dann schrieb er den Abschiedsbrief. Zum Glück hatte er von allen Bögen, die er Jakob damals überlassen hatte, das Firmenlogo mit der Schneidemaschine abgetrennt. Die Verbindung zur Firma seines Vaters würde niemand herstellen. Jakobs Handschrift zu imitieren, war eine seiner leichteren Übungen. Eine krakelige Jungenschrift, die der seinen äußerst ähnlich war, nur das s und das t schrieb Jakob anders, aber das bekam er hin. Er war kein gewöhnlicher Teenager.
Die Mutter war körperlich anwesend. Sie war karitativ für den Lions-Club tätig, bei dem ihr Gatte ordentliches Mitglied war. Frauen waren hier nach wie vor nur schmückendes Beiwerk. Die Mutter hatte viele Termine, um repräsentationsfähig und präsentabel zu bleiben.
Der Sohn war dreizehn, fast vierzehn Jahre alt. Er hatte alles, was Jugendliche in seinem Alter sich wünschen können: PC, Tablett, PS2, I-Phone 5, BMX-Rad, Rennrad, Longboard, Stereoanlage...die üblichen Konfirmationsgeschenke würden für ihn nicht mehr infrage kommen. Das müsste schon eine besondere Reise sein oder ein teures Event. Seine Mutter hatte schon ein paar Mal gegoogelt, abends, wenn der Junge schlief. Wenn sie dachte, dass der Junge schlief.
Der Junge war frei wie ein Vogel. Die Ergebnisse mussten am Ende stimmen, wie er dahin kam, war egal. Bis jetzt hatte er sich leidlich durchlaviert. Wo es in der Schule hakte, half das große Taschengeld. Überall konnte man sich Unterstützung kaufen, es war alles eine Frage des Preises.
Dann kam aber auch noch dieser kirchliche Unterricht dazu, bei diesem blöden Pfaffen, den wirklich kein Mensch ernst nehmen konnte, nicht einmal seine Eltern. Diesen Foliengriller steckte er mit links in die Tasche und das ließ er ihn auch spüren. Er würde in wenigen Jahren ein Weltmarkt-relevantes Unternehmen leiten, wer war schon dieser Pfaffe mit seinen zehn Geboten, seinen uralten Chorälen, die kein Mensch mehr verstand und seinen flachen langweiligen Geschichten. Er musste seine 1 1/2 Jahre absitzen, dann das Ritual in der Kirche über sich ergehen lassen und seine Eltern waren zufrieden. Es war überaus wichtig, sie zufrieden zu stellen, sonst liefen sie nicht rund. Und wenn sie nicht rund liefen, bekam er nicht, was er wollte.
Aber er brauchte etwas zur Kompensation. Jede Woche zu diesem blöden Geseier ein entspanntes Gesicht zu machen, das war einfach zu viel verlangt. Trotz seiner Bemühungen, war er schon mehrfach mit dem Pfaffen aneinandergeraten, mal waren seine Fragen zu kritisch, mal hatte er einen Kaugummi im Mund, mal war er abgelenkt von erhellenderen Gesprächen mit seinen Sitznachbarn. Der Pfaffe hatte ihn auf dem Kieker, er musste vorsichtig sein. Aber nichts setzte ihn so sehr unter inneren Druck wie Speichelleckerei, ganz besonders, wenn er den, dessen Speichel er lecken sollte, als minderwertig erachtete. Diesen Druck wurde er nur los, indem er denjenigen, dem er sich unterwerfen musste, demütigte. Er hatte sich den Klassiker gegönnt: Brennende Zeitung auf Hundescheiße vor Pfarrers Haustür, klingeln, weglaufen. Es hatte funktioniert, der Pfaffe hatte reichlich Scheiße am Schuh. Und geflucht hatte er, dass es eine wahre Wonne war. So ein Erlebnis gewann deutlich an Wert, wenn man es mit anderen teilen und ihre Bewunderung einheimsen konnte. Er hatte es gefilmt und herum gezeigt. Das brachte ihm große Anerkennung.
Doch dann bekam er Streit mit Jakob. Er wusste nicht einmal mehr warum, aber Jakob hatte schließlich angekündigt, ihn beim Pfaffen anzuschwärzen, ihm das mit dem Video zu erzählen, das Lennart überall herumgezeigt hatte, das mit der Scheiße am Schuh. Im Grunde wäre es ein Genuss gewesen, ins Gesicht des Pfaffen zu blicken, in dem Wissen, dass er Kenntnis davon hatte, wer ihm diese unliebsame Überraschung beschert hatte, wer ihn letztendlich gefickt hatte. Doch so wie dieser Pfaffe drauf war, würde er sich weigern, Lennart zu konfirmieren. Seine Eltern würden unzufrieden mit ihm sein, weil das Ergebnis nicht stimmte. Das konnte er sich nicht leisten, es würde seinen Komfort einschränken und ihn in seinen Möglichkeiten beschneiden, das durfte er keinesfalls zulassen.
Er war kein gewöhnlicher Teenager. Wenn er ausnahmsweise etwas auf Papier schrieb, dann nur auf dem hochwertigen Firmenpapier seines Vaters, mintgrünes Bütten mit einem dezenten Wasserzeichen oben links. Und er schrieb immer mit dunkelgrüner Tinte, das war sein Markenzeichen geworden. In einem Anflug von Schwachsinn, den andere vielleicht als Menschlichkeit oder freundschaftliche Verbundenheit verstanden hätten, hatte er Jakob etwas von seinem Vorrat abgegeben. Er hatte es bald bereut, denn Jakob, der ihn zutiefst bewundert hatte und ihm stets wie ein Hündchen nachgelaufen war, hatte sich ebenfalls dunkelgrüne Tintenpatronen besorgt und imitierte ihn, wie schon so oft. Allein dieses schamlose Kopieren seiner Originalität konnte er nicht dulden. Erst recht nicht die Gefährdung seiner elterlichen Beziehung.
Die letzte Stunde im kirchlichen Unterricht hatte ihm dann das Material geliefert. Der Pfaffe hatte Jakob einen Spruch rein gereicht und Jakob hatte das gar nicht cool genommen. Alle hatten das mitbekommen. Ihm hätte das ja nicht passieren können, dass er sich geschämt hätte, weil er diesen dämlichen Konfi-Kalender verlegt hatte, einfach lächerlich. Aber Jakob war eben ein Zwerg, nicht äußerlich, nein da brachte er es schon auf 1,75, aber innerlich, was seine Persönlichkeit betraf, sein Selbstbewusstsein, seine innere Stärke, da war er ein Zwerg. Geradezu prädestiniert für einen Suizid infolge einer Demütigung.
Er wusste nicht mehr, wie er es geschafft hatte, ihn zu der Mutprobe zu überreden. Schließlich hatte Jakob eingewilligt, den Kopf durch die Schlinge gesteckt und den Stuhl weggekickt. Es war abgesprochen, dass Lennart ihn nach dreißig Sekunden rettete. Und Lennart zählte: „27, 28, 29, 30, 31, 32, 33...“, dann sah er schweigend zu, so lange bis Jakob aufhörte zu zappeln. Er sah die ganze Zeit hin. Das würde ihn nur härter machen.
Dann schrieb er den Abschiedsbrief. Zum Glück hatte er von allen Bögen, die er Jakob damals überlassen hatte, das Firmenlogo mit der Schneidemaschine abgetrennt. Die Verbindung zur Firma seines Vaters würde niemand herstellen. Jakobs Handschrift zu imitieren, war eine seiner leichteren Übungen. Eine krakelige Jungenschrift, die der seinen äußerst ähnlich war, nur das s und das t schrieb Jakob anders, aber das bekam er hin. Er war kein gewöhnlicher Teenager.
... link (2 Kommentare) ... comment
Freitag, 31. März 2017
Ketzerkoketterie
c. fabry, 00:03h
Angewidert stieg Keller in sein Auto. Für wen hielt dieser blasierte Theologe sich eigentlich? Einer seiner Konfirmanden hatte sich das Leben genommen, weil er an Depressionen litt. In seinem Abschiedsbrief hatte es geheißen:
„Ich habe lange gehofft, dass irgendwann doch noch etwas aus mir wird, aber als sogar Pastor Mendel gesagt hat, dass er sich fragt, ob Leute, die ihren Konfi-Kalender verlieren, überhaupt noch irgendwas geregelt kriegen, da ist es mir klar geworden. Ich schaffe mein Leben einfach nicht. Und ich will auch niemandem mehr zur Last fallen.“
Nicht die Spur von Schuldbewusstsein oder wenigstens Selbstkritik war in der Miene des Pfarrers aufgetaucht. Er schien sich statt dessen in seiner Einschätzung bestätigt zu fühlen. Wie konnte jemand das Christsein zu seinem Beruf machen und dann derartig verantwortungslos in den Seelen Heranwachsender herumholzen?
Im Gemeindehaus ging die Dienstbesprechung weiter. Regina Führmann sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte sie eine Beerdigung. Ja ganz genau, liebe Leser, die Beisetzung des verstorbenen Konfirmanden. Jakob Ebeling. Und während sie auf heißen Kohlen saß, stahl Reinhard Mendel ihr die Zeit mit Nebensächlichkeiten des Gemeindealltags.
„Hältst du dich nächsten Sonntag eigentlich an den Predigttext?“, fragte er seine Kollegin.
„Natürlich.“, antwortete Regina. „Warum fragst du?“
„Ach, wir haben beim Bibelkreis gestern sehr angeregt diskutiert. Es ging ziemlich ketzerisch zu.“ Er versuchte gewinnend zu lachen, doch sein Gekicher klang irgendwie unstimmig und ein bisschen irrsinnig. „Günther meinte, das Heiligen des Feiertages, könne man auch dahingehend interpretieren, dass man einfach die Füße hochlegen soll und nicht zwingend den Gottesdienst besuchen muss.“
„Was soll denn daran ketzerisch sein?“, fragte die Pfarrerin, „Das Füße Hochlegen ist doch der Sinn des Sonntags. In den zehn Geboten steht nicht: Du sollst den Feiertag heiligen, indem du zwischen zehn und elf Uhr eine umfangreiche Liturgie abspulst in deren Rahmen du zwanzig Minuten zum vorgesehenen Bibeltext predigst.“
„Aber Regina!“, echauffierte sich der Kollege. „Wenn du das am Sonntag von der Kanzel verkündest, kreuzigen dich unsere Hardliner. Ich finde den Gedanken ja auch interessant, aber ich würde das nie öffentlich äußern.“
„Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken, ich muss los, habe gleich eine Beerdigung.“
„Ach ja, der Jakob.“, seufzte Reinhard Mendel. „Das ist ja tragisch, ich wäre eigentlich gern dahin gegangen, normalerweise hätte ich ihn ja auch beerdigt, aber die Eltern haben deutlich erklärt, dass sie mich nicht dabei haben wollen. Eine Unverschämtheit.“
Regina musste sich auf die Zunge beißen, um nicht eine Bemerkung entschlüpfen zu lassen, aus der ihr vollstes Verständnis für die Eltern gesprochen hätte. Sie hatte den Abschiedsbrief selbst in der Hand gehalten. Mit dunkelgrüner Tinte hatte Jakob seine anklagenden letzten Worte auf mintfarbenem Papier festgehalten, in seiner krakeligen Jungenschrift.
Es war die schlimmste Trauerfeier ihres Lebens. Ein Kind, das den Lebensmut verloren hatte, welch eine Verschwendung. Die gebrochenen Eltern, die fassungslosen Freunde, die vielen Menschen am Grab des Jugendlichen. Sie hatte Mühe, nicht selbst in Tränen auszubrechen.
Hinterher legte sie sich in die Badewanne, um den Kopf frei zu kriegen. Sie hatte für heute alle anderen Termine abgesagt. Als sie endlich am Schreibtisch saß und über ihrer Predigt brütete, sehnte sie sich nach Urlaub. Endlich mal wieder einen arbeitsfreien Sonntag erleben. Sie griff nach der hübschen Kladde, in die sie regelmäßig ihre Gedichte schrieb, vielleicht würde sich daraus irgendwann einmal etwas machen lassen. Sie schlug eine neue Seite auf und schrieb hinein:
Sonntag
ausschlafen
Maus gucken
Brötchen zum Frühstück
stricken
Sonntagsmärchen
spazieren gehen
auf der Sonnenterrasse rumliegen
Verkehrsberuhigung
lesen
telefonieren
Kuchen am Nachmittag
vögeln
Tatort gucken
Midsomer Murders
Halleluja!
Schon bezeichnend, dass der Gottesdienst darin nicht vorkam. Schade, dass sie das nicht in ihrer Predigt würde vorlesen können. Sie stellte sich vor, was passieren würde, wenn sie es täte und musste schmunzeln. So vieles, was sich eigentlich hätte ändern müssen, blieb wie es war, weil die Starrsinnigen auf die Bremse traten. Sie hatten Angst, dass sich etwas ändern könnte und sie sich plötzlich in einer Kirche wiederfänden, zu der sie nicht mehr dazu gehörten. Am schlimmsten waren die, die sich für die kritischsten Geister hielten, aber sich selbst und anderen lauter Denkverbote auferlegten. Reinhard Mendel kokettierte mit seinem angeblichen Ketzertum. Wenn der gewusst hätte, für was sie stand, wäre ihm die Spucke weggeblieben.
Sie holte die Post herein. Lennart Behneke hatte ihr eine Ausarbeitung zu seinem Konfirmationsspruch in den Briefkasten gelegt. Sie hatte vorgeschlagen, sich seine Gedanken einmal durchzulesen und gegebenenfalls mit ihrem Kollegen zu reden, der Lennart vorgeworfen hatte, seine Hausaufgabe nicht ordentlich gemacht zu haben. Sie fand es schon unsäglich, Konfirmanden überhaupt mit Hausaufgaben zu behelligen, dann aber ein „Ungenügend“ auszusprechen, war der Gipfel der Anmaßung. Als sie den Zettel in der Hand hielt, lief ihr ein Schauer über den Rücken: es war eine krakelige Jungenschrift in dunkelgrüner Tinte auf mintgrünem Papier.
„Ich habe lange gehofft, dass irgendwann doch noch etwas aus mir wird, aber als sogar Pastor Mendel gesagt hat, dass er sich fragt, ob Leute, die ihren Konfi-Kalender verlieren, überhaupt noch irgendwas geregelt kriegen, da ist es mir klar geworden. Ich schaffe mein Leben einfach nicht. Und ich will auch niemandem mehr zur Last fallen.“
Nicht die Spur von Schuldbewusstsein oder wenigstens Selbstkritik war in der Miene des Pfarrers aufgetaucht. Er schien sich statt dessen in seiner Einschätzung bestätigt zu fühlen. Wie konnte jemand das Christsein zu seinem Beruf machen und dann derartig verantwortungslos in den Seelen Heranwachsender herumholzen?
Im Gemeindehaus ging die Dienstbesprechung weiter. Regina Führmann sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte sie eine Beerdigung. Ja ganz genau, liebe Leser, die Beisetzung des verstorbenen Konfirmanden. Jakob Ebeling. Und während sie auf heißen Kohlen saß, stahl Reinhard Mendel ihr die Zeit mit Nebensächlichkeiten des Gemeindealltags.
„Hältst du dich nächsten Sonntag eigentlich an den Predigttext?“, fragte er seine Kollegin.
„Natürlich.“, antwortete Regina. „Warum fragst du?“
„Ach, wir haben beim Bibelkreis gestern sehr angeregt diskutiert. Es ging ziemlich ketzerisch zu.“ Er versuchte gewinnend zu lachen, doch sein Gekicher klang irgendwie unstimmig und ein bisschen irrsinnig. „Günther meinte, das Heiligen des Feiertages, könne man auch dahingehend interpretieren, dass man einfach die Füße hochlegen soll und nicht zwingend den Gottesdienst besuchen muss.“
„Was soll denn daran ketzerisch sein?“, fragte die Pfarrerin, „Das Füße Hochlegen ist doch der Sinn des Sonntags. In den zehn Geboten steht nicht: Du sollst den Feiertag heiligen, indem du zwischen zehn und elf Uhr eine umfangreiche Liturgie abspulst in deren Rahmen du zwanzig Minuten zum vorgesehenen Bibeltext predigst.“
„Aber Regina!“, echauffierte sich der Kollege. „Wenn du das am Sonntag von der Kanzel verkündest, kreuzigen dich unsere Hardliner. Ich finde den Gedanken ja auch interessant, aber ich würde das nie öffentlich äußern.“
„Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken, ich muss los, habe gleich eine Beerdigung.“
„Ach ja, der Jakob.“, seufzte Reinhard Mendel. „Das ist ja tragisch, ich wäre eigentlich gern dahin gegangen, normalerweise hätte ich ihn ja auch beerdigt, aber die Eltern haben deutlich erklärt, dass sie mich nicht dabei haben wollen. Eine Unverschämtheit.“
Regina musste sich auf die Zunge beißen, um nicht eine Bemerkung entschlüpfen zu lassen, aus der ihr vollstes Verständnis für die Eltern gesprochen hätte. Sie hatte den Abschiedsbrief selbst in der Hand gehalten. Mit dunkelgrüner Tinte hatte Jakob seine anklagenden letzten Worte auf mintfarbenem Papier festgehalten, in seiner krakeligen Jungenschrift.
Es war die schlimmste Trauerfeier ihres Lebens. Ein Kind, das den Lebensmut verloren hatte, welch eine Verschwendung. Die gebrochenen Eltern, die fassungslosen Freunde, die vielen Menschen am Grab des Jugendlichen. Sie hatte Mühe, nicht selbst in Tränen auszubrechen.
Hinterher legte sie sich in die Badewanne, um den Kopf frei zu kriegen. Sie hatte für heute alle anderen Termine abgesagt. Als sie endlich am Schreibtisch saß und über ihrer Predigt brütete, sehnte sie sich nach Urlaub. Endlich mal wieder einen arbeitsfreien Sonntag erleben. Sie griff nach der hübschen Kladde, in die sie regelmäßig ihre Gedichte schrieb, vielleicht würde sich daraus irgendwann einmal etwas machen lassen. Sie schlug eine neue Seite auf und schrieb hinein:
Sonntag
ausschlafen
Maus gucken
Brötchen zum Frühstück
stricken
Sonntagsmärchen
spazieren gehen
auf der Sonnenterrasse rumliegen
Verkehrsberuhigung
lesen
telefonieren
Kuchen am Nachmittag
vögeln
Tatort gucken
Midsomer Murders
Halleluja!
Schon bezeichnend, dass der Gottesdienst darin nicht vorkam. Schade, dass sie das nicht in ihrer Predigt würde vorlesen können. Sie stellte sich vor, was passieren würde, wenn sie es täte und musste schmunzeln. So vieles, was sich eigentlich hätte ändern müssen, blieb wie es war, weil die Starrsinnigen auf die Bremse traten. Sie hatten Angst, dass sich etwas ändern könnte und sie sich plötzlich in einer Kirche wiederfänden, zu der sie nicht mehr dazu gehörten. Am schlimmsten waren die, die sich für die kritischsten Geister hielten, aber sich selbst und anderen lauter Denkverbote auferlegten. Reinhard Mendel kokettierte mit seinem angeblichen Ketzertum. Wenn der gewusst hätte, für was sie stand, wäre ihm die Spucke weggeblieben.
Sie holte die Post herein. Lennart Behneke hatte ihr eine Ausarbeitung zu seinem Konfirmationsspruch in den Briefkasten gelegt. Sie hatte vorgeschlagen, sich seine Gedanken einmal durchzulesen und gegebenenfalls mit ihrem Kollegen zu reden, der Lennart vorgeworfen hatte, seine Hausaufgabe nicht ordentlich gemacht zu haben. Sie fand es schon unsäglich, Konfirmanden überhaupt mit Hausaufgaben zu behelligen, dann aber ein „Ungenügend“ auszusprechen, war der Gipfel der Anmaßung. Als sie den Zettel in der Hand hielt, lief ihr ein Schauer über den Rücken: es war eine krakelige Jungenschrift in dunkelgrüner Tinte auf mintgrünem Papier.
... link (2 Kommentare) ... comment
Freitag, 24. März 2017
Alles wegen B., weiblich - abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 11:27h
„Schickt mir diesen Uriah“, befiehlt David. „Ich bin wild entschlossen, die Geschichte zu einem sauberen Ende zu bringen. Uriah ist ein verlässlicher Soldat, der Befehlen von oben stets nachkommt, es dürfte also ein Leichtes sein, die Angelegenheit zu regeln.“
Uriah tritt auf und wartet, dass der König das Wort an ihn richtet.
„Mein lieber Uriah. Wie lange bist du schon von zu Hause fort?“
„Achtzehn Monate.“
„Das ist eine ziemlich lange Zeit, geradezu eine Zumutung, wenn man bedenkt, dass deine schöne, junge Frau die ganze Zeit sehnsüchtig zu Hause sitzt und auf Dich wartet. Die Jahre machen sie nicht besser. Du bist ein treuer Diener des Hofes, ein stattlicher Soldat voller Verdienste, wie mir mehrfach zu Ohren gekommen ist. Geh heim, lass dich ein bisschen von deiner Angetrauten verwöhnen, ihr habt es beide redlich verdient.“
„Das kann ich nicht bringen. Meine Waffenbrüder schlafen im Staub vor den Mauern der Stadt und ich soll im weichen Bett bei meiner Frau liegen? Ich könnte den Rest meines Lebens nicht mehr in den Spiegel blicken.“
„Dann trink wenigstens einen Schluck mit mir. Dieser edle Tropfen stammt aus den Trauben die auf den Weinbergen bei Hebron gereift sind, ein hervorragender Jahrgang.“
„Ist er denn auch koscher?“
„Selbstverständlich! Ich bin ein gesalbter des Herrn. Nimm und trink!“
Uriah kostet den Wein.
„Mmh. Wirklich außerordentlich.“
„Sag ich doch. Komm, wir trinken auf die vergangenen Siege und jene, die noch kommen sollen.“
Nach etlichen Bechern Wein kann Uriah kaum noch gerade stehen. Der König dagegen ist noch im Vollbesitz seiner Sinne.
„Los Uriah, Du musst jetzt dringend ins Bett und Deinen Rausch ausschlafen. Aber nicht, dass deine Kameraden dich so sehen. Geh lieber nach Hause und schlaf im eigenen Bett. Morgen kannst du gern berichten, du hättest die ganze Nacht den König in geheimer Mission beraten. Ich werde das bezeugen.“
„Nee. Dss kannich nich mach'n – hk -ich schlaf bei mein' Kam'rad'n, die ham da nix bei.“
Uriah geht ab. David steht die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Er flüstert vor sich hin: „Verdammt, was mach ich denn jetzt? Wenn Bathseba niederkommt, nachdem sie ihren Mann nachweislich zwei Jahre nicht gesehen hat, wird man sie der Hurerei bezichtigen und sie steinigen. Und wenn ich eingreife und zu dem Kind stehe, bin ich als König erledigt, dann kann ich nur noch den Despoten geben. Freiwillig wird mein Volk mir nicht mehr treu zur Seite stehen. Ach wäre ich doch an diesem Nachmittag nicht auf die Terrasse gegangen und hätte ich nicht diese Schönheit bei ihrer rituellen Waschung beobachtet. Dann hätte ich mich nicht verliebt und sie nie zu mir kommen lassen, dann wäre das alles nicht passiert. Vielleicht könnte Bathseba ihren Mann im Feld besuchen? Ach das ist auch Quatsch, er würde sie nie beschlafen, wenn überall seine Kameraden da herumlungern. Den Plan Kuckuckskind muss ich aufgeben. Nun muss doch Plan B her, es nützt ja nichts. Wenn der Uriah doch nicht so starrsinnig wäre, dann hätte noch alles gut werden können.“
David macht sich durch Klopfzeichen bemerkbar. Ein Diener erscheint. David befiehlt:
„Bring mir den Schreiber, er soll einen Brief aufsetzen und ihn gleich morgen früh nach Sonnenaufgang dem General Joab überbringen. Es ist dringend.“
Der Diener geht ab, der Schreiber erscheint. David diktiert:
„Mein lieber und treuer Joab. Stell den Soldaten Uriah in die erste Reihe, wo die Schlacht am heftigsten tobt. Vereinbare mit allen anderen ein Zeichen für einen plötzlich Rückzug, nur Uriah soll nichts davon wissen, damit er stehen bleibt und erschlagen wird.“
Der Bote geht ab. Einige Tage später betritt Joab den Thronsaal und überbringt folgende Nachricht: „Sehr verehrter König, ich bin hier, um Euch mitzuteilen, die Männer von Rabba waren auf dem Feld zu übermächtig, wir drängten sie zurück bis vor die Tore der Stadt, wo die Mauerschützen einige von uns erschossen, auch Uriah, den Hetiter.“
Ein Mann im schwarzen Rollkragen-Pullover und Cremefarbenen Jacket verkündet: „In der Pause, für die wir uns 20 Minuten Zeit nehmen, dürfen Sie sich ein Getränk gönnen. Danach folgt der zweite Teil, den Sie sicher mit Spannung erwarten.“
Eine kleine Runde von Zuschauern nippt an ihren Sektgläsern.
„Also den David-Darsteller fand ich wirklich ganz hervorragend.“, meinte Pfarrer Rauer. „Dieses Hin- und Hergerissensein zwischen dem Richtigen, das er tun will und den niederen Motiven, die immer wieder obsiegen. Die Stimmlage, das Minenspiel, der Hermann ist ganz hinter dem David zurückgetreten.“
„Den David fand ich auch gut.“, erwiderte Pfarrerin Gödde. „Aber von Joab hätte ich mir mehr Widerspruchsgeist gewünscht. Im Samuel-Text spürt man ja schon seine innere Abscheu gegen Davids Befehl, den er nur widerwillig ausführt und der ihn mit Verachtung erfüllt. Und im Text überbringt er die Nachricht ja auch nicht persönlich sondern schickt einen Boten.“
„Ach“, mischt Karl Reschke sich ein. „In der Liebe und in der Kunst ist alles erlaubt.“
„Heißt das nicht in der Liebe und im Krieg?“, hakt Pfarrerin Gödde nach.
Niemand antwortet.
Nach der Pause stockt das Stück plötzlich. Nun müsste der Prophet Nathan im Thronsaal auftauchen, doch er erscheint nicht. Karl Reschke flüstert in Pfarrer Rauers Ohr: „Ob der Georg wohl immer noch im Uriah-Kostüm feststeckt?“
„Wieso?“
„Na, er spielt doch auch den Nathan. Die beiden Rollen waren doch geradezu prädestiniert für eine Doppelrolle. Der Mahner und Überbringer der Strafe mit dem Gesicht des Opfers, das verstärkt doch die Dramatik.“
„Hm.“
Lothar Rosche verschwindet hinter der Bühne. Als Regisseur weiß er am besten, wer hier gerade fehlt. Nach wenigen Augenblicken kehrt er leichenblass zurück.
„Der Georg“, wimmert er „Der Georg.“ Mehr bringt er nicht über die Lippen
Beherzt läuft Pfarrerin Gödde hinter die Bühne und sieht den Georg ebenfalls. Er liegt in unnatürlicher Körperhaltung in der Garderobe, seinen Kopf bedecken mehrere blutende Wunden, alles liegt voller Tonscherben und ist mit Blut besprenkelt. Sie fühlt nach seinem Puls, überprüft seine Atmung, stellt aber kein Lebenszeichen fest. Irgendjemand hat schon die Polizei gerufen, die sind in Windeseile da und niemand darf den Saal verlassen. Befragungen, Zeugenaussagen und schon jetzt die Frage nach dem Motiv.
Kommisar Stefan Keller hat mehrere Hinweise bekommen.
„Der Georg war ja schon ein Intrigant. Die Doppeltrolle hat er dem Jochen abgeschwatzt.“
Der Jochen hat aber die gesamt Pause hindurch Sekt ausgeschenkt.
„Georg Mertens war ein regelrechter Schürzenjäger. Der hat schon vielen Frauen das Herz gebrochen, vorzugsweise den verheirateten, die halten sich mehr zurück, weil sie etwas zu verlieren haben.“
„Der Georg hat sich ja selbst als Atheisten bezeichnet. Schon komisch, dass so einer eine Rolle in einem biblischen Stück spielt und dann an der Stelle auf die Weise stirbt, wie der Charakter den er verkörpert.“
Keller studierte das skurrile Gesicht der Aussagenden, hielt es aber für unwahrscheinlich dass sie mit ihrem hinfälligen Körper und den schwer von Arthritis verformten Händen in der Lage war, jemandem mit Wucht mehrere Male eine Tonvase über den Schädel zu ziehen.
„Das musste ja passieren. Der Georg hatte ja was mit der Frau vom Karl, Karl Reschke, der Autor des Stückes. Da ist wohl jemandem die Sicherung durchgebrannt.“
Karl Reschke hat ungefähr 120 Zeuginnen und Zeugen, dass er den Saal nicht mal für einen Toilettengang verlassen hat.
In der Ecke steht ein untersetzter Mann in den Fünfzigern, der auf Keller seltsam aus der Zeit gefallen wirkt, so als gehöre er eigentlich der Generation seiner Eltern an. Bei Russlanddeutschen mit starker religiöser Prägung ist ihm das schon öfter aufgefallen. Der Mann ist ebenfalls sehr blass. Keller geht auf ihn zu.
„Geht es Ihnen gut?“
„Danke, ja, alles in Ordnung.“
„Und wer sind Sie?“
„Ich bin Peter Kleemann. Ich bin der Küster.“
„Waren Sie auch während des gesamten Stückes hier vor Ort?“
„Ja, ich habe bei solchen Veranstaltungen Dienst.“
„Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?“
„Nein.“, antwortet der Küster und versucht ein entspanntes Lächeln, das ihm aber nicht sonderlich gelingt. „So viele Leute, die alle durcheinanderlaufen. Ich habe nur aufgepasst, dass keiner die Notausgänge zuräumt und dass schnell ein Krankenwagen zur Stelle ist, falls jemand ohnmächtig wird.“
„Haben Sie auch meine Kollegen informiert?“
„Nein, das war jemand Anderes.“
Der Küster wirkt nach wie vor aufgeregt, seine Augen huschen hin und her, er steht offenkundig unter Schock.
„Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?“
„Ja, natürlich.“
„Haben Sie den Toten gesehen?“
„Nein.“
„Haben Sie eine Ahnung, woher das Messer stammen könnte?“
„Welches Messer?“
„Die Mordwaffe.“
„Aber das war doch eine Vase.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Alle reden darüber.“
„Niemand redet darüber. Ich glaube, Sie müssen uns begleiten.“
Es dauert ein bisschen, bis Peter Kleemann redet. Als es so weit ist, bricht es aus ihm heraus: „Diese Kirchengemeinde ist kein christlicher Ort, diese Kirchengemeinde ist ein Sündenpfuhl. Spötter und Ketzer sitzen im Presbyterium, der Jugendarbeiter ist homosexuell, der Pfarrer prasst mit seinem vielen Geld, ist aber geizig, wenn er einmal anderen etwas abgeben soll und der Georg Mertens hat nicht nur überall herumposaunt, dass er nicht an Gott glaubt, er hat mehrfach die Ehe gebrochen und allen ins Gesicht gegrinst. Mich hat er behandelt wie seinen Lakaien, dabei hat er hier nur Theater gespielt und ist zum Männerkreis gegangen. Irgendjemand musste diese Gemeinde einfach wachrütteln, ihnen zeigen, dass sie so nicht weiter machen können, dass das, was sie da tun, nicht Gottes Wille ist.“
„Und Sie kennen den Willen Gottes?“
„Selbstverständlich. Den könnte jeder kennen. Man muss nur gründlich in der Bibel lesen, da steht alles drin.“
„Soso.“
„Und von einer evangelischen Kirchengemeinde erwarte ich das auch. Aber in dieser Gemeinde hat sich der Teufel ans Werk gemacht.“
„Da gebe ich Ihnen Recht.“, erwiderte Keller. „Nur denke ich, dass wir beide in unserer Auffassung darüber, wer oder was der Teufel ist, deutlich auseinandergehen. Sie werden mit dieser Gemeinde jedenfalls nie wieder in Kontakt treten müssen. Dafür sorgen wir.“
Uriah tritt auf und wartet, dass der König das Wort an ihn richtet.
„Mein lieber Uriah. Wie lange bist du schon von zu Hause fort?“
„Achtzehn Monate.“
„Das ist eine ziemlich lange Zeit, geradezu eine Zumutung, wenn man bedenkt, dass deine schöne, junge Frau die ganze Zeit sehnsüchtig zu Hause sitzt und auf Dich wartet. Die Jahre machen sie nicht besser. Du bist ein treuer Diener des Hofes, ein stattlicher Soldat voller Verdienste, wie mir mehrfach zu Ohren gekommen ist. Geh heim, lass dich ein bisschen von deiner Angetrauten verwöhnen, ihr habt es beide redlich verdient.“
„Das kann ich nicht bringen. Meine Waffenbrüder schlafen im Staub vor den Mauern der Stadt und ich soll im weichen Bett bei meiner Frau liegen? Ich könnte den Rest meines Lebens nicht mehr in den Spiegel blicken.“
„Dann trink wenigstens einen Schluck mit mir. Dieser edle Tropfen stammt aus den Trauben die auf den Weinbergen bei Hebron gereift sind, ein hervorragender Jahrgang.“
„Ist er denn auch koscher?“
„Selbstverständlich! Ich bin ein gesalbter des Herrn. Nimm und trink!“
Uriah kostet den Wein.
„Mmh. Wirklich außerordentlich.“
„Sag ich doch. Komm, wir trinken auf die vergangenen Siege und jene, die noch kommen sollen.“
Nach etlichen Bechern Wein kann Uriah kaum noch gerade stehen. Der König dagegen ist noch im Vollbesitz seiner Sinne.
„Los Uriah, Du musst jetzt dringend ins Bett und Deinen Rausch ausschlafen. Aber nicht, dass deine Kameraden dich so sehen. Geh lieber nach Hause und schlaf im eigenen Bett. Morgen kannst du gern berichten, du hättest die ganze Nacht den König in geheimer Mission beraten. Ich werde das bezeugen.“
„Nee. Dss kannich nich mach'n – hk -ich schlaf bei mein' Kam'rad'n, die ham da nix bei.“
Uriah geht ab. David steht die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Er flüstert vor sich hin: „Verdammt, was mach ich denn jetzt? Wenn Bathseba niederkommt, nachdem sie ihren Mann nachweislich zwei Jahre nicht gesehen hat, wird man sie der Hurerei bezichtigen und sie steinigen. Und wenn ich eingreife und zu dem Kind stehe, bin ich als König erledigt, dann kann ich nur noch den Despoten geben. Freiwillig wird mein Volk mir nicht mehr treu zur Seite stehen. Ach wäre ich doch an diesem Nachmittag nicht auf die Terrasse gegangen und hätte ich nicht diese Schönheit bei ihrer rituellen Waschung beobachtet. Dann hätte ich mich nicht verliebt und sie nie zu mir kommen lassen, dann wäre das alles nicht passiert. Vielleicht könnte Bathseba ihren Mann im Feld besuchen? Ach das ist auch Quatsch, er würde sie nie beschlafen, wenn überall seine Kameraden da herumlungern. Den Plan Kuckuckskind muss ich aufgeben. Nun muss doch Plan B her, es nützt ja nichts. Wenn der Uriah doch nicht so starrsinnig wäre, dann hätte noch alles gut werden können.“
David macht sich durch Klopfzeichen bemerkbar. Ein Diener erscheint. David befiehlt:
„Bring mir den Schreiber, er soll einen Brief aufsetzen und ihn gleich morgen früh nach Sonnenaufgang dem General Joab überbringen. Es ist dringend.“
Der Diener geht ab, der Schreiber erscheint. David diktiert:
„Mein lieber und treuer Joab. Stell den Soldaten Uriah in die erste Reihe, wo die Schlacht am heftigsten tobt. Vereinbare mit allen anderen ein Zeichen für einen plötzlich Rückzug, nur Uriah soll nichts davon wissen, damit er stehen bleibt und erschlagen wird.“
Der Bote geht ab. Einige Tage später betritt Joab den Thronsaal und überbringt folgende Nachricht: „Sehr verehrter König, ich bin hier, um Euch mitzuteilen, die Männer von Rabba waren auf dem Feld zu übermächtig, wir drängten sie zurück bis vor die Tore der Stadt, wo die Mauerschützen einige von uns erschossen, auch Uriah, den Hetiter.“
Ein Mann im schwarzen Rollkragen-Pullover und Cremefarbenen Jacket verkündet: „In der Pause, für die wir uns 20 Minuten Zeit nehmen, dürfen Sie sich ein Getränk gönnen. Danach folgt der zweite Teil, den Sie sicher mit Spannung erwarten.“
Eine kleine Runde von Zuschauern nippt an ihren Sektgläsern.
„Also den David-Darsteller fand ich wirklich ganz hervorragend.“, meinte Pfarrer Rauer. „Dieses Hin- und Hergerissensein zwischen dem Richtigen, das er tun will und den niederen Motiven, die immer wieder obsiegen. Die Stimmlage, das Minenspiel, der Hermann ist ganz hinter dem David zurückgetreten.“
„Den David fand ich auch gut.“, erwiderte Pfarrerin Gödde. „Aber von Joab hätte ich mir mehr Widerspruchsgeist gewünscht. Im Samuel-Text spürt man ja schon seine innere Abscheu gegen Davids Befehl, den er nur widerwillig ausführt und der ihn mit Verachtung erfüllt. Und im Text überbringt er die Nachricht ja auch nicht persönlich sondern schickt einen Boten.“
„Ach“, mischt Karl Reschke sich ein. „In der Liebe und in der Kunst ist alles erlaubt.“
„Heißt das nicht in der Liebe und im Krieg?“, hakt Pfarrerin Gödde nach.
Niemand antwortet.
Nach der Pause stockt das Stück plötzlich. Nun müsste der Prophet Nathan im Thronsaal auftauchen, doch er erscheint nicht. Karl Reschke flüstert in Pfarrer Rauers Ohr: „Ob der Georg wohl immer noch im Uriah-Kostüm feststeckt?“
„Wieso?“
„Na, er spielt doch auch den Nathan. Die beiden Rollen waren doch geradezu prädestiniert für eine Doppelrolle. Der Mahner und Überbringer der Strafe mit dem Gesicht des Opfers, das verstärkt doch die Dramatik.“
„Hm.“
Lothar Rosche verschwindet hinter der Bühne. Als Regisseur weiß er am besten, wer hier gerade fehlt. Nach wenigen Augenblicken kehrt er leichenblass zurück.
„Der Georg“, wimmert er „Der Georg.“ Mehr bringt er nicht über die Lippen
Beherzt läuft Pfarrerin Gödde hinter die Bühne und sieht den Georg ebenfalls. Er liegt in unnatürlicher Körperhaltung in der Garderobe, seinen Kopf bedecken mehrere blutende Wunden, alles liegt voller Tonscherben und ist mit Blut besprenkelt. Sie fühlt nach seinem Puls, überprüft seine Atmung, stellt aber kein Lebenszeichen fest. Irgendjemand hat schon die Polizei gerufen, die sind in Windeseile da und niemand darf den Saal verlassen. Befragungen, Zeugenaussagen und schon jetzt die Frage nach dem Motiv.
Kommisar Stefan Keller hat mehrere Hinweise bekommen.
„Der Georg war ja schon ein Intrigant. Die Doppeltrolle hat er dem Jochen abgeschwatzt.“
Der Jochen hat aber die gesamt Pause hindurch Sekt ausgeschenkt.
„Georg Mertens war ein regelrechter Schürzenjäger. Der hat schon vielen Frauen das Herz gebrochen, vorzugsweise den verheirateten, die halten sich mehr zurück, weil sie etwas zu verlieren haben.“
„Der Georg hat sich ja selbst als Atheisten bezeichnet. Schon komisch, dass so einer eine Rolle in einem biblischen Stück spielt und dann an der Stelle auf die Weise stirbt, wie der Charakter den er verkörpert.“
Keller studierte das skurrile Gesicht der Aussagenden, hielt es aber für unwahrscheinlich dass sie mit ihrem hinfälligen Körper und den schwer von Arthritis verformten Händen in der Lage war, jemandem mit Wucht mehrere Male eine Tonvase über den Schädel zu ziehen.
„Das musste ja passieren. Der Georg hatte ja was mit der Frau vom Karl, Karl Reschke, der Autor des Stückes. Da ist wohl jemandem die Sicherung durchgebrannt.“
Karl Reschke hat ungefähr 120 Zeuginnen und Zeugen, dass er den Saal nicht mal für einen Toilettengang verlassen hat.
In der Ecke steht ein untersetzter Mann in den Fünfzigern, der auf Keller seltsam aus der Zeit gefallen wirkt, so als gehöre er eigentlich der Generation seiner Eltern an. Bei Russlanddeutschen mit starker religiöser Prägung ist ihm das schon öfter aufgefallen. Der Mann ist ebenfalls sehr blass. Keller geht auf ihn zu.
„Geht es Ihnen gut?“
„Danke, ja, alles in Ordnung.“
„Und wer sind Sie?“
„Ich bin Peter Kleemann. Ich bin der Küster.“
„Waren Sie auch während des gesamten Stückes hier vor Ort?“
„Ja, ich habe bei solchen Veranstaltungen Dienst.“
„Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?“
„Nein.“, antwortet der Küster und versucht ein entspanntes Lächeln, das ihm aber nicht sonderlich gelingt. „So viele Leute, die alle durcheinanderlaufen. Ich habe nur aufgepasst, dass keiner die Notausgänge zuräumt und dass schnell ein Krankenwagen zur Stelle ist, falls jemand ohnmächtig wird.“
„Haben Sie auch meine Kollegen informiert?“
„Nein, das war jemand Anderes.“
Der Küster wirkt nach wie vor aufgeregt, seine Augen huschen hin und her, er steht offenkundig unter Schock.
„Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?“
„Ja, natürlich.“
„Haben Sie den Toten gesehen?“
„Nein.“
„Haben Sie eine Ahnung, woher das Messer stammen könnte?“
„Welches Messer?“
„Die Mordwaffe.“
„Aber das war doch eine Vase.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Alle reden darüber.“
„Niemand redet darüber. Ich glaube, Sie müssen uns begleiten.“
Es dauert ein bisschen, bis Peter Kleemann redet. Als es so weit ist, bricht es aus ihm heraus: „Diese Kirchengemeinde ist kein christlicher Ort, diese Kirchengemeinde ist ein Sündenpfuhl. Spötter und Ketzer sitzen im Presbyterium, der Jugendarbeiter ist homosexuell, der Pfarrer prasst mit seinem vielen Geld, ist aber geizig, wenn er einmal anderen etwas abgeben soll und der Georg Mertens hat nicht nur überall herumposaunt, dass er nicht an Gott glaubt, er hat mehrfach die Ehe gebrochen und allen ins Gesicht gegrinst. Mich hat er behandelt wie seinen Lakaien, dabei hat er hier nur Theater gespielt und ist zum Männerkreis gegangen. Irgendjemand musste diese Gemeinde einfach wachrütteln, ihnen zeigen, dass sie so nicht weiter machen können, dass das, was sie da tun, nicht Gottes Wille ist.“
„Und Sie kennen den Willen Gottes?“
„Selbstverständlich. Den könnte jeder kennen. Man muss nur gründlich in der Bibel lesen, da steht alles drin.“
„Soso.“
„Und von einer evangelischen Kirchengemeinde erwarte ich das auch. Aber in dieser Gemeinde hat sich der Teufel ans Werk gemacht.“
„Da gebe ich Ihnen Recht.“, erwiderte Keller. „Nur denke ich, dass wir beide in unserer Auffassung darüber, wer oder was der Teufel ist, deutlich auseinandergehen. Sie werden mit dieser Gemeinde jedenfalls nie wieder in Kontakt treten müssen. Dafür sorgen wir.“
... link (2 Kommentare) ... comment
Donnerstag, 16. März 2017
Onkel Otto
c. fabry, 16:06h
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Altersbegleiterin.“
„Was ist das für ein Berufsbild?“
„Fragen Sie meine Chefin.“
„Sie müssen doch wissen, was zu Ihren Aufgaben gehört.“
„Warten Sie mal. Also erstens muss ich einen Plan machen, was es nächste Woche zu essen gibt.“
„Für alle?“
„Ja, natürlich. Glauben Sie, wir lassen einen Teil der Bewohner hungern?“
„Nein, natürlich nicht. Aber es gibt doch Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten, Diabetes, Schonkost bei Magenpatienten und so weiter.“
„Bei uns nicht.“
„Das kann ich mir nur schwer vorstellen.“
„Das kann sich niemand vorstellen, aber meine Chefin sagt, das spielt heutzutage keine Rolle mehr.“
„Sie planen also das Essen.“
„Ja, aber nur erstens. Zweitens gebe ich die Bestellung für die Zutaten online auf. Dabei darf ich mein Budget nicht überschreiten. Falls es nicht reicht, bringe ich Kräuter und Gemüse aus meinem eigenen Garten mit.“
„Sie bringen private Lebensmittel mit?“
„Ja genau. Dann muss ich kochen mit dem Konvektomat. Dazu muss ich alle Bewohner, die Lust haben, in die Küche holen, damit sie Kartoffeln und Gemüse schälen.“
„Kann die nicht jemand vom Pflegepersonal bringen?“
„Nein, dafür haben die keine Zeit.“
„Dann holen Sie aber sicher nur die geistig fitten und nicht die dementen Bewohner.“
„Die meisten hier sind dement. Gerade die sollen wir beschäftigen.“
„Aber was, wenn die weglaufen oder sich verletzten?“
„Da muss ich eben aufpassen, dass nichts passiert.“
„Sie alleine?“
„Ja, natürlich.“
„Während Sie gleichzeitig kochen?“
„Ganz genau.“
„Das ist ja kaum zu schaffen.“
„Das ist aber noch nicht alles.“
„Was denn noch?“
„Ich muss optisch alles sauber halten. Also die Bewohner-Zimmer, Toiletten, Bad, Küche, Flur, Gemeinschaftsraum zwischendurch kontrollieren und bei Bedarf, Schmutz wegputzen.“
„Gibt es denn kein Reinigungspersonal?“
„Schon, aber nicht täglich.“
„Wann sollen Sie das denn tun?“
„Zwischendurch. Genauso wie die Wäsche.“
„Wie bitte?“
„Ich muss auch die Wäsche waschen, in den Trockner tun und anschließend falten.“
„Dann haben Sie die Nerven verloren, weil Sie völlig überlastet waren?“
„Ich habe nicht die Nerven verloren.“
„Das heißt, Sie haben mit Vorsatz und in voller Absicht gehandelt?“
„Allerdings.“
„Welches Problem hatten Sie denn mit dem Bewohner?“
„Ich hatte kein Problem mit Onkel Otto.“
„Sie nennen Ihn Onkel Otto?“
„Ja, natürlich. So heißt er doch.“
„Er heißt nicht Onkel Otto. Er heißt Otto Bechermann.“
„Sag ich doch.“
„Nein, Sie sagten Onkel Otto.“
„Er ist ja auch mein Onkel.“
„Sie sind mit ihm verwandt?“
„Ja. Er war der Bruder meiner Mutter.“
„Aber welchen Grund hatten Sie, seinem Leben ein Ende zu setzen?“
„Ich konnte ihn doch nicht da verrotten lassen.“
„Wo da?“
„Na in unserem Heim. Da interessiert sich doch niemand dafür, wie es den alten Leuten geht. Alle wollen da nur Geld rausholen.“
„Aber ist das Diakonische Werk nicht eine christliche Einrichtung?“
„Auf dem Papier ja. Aber was heißt das schon?“
„Und die Angehörigen Ihres Onkels? Er hatte doch schließlich einen Sohn.“
„Der ist Kirchenmusiker.“
„Ja und?“
„Also, das mit der Kirchenmusik macht er im Nebenjob. Hauptberuflich ist er auf dem Finanzamt. Darum weiß er auch, wieviel genau er dazu verdienen darf, damit es sich für ihn rechnet. Der hatte noch nie Zeit für seine Eltern. Als seine Mutter im Sterben lag, ist er nicht zu ihr gefahren, weil er meinte, er müsste am nächsten Morgen unbedingt ausgeschlafen sein, weil er da bei der Konfirmation Orgel spielen musste.“
„Sind Die alle so?“
„Wie, alle?“
„Alle Kirchenmusiker?“
„Nein, das glaube ich nicht. Nur mein Vetter. Der hat sich jedenfalls überhaupt nicht um seinen Vater gekümmert. Ich habe täglich bei Onkel Otto vorbei geschaut, aber seit hier alles umgebaut wurde, bin ich so fix und fertig, wenn ich Feierabend habe, da kann ich mich nur noch nach Hause schleppen. Und dann immer diese Angst den ganzen Tag, dass irgendwas schiefgeht, so als würde man täglich bei einer Theaterpremiere auf der Bühne stehen. Onkel Otto wurde immer weniger und er war so unglücklich. Da habe ich ihm was zum Schlafen gegeben und dann einfach mit dem Kissen... Na jedenfalls hat er jetzt seine Ruhe. Und ich auch. Ich muss da bestimmt nicht wieder hin. Wenn ich raus komme, bin ich 69.“
„Bei guter Führung sind sie vielleicht gerade mal 62.“
„Dann führe ich mich eben nicht gut.“
„Ganz wie Sie meinen.“
Das Gericht verurteilte die gelernte Hauswirtschafterin Roswitha Niehoff zu einer lebenslangen Haftstrafe. Die Bezeichnung „Altersbegleiterin“ war eine Phantasie-Wortschöpfung – es hatten weder qualifizierende Maßnahmen stattgefunden, noch hatte sie eine Änderungsvereinbarung unterschrieben, noch war sie in eine höhere Endgeldgruppe einsortiert worden. Einer Überprüfung durch die Heimaufsicht hielt die Einrichtung stand. Auf dem 2. Arbeitsmarkt warteten schon genug Menschen in prekären Lebenslagen, die über eine Festanstellung mit 24 Wochenstunden hocherfreut waren.
„Ich bin Altersbegleiterin.“
„Was ist das für ein Berufsbild?“
„Fragen Sie meine Chefin.“
„Sie müssen doch wissen, was zu Ihren Aufgaben gehört.“
„Warten Sie mal. Also erstens muss ich einen Plan machen, was es nächste Woche zu essen gibt.“
„Für alle?“
„Ja, natürlich. Glauben Sie, wir lassen einen Teil der Bewohner hungern?“
„Nein, natürlich nicht. Aber es gibt doch Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten, Diabetes, Schonkost bei Magenpatienten und so weiter.“
„Bei uns nicht.“
„Das kann ich mir nur schwer vorstellen.“
„Das kann sich niemand vorstellen, aber meine Chefin sagt, das spielt heutzutage keine Rolle mehr.“
„Sie planen also das Essen.“
„Ja, aber nur erstens. Zweitens gebe ich die Bestellung für die Zutaten online auf. Dabei darf ich mein Budget nicht überschreiten. Falls es nicht reicht, bringe ich Kräuter und Gemüse aus meinem eigenen Garten mit.“
„Sie bringen private Lebensmittel mit?“
„Ja genau. Dann muss ich kochen mit dem Konvektomat. Dazu muss ich alle Bewohner, die Lust haben, in die Küche holen, damit sie Kartoffeln und Gemüse schälen.“
„Kann die nicht jemand vom Pflegepersonal bringen?“
„Nein, dafür haben die keine Zeit.“
„Dann holen Sie aber sicher nur die geistig fitten und nicht die dementen Bewohner.“
„Die meisten hier sind dement. Gerade die sollen wir beschäftigen.“
„Aber was, wenn die weglaufen oder sich verletzten?“
„Da muss ich eben aufpassen, dass nichts passiert.“
„Sie alleine?“
„Ja, natürlich.“
„Während Sie gleichzeitig kochen?“
„Ganz genau.“
„Das ist ja kaum zu schaffen.“
„Das ist aber noch nicht alles.“
„Was denn noch?“
„Ich muss optisch alles sauber halten. Also die Bewohner-Zimmer, Toiletten, Bad, Küche, Flur, Gemeinschaftsraum zwischendurch kontrollieren und bei Bedarf, Schmutz wegputzen.“
„Gibt es denn kein Reinigungspersonal?“
„Schon, aber nicht täglich.“
„Wann sollen Sie das denn tun?“
„Zwischendurch. Genauso wie die Wäsche.“
„Wie bitte?“
„Ich muss auch die Wäsche waschen, in den Trockner tun und anschließend falten.“
„Dann haben Sie die Nerven verloren, weil Sie völlig überlastet waren?“
„Ich habe nicht die Nerven verloren.“
„Das heißt, Sie haben mit Vorsatz und in voller Absicht gehandelt?“
„Allerdings.“
„Welches Problem hatten Sie denn mit dem Bewohner?“
„Ich hatte kein Problem mit Onkel Otto.“
„Sie nennen Ihn Onkel Otto?“
„Ja, natürlich. So heißt er doch.“
„Er heißt nicht Onkel Otto. Er heißt Otto Bechermann.“
„Sag ich doch.“
„Nein, Sie sagten Onkel Otto.“
„Er ist ja auch mein Onkel.“
„Sie sind mit ihm verwandt?“
„Ja. Er war der Bruder meiner Mutter.“
„Aber welchen Grund hatten Sie, seinem Leben ein Ende zu setzen?“
„Ich konnte ihn doch nicht da verrotten lassen.“
„Wo da?“
„Na in unserem Heim. Da interessiert sich doch niemand dafür, wie es den alten Leuten geht. Alle wollen da nur Geld rausholen.“
„Aber ist das Diakonische Werk nicht eine christliche Einrichtung?“
„Auf dem Papier ja. Aber was heißt das schon?“
„Und die Angehörigen Ihres Onkels? Er hatte doch schließlich einen Sohn.“
„Der ist Kirchenmusiker.“
„Ja und?“
„Also, das mit der Kirchenmusik macht er im Nebenjob. Hauptberuflich ist er auf dem Finanzamt. Darum weiß er auch, wieviel genau er dazu verdienen darf, damit es sich für ihn rechnet. Der hatte noch nie Zeit für seine Eltern. Als seine Mutter im Sterben lag, ist er nicht zu ihr gefahren, weil er meinte, er müsste am nächsten Morgen unbedingt ausgeschlafen sein, weil er da bei der Konfirmation Orgel spielen musste.“
„Sind Die alle so?“
„Wie, alle?“
„Alle Kirchenmusiker?“
„Nein, das glaube ich nicht. Nur mein Vetter. Der hat sich jedenfalls überhaupt nicht um seinen Vater gekümmert. Ich habe täglich bei Onkel Otto vorbei geschaut, aber seit hier alles umgebaut wurde, bin ich so fix und fertig, wenn ich Feierabend habe, da kann ich mich nur noch nach Hause schleppen. Und dann immer diese Angst den ganzen Tag, dass irgendwas schiefgeht, so als würde man täglich bei einer Theaterpremiere auf der Bühne stehen. Onkel Otto wurde immer weniger und er war so unglücklich. Da habe ich ihm was zum Schlafen gegeben und dann einfach mit dem Kissen... Na jedenfalls hat er jetzt seine Ruhe. Und ich auch. Ich muss da bestimmt nicht wieder hin. Wenn ich raus komme, bin ich 69.“
„Bei guter Führung sind sie vielleicht gerade mal 62.“
„Dann führe ich mich eben nicht gut.“
„Ganz wie Sie meinen.“
Das Gericht verurteilte die gelernte Hauswirtschafterin Roswitha Niehoff zu einer lebenslangen Haftstrafe. Die Bezeichnung „Altersbegleiterin“ war eine Phantasie-Wortschöpfung – es hatten weder qualifizierende Maßnahmen stattgefunden, noch hatte sie eine Änderungsvereinbarung unterschrieben, noch war sie in eine höhere Endgeldgruppe einsortiert worden. Einer Überprüfung durch die Heimaufsicht hielt die Einrichtung stand. Auf dem 2. Arbeitsmarkt warteten schon genug Menschen in prekären Lebenslagen, die über eine Festanstellung mit 24 Wochenstunden hocherfreut waren.
... link (7 Kommentare) ... comment
... older stories