Donnerstag, 16. März 2017
Onkel Otto
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Altersbegleiterin.“
„Was ist das für ein Berufsbild?“
„Fragen Sie meine Chefin.“
„Sie müssen doch wissen, was zu Ihren Aufgaben gehört.“
„Warten Sie mal. Also erstens muss ich einen Plan machen, was es nächste Woche zu essen gibt.“
„Für alle?“
„Ja, natürlich. Glauben Sie, wir lassen einen Teil der Bewohner hungern?“
„Nein, natürlich nicht. Aber es gibt doch Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten, Diabetes, Schonkost bei Magenpatienten und so weiter.“
„Bei uns nicht.“
„Das kann ich mir nur schwer vorstellen.“
„Das kann sich niemand vorstellen, aber meine Chefin sagt, das spielt heutzutage keine Rolle mehr.“
„Sie planen also das Essen.“
„Ja, aber nur erstens. Zweitens gebe ich die Bestellung für die Zutaten online auf. Dabei darf ich mein Budget nicht überschreiten. Falls es nicht reicht, bringe ich Kräuter und Gemüse aus meinem eigenen Garten mit.“
„Sie bringen private Lebensmittel mit?“
„Ja genau. Dann muss ich kochen mit dem Konvektomat. Dazu muss ich alle Bewohner, die Lust haben, in die Küche holen, damit sie Kartoffeln und Gemüse schälen.“
„Kann die nicht jemand vom Pflegepersonal bringen?“
„Nein, dafür haben die keine Zeit.“
„Dann holen Sie aber sicher nur die geistig fitten und nicht die dementen Bewohner.“
„Die meisten hier sind dement. Gerade die sollen wir beschäftigen.“
„Aber was, wenn die weglaufen oder sich verletzten?“
„Da muss ich eben aufpassen, dass nichts passiert.“
„Sie alleine?“
„Ja, natürlich.“
„Während Sie gleichzeitig kochen?“
„Ganz genau.“
„Das ist ja kaum zu schaffen.“
„Das ist aber noch nicht alles.“
„Was denn noch?“
„Ich muss optisch alles sauber halten. Also die Bewohner-Zimmer, Toiletten, Bad, Küche, Flur, Gemeinschaftsraum zwischendurch kontrollieren und bei Bedarf, Schmutz wegputzen.“
„Gibt es denn kein Reinigungspersonal?“
„Schon, aber nicht täglich.“
„Wann sollen Sie das denn tun?“
„Zwischendurch. Genauso wie die Wäsche.“
„Wie bitte?“
„Ich muss auch die Wäsche waschen, in den Trockner tun und anschließend falten.“
„Dann haben Sie die Nerven verloren, weil Sie völlig überlastet waren?“
„Ich habe nicht die Nerven verloren.“
„Das heißt, Sie haben mit Vorsatz und in voller Absicht gehandelt?“
„Allerdings.“
„Welches Problem hatten Sie denn mit dem Bewohner?“
„Ich hatte kein Problem mit Onkel Otto.“
„Sie nennen Ihn Onkel Otto?“
„Ja, natürlich. So heißt er doch.“
„Er heißt nicht Onkel Otto. Er heißt Otto Bechermann.“
„Sag ich doch.“
„Nein, Sie sagten Onkel Otto.“
„Er ist ja auch mein Onkel.“
„Sie sind mit ihm verwandt?“
„Ja. Er war der Bruder meiner Mutter.“
„Aber welchen Grund hatten Sie, seinem Leben ein Ende zu setzen?“
„Ich konnte ihn doch nicht da verrotten lassen.“
„Wo da?“
„Na in unserem Heim. Da interessiert sich doch niemand dafür, wie es den alten Leuten geht. Alle wollen da nur Geld rausholen.“
„Aber ist das Diakonische Werk nicht eine christliche Einrichtung?“
„Auf dem Papier ja. Aber was heißt das schon?“
„Und die Angehörigen Ihres Onkels? Er hatte doch schließlich einen Sohn.“
„Der ist Kirchenmusiker.“
„Ja und?“
„Also, das mit der Kirchenmusik macht er im Nebenjob. Hauptberuflich ist er auf dem Finanzamt. Darum weiß er auch, wieviel genau er dazu verdienen darf, damit es sich für ihn rechnet. Der hatte noch nie Zeit für seine Eltern. Als seine Mutter im Sterben lag, ist er nicht zu ihr gefahren, weil er meinte, er müsste am nächsten Morgen unbedingt ausgeschlafen sein, weil er da bei der Konfirmation Orgel spielen musste.“
„Sind Die alle so?“
„Wie, alle?“
„Alle Kirchenmusiker?“
„Nein, das glaube ich nicht. Nur mein Vetter. Der hat sich jedenfalls überhaupt nicht um seinen Vater gekümmert. Ich habe täglich bei Onkel Otto vorbei geschaut, aber seit hier alles umgebaut wurde, bin ich so fix und fertig, wenn ich Feierabend habe, da kann ich mich nur noch nach Hause schleppen. Und dann immer diese Angst den ganzen Tag, dass irgendwas schiefgeht, so als würde man täglich bei einer Theaterpremiere auf der Bühne stehen. Onkel Otto wurde immer weniger und er war so unglücklich. Da habe ich ihm was zum Schlafen gegeben und dann einfach mit dem Kissen... Na jedenfalls hat er jetzt seine Ruhe. Und ich auch. Ich muss da bestimmt nicht wieder hin. Wenn ich raus komme, bin ich 69.“
„Bei guter Führung sind sie vielleicht gerade mal 62.“
„Dann führe ich mich eben nicht gut.“
„Ganz wie Sie meinen.“
Das Gericht verurteilte die gelernte Hauswirtschafterin Roswitha Niehoff zu einer lebenslangen Haftstrafe. Die Bezeichnung „Altersbegleiterin“ war eine Phantasie-Wortschöpfung – es hatten weder qualifizierende Maßnahmen stattgefunden, noch hatte sie eine Änderungsvereinbarung unterschrieben, noch war sie in eine höhere Endgeldgruppe einsortiert worden. Einer Überprüfung durch die Heimaufsicht hielt die Einrichtung stand. Auf dem 2. Arbeitsmarkt warteten schon genug Menschen in prekären Lebenslagen, die über eine Festanstellung mit 24 Wochenstunden hocherfreut waren.

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Freitag, 10. März 2017
Böser Onkel - abgeschlossener Kurzkrimi
Es sah aus wie in einem Schlachthof. Überallhin war das Blut gespritzt. Der metallische Geruch stieg Sabine Kerkenbrock in die Nase. „Oh Gott!“, stöhnte sie leise. „Was bin ich froh, dass ich nicht bei der Spusi bin. Ich hätte Bestimmt schon ein Magengeschwür von dem ewigen Brechreiz.“
„Da kann man auch auf anderem Wege dran kommen.“, grummelte Stefan Keller. „Aber ich gebe Ihnen Recht. Das sieht hier aus wie ein Mord in der Bronx. Eine abgebrochene Flasche als Tatwaffe habe ich schon lange nicht mehr gesehen.“
„Hat der Täter dem Opfer die Halsschlagader durchtrennt.?“, fragte Kerkenbrock.
„Sieht ganz so aus.“, meinte Keller.
„Unter Obdachlosen oder Straßengangs würde mich das ja nicht wundern, aber hier in den kultivierten Büroräumen der Diakonie. Wer tut so etwas?“
„Das werden wir herausfinden. Feinde hatte der sicher genug, denn als Geschäftsführer hat er sicher vielen einen Strich durch die eine oder andere Rechnung gemacht. Führungspersönlichkeiten stehe immer unter Beschuss.“
Unendlich viele Gespräche standen den Beamten nun bevor.
„Ein liebender Ehemann und treusorgender Familienvater.“, sagte die schluchzende Witwe.
„Ein erfolgreicher Geschäftsführer, der für eine gelungene Zusammenarbeit .stand“, hieß es von Seiten der Kirchenkreisleitung.
„Ein Choleriker, wie er im Buche steht.“, äußerte sich eine Verwaltungsfachkraft.
Auch der eine oder andere Synodale war nicht gut auf ihn zu sprechen. Er sei ein großspuriger und unverschämter Mensch gewesen, der ständig übersteigerte Forderungen stellte und auch vor Ränkespielen und Intrigen nicht zurückschreckte.
Die Mitarbeitendenvertretung erklärte, er sei oft ein harter, aber fairer Verhandlungspartner gewesen. Vor allem habe er sein Unternehmen nach außen gut vertreten und so auch viele Vorteile für die Mitarbeitenden herausgeholt. „Als Chef stand er immer hinter uns.“, erklärte der MAV-Vorsitzende.
Diesen Satz hatte Jörg Angermann mitbekommen. Er hatte etwas in der Verwaltung zu erledigen, normalerweise arbeitete er in einem Jugendzentrum im sozialen Brennpunkt. Er bat die Beamten um ein Gespräch. In seinem Gesicht zeichnete sich eine große Verdrossenheit ab und auf seinen Schultern schien das Gewicht der ganzen Welt zu lasten. Diese Kraftlosigkeit konnte er auch nicht durch seine durchgehend schwarze Kleidung oder seinen martialischen Schnauzbart verbergen. Auf Sabine Kerkenbrock wirkte der Mann mittleren Alters so, als schien er darauf gewartet zu haben, endlich auszupacken, er platzte geradezu vor Mitteilungsbedürfnis
„Der Böse hatte richtig Dreck am Stecken.“, erklärte er. „Vor ein paar Jahren hat er einen Mitarbeiter rausgedisst, dessen Nase ihm nicht passte. Hat ihm vor seiner Haustür aufgelauert, als der krank geschrieben war, um ihn dabei zu erwischen, wie er trotz AU in der Gegend herumstromert. Irgendwie ist es ihm gelungen, ihm damit ein ein Vergehen nachzuweisen, das als Kündigungsgrund funktioniert.“
„Was hatte er gegen den Mitarbeiter?“, fragte Kerkenbrock.
„Er ertrug es nicht, dass der Mann ihm intellektuell überlegen war. Der hatte auch einfach mehr Ahnung von den Zusammenhängen und ich schätze Böse hatte Angst, dass der ihn dumm da stehen lässt. Zack, weg mit der Bedrohung. Dennis hat bis heute keinen neuen Job. Alle Mitarbeiter haben Schiss vor Böse. Vielleicht hatte er aktuell jemanden auf der Abschussliste und dem ist der Draht aus der Mütze gegangen.“
„Haben Sie die Kontaktdaten von diesem Dennis?“
„Nee. Ich weiß auch gar nicht wie der mit Nachnamen heißt. Aber das ist ja noch nicht alles. Im letzten Jahr hat die Diakonie mit einem Minus von 250.000 Euro abgeschlossen. Die Mitarbeiter sollen im nächsten Jahr auf die Hälfte der Jahressonderzahlungen verzichten. Die Ausstattung der Jugendhäuser ist unterirdisch. Überall brennt die Erde, aber Böse hat tatsächlich die Stirn besessen, im Kreissynodalvorstand eine Gratifikation zu beantragen und außerdem einen neuen Dienstwagen. Und jetzt halten Sie sich fest: Er hat beides bekommen.“
„Wissen Sie um welche Summe es sich da handelt?“, fragte Kerkenbrock.
Angermann zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber es werden sicher nicht nur 500 Euro gewesen sein. Sehen Sie, das Problem sind nicht nur diese Böses, die es überall gibt, das Problem ist, dass es ein System gibt, das die machen lässt. Überall entscheiden Laien über Unsummen von Geld, über strukturelle Veränderungen mit eklatanten Auswirkungen für Mitarbeitende und Klientel. Aber die, die da am Ruder sitzen, sind gar nicht bei der Sache, informieren sich nicht ausreichend und entscheiden nach Gefühl, Laune oder aus Opportunismus.“
„Wollen Sie uns damit sagen, dass der Kreis der möglichen Täter groß ist und möglicherweise ein Interner?“
Angermann nickte. Sie bedankten sich und als der Sozialarbeiter außer Hörweite war raunte Keller: „Typischer Verschwörungstheoretiker. Alle sind böse und verfolgen unlautere Ziele mit perfiden Methoden, nur er ist über jeden Zweifel erhaben.“
„Sie klingen beinahe genauso, Herr Keller.“, erwiderte Kerkenbrock und schmunzelte belustigt.
„So wie der Spinner? Nie im Leben. Vergleichen Sie mich nie wieder mit so einem betont rechtschaffenen Freizeit-Esoteriker. Haben Sie die Halskette gesehen, die aus dem Oberhemd hervorblitzte? So etwas finden Sie auch im Schaufenster von diesem Seelenfänger-Shop in der Altstadt.“
„Herr Keller“, nahm Kerkenbrock ihren Chef weiter aufs Korn, „Ich war mir gar nicht im Klaren darüber, dass Sie in Ihrer Freizeit esoterische Schaufensterbummel unternehmen.“
„Ach gehen Sie doch zum Teufel, Sie Rotzgöre.“, erwiderte Keller ärgerlich.
So sehr sie auch dazu neigten, Jörg Angermanns Hinweise nicht besonders ernst zu nehmen, wäre es unprofessionell gewesen, sie gänzlich zu ignorieren, Sie nahmen nun tagelange Ermittlungen auf, führten Gespräche mit Mitarbeitenden in Altenheimen, Kitas und Jugendzentren, besuchten Ausschüsse, sprachen mit Kooperationspartnern, aber auch wenn sie immer mehr düstere Geschichten über Böse zusammentrugen, gab es nicht den Hauch eines verwertbaren Hinweises auf den Täter.
Und dann kam alles ganz anders. Eine Zeugin meldete sich. Sie hatte jemanden gesehen, der mit blutigen Händen aus dem Bürogebäude der Diakonie geflüchtet war. Und als sie ihn eingehend beschrieben hatte, wusste Keller sofort, um wen es sich da handelte. Der Mann war aktenkundig und saß schon zwei Stunden später im Verhörraum. Bolle Winter. Stadtbekannter Lude, Schläger und Messerstecher. Was hatte ausgerechnet ihn dazu bewogen, den Geschäftsführer der Diakonie zu ermorden?
Winter knetete seine tätowierten Wurstfinger. Die gegelten Haarsträhnen hingen vor seinen gesenkten Augen, als er erklärte: „Er hat die Veronika durchgelassen. Die Veronika ist mein Mädchen. Sie geht für mich anschaffen, aber sie ist auch mein Mädchen. Und er hat schlimme Sachen mit ihr gemacht. So schlimm, dass Veronika jetzt keinen mehr ranlassen will, nicht mal mich. Sie ist vollkommen irre, hat Angst vor allen Männern und ich glaube, auch rein körperlich geht es bei ihr im Moment nicht. Er hat sie zwar nicht umgebracht, aber er hat ihre Seele getötet. Ich habe ja nichts gegen Kunden, die es gern mal ein bisschen Derb haben, aber wenn die mir die Ware versauen, da kenn' ich keinen Spaß. Und wenn es dann auch noch mein Mädchen trifft, ich liebe die Veronika nämlich und es macht mich ganz irre, dass ich sie nicht beschützen konnte und da hab' ich mit ihm abgerechnet. Er hat es verdient und es tut mir nicht leid.“
Sabine Kerkenbrock musste Keller Recht geben. Es waren nicht nur blutige Leichenfundorte, die in der Summe übermäßigen Ekel und Magengeschwüre verursachen konnten.

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Freitag, 3. März 2017
Die zweite Posaune - abgeschlossener Kurzkrimi
- Was habe ich mit da nur eingebrockt? Ich wollte doch nur den Verein retten, damit unsere Jugendarbeit nicht untergeht, hab diesen Posten doch nur übernommen, weil es sonst keiner wollte und jetzt stehe ich hier und muss repräsentieren, allein unter Rentnern. Na ja, die beiden da vorne sind wohl gerade noch so in den Vierzigern. Und das brave Mädchen und der noch bravere Junge machen ja auch mit. Aber die habe ich auch nie bei TEN SING gesehen. Nicht mal in der Jungschar. Wo bleibt nur Louis? Hoffentlich vergisst der nicht, die Scheiß Urkunde mitzubringen, sonst bin ich gleich voll am Arsch. -
Zur gleichen Zeit in einem anderen Kopf:
- WAS MACHT DENN DAS MÄDCHEN HEUTE ABEND HIER? ACH JA, DIE IST JA DIE NEUE VORSITZENDE. WIE HEIßT DIE NOCH MAL? ICH MUSS DOCH WENIGESTENS IHREN NAMEN WISSEN, WENN ICH IHRE HAND SCHÜTTELE. HÄTTE ICH GAR NICHT GEDACHT, DASS DIE JUNGEN LEUTE DAS SO WEITERMACHEN. ABER DAS SIND EBEN CVJM-LEUTE. BLUMEN HAT SIE JA NICHT DABEI: ABER VIELLEICHT KOMMT GABI JA MIT DEN BLUMEN. -

- Ein Glück, da kommt ja Louis. Mit Urkunde. Super. Ich frage mich nur, wann wir anfangen. Wieso sitzen die hier alle im Kreis und pusten ihre Hörner durch? Ich denke, es soll 'ne Feier geben. Wie lange wollen die denn spielen? Ich muss doch in einer halben Stunde weg. -

Lena öffnet den Mund: „Du, Jörg, wann fangt Ihr denn mit der Ehrung an? Ich kann nämlich nur bis in einer halben Stunde, dann muss ich zum nächsten Termin.“

„Ach so.“, erwidert der Chorleiter. „Also wir proben jetzt erst eineinhalb Stunden und danach findet dann der Empfang statt.“

„Wir wollen Hans Nolting doch eine Urkunde überreichen und auch kurz was dazu sagen. Aber wir müssen gleich wieder weg. Ich hab'n privaten Termin und Louis muss gleich noch arbeiten. Gabi muss auch noch zu einer Sitzung.“

„Dann macht das doch jetzt sofort, sozusagen als Startschuss für die Chorprobe.“

„Ja ist okay. - Könnt Ihr mal bitte alle kurz zuhören?“
Ein in seinen Reaktionen verzögerter Bläser pustet immer noch sein Waldhorn durch.

„Jetzt gib doch mal Ruhe Willi!“, schimpft Walter, die ehemalige Tuba. Walter sitzt ohne Instrument da. Er kann nicht mehr blasen. Die Zähne.

- UND DER ERSTE ENGEL STIEß IN DIE POSAUNE UND ES ENTSTAND HAGEL UND FEUER. GLEICH BEKOMME ICH ENDLICH DEN APPLAUS, DEN ICH VERDIENE. -

Lena hebt den Blick, strafft die Schultern und erklärt: „Für alle, die mich nicht kennen, ich bin die Lena und seit September die neue Vorsitzende des CVJM und der Louis hier neben mir, ist der zweite Vorsitzende. Wir haben von dem 70-jährigen Jubiläum heute gehört und beim Westbund angefragt, wie es mit einer Ehren-Nadel aussieht, aber da ist nichts vorgesehen. Uns ist es aber eine Herzensangelegenheit, einem langjährigen, verdienten Mitglied für 70 Jahre Mitwirkung im Posaunenchor eine Urkunde für die Ehrenmitgliedschaft zu überreichen. Lieber Hans Nolting, herzlichen Glückwunsch, bleib gesund und dem Chor weitere 70 Jahre erhalten!“

Gelächter brandete auf, gefolgt von Applaus und die drei Vertreter des Vereins defilierten am Jubilar Hans Nolting vorbei, der die Glückwünsche mit Tränen der Rührung in den Augen entgegennahm, auch wenn er sich über einen etwas würdigeren Rahmen gefreut hätte. Doch das war eben die übernächste Generation, mehr konnte man da wohl nicht erwarten.

„Ja, dann verabschieden wir uns. Feiert noch schön, wir hätten gern mitgefeiert, aber wir müssen alle noch zu einem anderen Termin.“

- Wie gut, dass ich das hinter mir hab'. Ich kann so was nicht. Das ist echt nicht meine Welt! -

Lena verlässt gefolgt von Louis und Gabi den Raum. Kaum hat Gabi die Tür hinter sich geschlossen, dringt ein verstörendes Geräusch durch die Trennwand.

„Was ist denn jetzt los?“, fragt Gabi alarmiert. Alle drei bleiben stehen und spitzen die Ohren. Sie öffnet die Tür erneut, Louis hat schon das Smartphone im Anschlag, irgendetwas sagt ihm, dass er vielleicht gleich einen Notruf absetzen muss.

- UND DER ZWEITE ENGEL STIEß IN DIE POSAUNE UND ES WURDE ETWAS WIE EIN GROßER, GLÜHENDER BERG INS MEER GEWEORFEN UND DER DRITTE TEIL DES MEERES WURDE ZU BLUT... SO STEHT ES JA IN DER OFFENBARUNG IM ACHTEN KAPITEL. ABER WAR ES JETZT DER FÜNFTE ODER DER ACHTE VERS? -

Unter Hans Nolting breitete sich eine tiefrote Lache aus. Ein Messer mit langer scharfer Klinge steckte in seinem Rücken. Damit sollte eigentlich der Butterkuchen geschnitten werden, den es nach den pikanten Häppchen zum Nachtisch geben sollte. Jetzt dachten die ersten schon an Beerdigungskuchen.

- NA ALSO. MAN MUSS EBEN WAS TUN, DAMIT MAN NICHT UNTERGEHT. ICH BIN 70 JAHRE MITARBEITER UND NICHT NUR ALS AKTIVES CHORMITLGLIED! ABER JETZT SIND SIE JA ZURÜCKGEKOMMEN. -

Entsetzt starren alle auf das Blut an Walters linker Hand. Alle wissen, dass Walter Linkshänder ist und dass er eben noch an Hansis rechter Seite saß. Und dass er direkt vor dem Servierwagen saß, auf dem der Kuchen steht, auf dem das Messer lag, das jetzt in Hansis Rücken steckt.

„Walter!“, keucht Willi. „Was hast du gemacht? Und warum?“

Die Ausdruckslosigkeit in Walters vom Leben zerfurchten und erschlafften Gesicht hat eine
verstörende Wirkung auf alle Anwesenden. Louis überprüft die Vitalfunktionen des Opfers, gleich mehrere Chormitglieder haben einen Notruf abgesetzt. Wie gelähmt warten alle auf den Rettungsdienst – und die Polizei.

Willi geht auf Walter los und baut sich vor ihm auf. Dann packt er seinen Chorbruder an den Schultern. „Warum hast du das gemacht, Walter?“, schreit er. „Jetzt rede!“

Walter atmet tief ein, so als müsste er innerlich in den Keller gehen und die alten Geschichten aus dem Regal holen, die da schon viel zu lange lagern und die viel zu viel Gewicht haben für seine alten Knochen.

„Ich habe heute Jubiläum. Ich bin nun 1946 Jahre Mitarbeiter. Siebzig ging es in der Jungschar für mich los. Ich habe Kanones gehalten und Bibelstunden eingeübt. Bei Egon Harsch bin ich durch die harte Schule gegangen, die einen gestandenen Mitarbeiter aus mir gemacht hat.“
Walter blickt abfällig auf den blutenden Hans.
„Der da hat immer nur aufgeblasen. Immer nur Zugposaune. Und sonst immer in allen Vereinen rumgesprungen und hat sich immer mit seiner Landwirtschaft rausgeredet. Und jetzt kriegt der meine Urkunde. Wo gibt’s denn sowas?“

- Ich hab' noch nie so einen leeren Blick gesehen. Man glaubt direkt, die Löcher im Gehirn zu erkennen. Wie ein Schweizer Käse. Hoffentlich werde ich niemals genauso. Und hoffentlich kommt hier gleich mal ein Krankenwagen. Und die Polizei. Ich will nach Hause. Wo bin ich hier nur gelandet? Was habe ich mir nur dabei gedacht? -

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Freitag, 24. Februar 2017
Anja in der Pfütze
Ausgerechnet heute beschlich Sidem beim Betreten des JuZi ein komisches Gefühl, dabei waren sie doch in der letzten Woche mit Anja in der Moschee gewesen und ihre Eltern waren seitdem weniger verschnupft, als sie sich zu Hause verabschiedete, um das evangelische Jugendzentrum zu besuchen. Was die auch immer hatten. Hier ging es eigentlich nie um Religion, höchstens mal zu Weihnachten oder zu Ostern, aber da wurde eigentlich auch nur gebastelt oder es gab ein paar Spiele und etwas Besonderes zu essen. Dass auch Karneval und Halloween im weitesten Sinne etwas mit Religion zu tun hatte, war Sidem nicht bewusst.
Die Tür zum Büro stand offen. Es war so merkwürdig still. Warum lag Anja auf der Erde? War sie ausgerutscht, als sie den roten Saft aufwischen wollte? Woher kam der Saft überhaupt? Was hatte der im Büro zu suchen?
Plötzlich spürte sie, dass jemand hinter ihr stand. Sidem drehte sich um und blickte in das Gesicht von Annalenas Mutter. Die war auch ganz still und sie guckte so komisch. Dann flüsterte sie zischend:„Was hast du gemacht?“
Sidem war verwirrt. Was sollte sie schon gemacht haben? Anja lag immer noch da und da war auch kein Lappen. Sie hatte gar nicht versucht, den Saft aufzuwischen, sie war einfach ausgerutscht und jetzt war sie ohnmächtig.
„Ich habe Anja zuerst gefunden.“, antwortete Sidem völlig sinnlos auf die Frage der deutschstämmigen Mutter. Sie sah in deren Augen Angst, Hass und Feindseligkeit, aber sie konnte diesen Blick nicht einordnen, verstand nicht, was sie da sah.
„Womit hast du zugeschlagen?“, fragte die Mutter kalt und hart, während sie ihre Tochter immer wieder hinter sich schubste, damit Annalena Anja nicht sehen konnte. Warum machte Annalenas Mutter das? Sidem hatte mit gar nichts zugeschlagen. Was sollte diese Frage?
„Jetzt schicken die vom IS schon Kinder los für ihre Terroranschläge.“, schimpfte die deutsche Mutter und zückte ihr Mobiltelefon. Sie wischte und tippte darauf herum, dann hielt sie es an ihr Ohr.
„Ja, ich rufe aus B. an. Goebel mein Name. Ich bin hier im JuZi der Lukasgemeinde. Im Büro liegt die Leiterin der Mädchengruppe. Die hat jemand niedergeschlagen.“....
„Also sie rührt sich überhaupt nicht. Sie können ja einen Rettungswagen schicken, aber ich glaube, na ja...“...
„So genau kann ich Ihnen nicht antworten. Hier sind Kinder und gleich kommen noch mehr.“...
„Ja ist gut. Eigentlich muss ich heute eine Menge erledigen, aber unter diesen besonderen Umständen meinetwegen.“
Frau Goebel nahm die Kinder in Empfang. Waren die Eltern dabei, schickte sie sie sofort zurück. Sidem behielt sie im Auge. Die würde sie der Polizei übergeben.
Die Polizisten waren ungehalten, dass Frau Goebel nicht erwähnt hatte, dass ein Kind die Leiche gefunden hatte. Jetzt mussten sie zusätzliches Fachpersonal anfordern, das kostete unnötig Zeit und die Verzögerung tat auch dem Kind nicht gut.
Frau Goebel raunte dem Kriminalhauptkommissar ihren Verdacht zu. Der sah sie voller Ekel an. Sie dachte, der angewiderte Blick gelte dem Mädchen und kam gar nicht darauf, dass sie selbst der Gegenstand des Unbehagens war.
Es dauerte mehrere Tage, bis der Täter gefasst war. Er hatte aus Hass gehandelt. Es war tatsächlich ein religiöser Fanatiker. Er konnte nicht dulden, dass muslimische Kinder ein christliches Jugendzentrum aufsuchten. Als die gewissenlose Sozialarbeiterin dann die christlichen Kinder in die Moschee geschleppt hatte, war das Maß für ihn voll gewesen. Er hatte für seinen Glauben getötet. Nicht für 72 Jungfrauen, sondern für den Triumph der deutschen Leitkultur.
Sidem durfte nie wieder das JuZi besuchen. Und Frau Goebel traute ihr nach wie vor nicht über den Weg. Nur die Mädchen betrauerten Anja. Die Evangelischen, genauso wie die Muslimischen und die Konfessionslosen.

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