... newer stories
Freitag, 23. September 2016
Feuerzangenbowle – abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 12:18h
Helmut stand schon geschäftig in der Küche, als Sonja und Richard dazu kamen.
„Hast du im Kaminzimmer schon angeheizt?“, fragte ihn Richard mit einem schelmischen Grinsen.
„Nein.“, erwiderte Helmut todernst, „Das machen wir zusammen mit der Feuerzangenbowle. Kommen jetzt eigentlich alle?“
„Werner hat keine Zeit.“, sagte Sonja . „Und Sabine hat eben noch eine Mail geschickt, dass ihr etwas dazwischen gekommen ist. Aber Friedhelm und Hanna kommen auf jeden Fall.“
„Mit Gesine und Lotte habe ich eben noch gesprochen.“, sagte Richard .
Wie auf ein Stichwort erschienen die beiden Frauen mit Erwin, Margit und Uwe im Schlepptau, kurz darauf trudelten auch Friedhelm und Hanna ein. Der Gesprächskreis war komplett. Helmut hatte den Topf mit der Mischung aus Rotwein, Orangensaft, Orangenscheiben Zimt und Nelken schon aufgesetzt, als plötzlich Sebastian die Küche betrat. Der Jugendliche nuschelte ein leises „N'Abend.“ und man spürte deutlich, dass er sich wie ein Fremdkörper unter all den ums Rentenalter peripherierenden Erwachsenen fühlte.
„Ihr wisst aber schon, dass das Kaminzimmer heute Abend belegt ist?“, fragte Helmut eifrig.
„Wir treffen uns im Jugendraum.“, erwiderte Sebastian tonlos.
„Im Gruppenraum, so heißt der jetzt.“, verbesserte Lotte ihn schnippisch.
„Was heißt denn eigentlich wir?“,kläffte Uwe und sah den Jugendlichen herausfordernd an.
„Kommen da überhaupt noch welche außer dir? So eine richtige Jugendgruppe kriegt ihr ja schon lange nicht mehr zustande.“
„Kommen schon noch ein paar.“, antwortete Sebastian scheinbar emotionslos, aber seine Augen sprühten Funken.
„Nehmt euch mal ein Beispiel an uns.“, tönte Erwin. „Als wir noch so junge Hüpfer waren wie ihr, da waren wir mit dreimal soviel Mann wie jetzt. Und wir haben richtig was los gemacht, nicht nur vorm Computer rumgehangen. Wenn ihr in fünfzig Jahren auch nur noch ein Drittel von dem zusammen kriegt, was ihr heute habt, dann seid ihr womöglich nur ein zwei Drittel Mensch.“ Er lachte schallend.
Sebastian ignorierte die Sprüche, kochte eine Kanne Tee, stellte ein paar Tassen, Löffel und Zucker auf ein Tablett und verschwand wortlos in den ehemaligen Jugendraum, der jetzt Gruppenraum hieß.
Als die Basis der Feuerzangenbowle warm genug war, siedelte der Gesprächskreis ins Kaminzimmer um. „Ich schmeiß mal das Feuer an.“, sagte Uwe und positionierte sich wichtigtuerisch vor dem Kamin. Uwe war einer dieser Typen die sich ganz archaisch und tief verbunden mit ihren Urahnen fühlten, wenn sie ein Kaminfeuer entfachten oder vor dem Grill standen. Helmut war da feinsinniger, er bevorzugte die saubere, ätherische Flamme des Rechauds, auf den er nun den Topf mit der angesetzten Bowle stellte, die Zange und den Zuckerhut auflegte, alles mit hochprozentigem Rum begoss und wartete, bis alle es sich gemütlich gemacht hatten. Friedhelm knipste mit einem süffisanten Lächeln die schummrigen Stehlampen an, während Hanna, seine Gattin, die grelle Deckenbeleuchtung ausknipste. Als alle Platz genommen hatten, entzündete Helmut den Zuckerhut und alle blickten versonnen in die orangefarbenen und tiefblauen Flammen, vor allem aber schon bald in den brennenden, geschmolzenen Zucker der karamellisiert in die warme Flüssigkeit tropfte und dort sein unvergleichliches Aroma verbreitete.
„Sieht das schön aus.“, hauchte Sonja schwärmerisch und ganz im Einklang mit ihren feinen Gesichtszügen, dem zierlichen Körper und der elfenhaften Haltung, die sie sich auch jenseits der Sechzig bewahrt hatte. Es lief eine heimliche Konkurrenz zwischen ihr und Margit , die genauso alt und genauso zart war, aber im Gesicht nicht mehr ganz so gut definierte Konturen vorzuweisen hatte.
„Für mich bitte nur eine halbe Tasse.“, sagte Lotte und kniff wie um die Ernsthaftigkeit ihrer reduzierten Alkoholkonsum-Absichten zu bekräftigen, altjüngferlich den Mund zu. Lotte war unter allen anwesenden Frauen mit Abstand die stutenbissigste, sie war pensionierte Englischlehrerin, gab sich gern als feministische Frauenförderin, duldete aber kein weibliches Wesen neben sich, das ihr in irgendeiner Hinsicht überlegen sein könnte. Wenn sie bei einer Frau diesen Eindruck hatte, so wurde diese umgehend so lange akribisch demontiert bis die Ex-Studienrätin ihr Ziel erreicht hatte. Hanna, eine patente, freundliche, bodenständige Praktikerin, hatte das längst durchschaut und hielt Lotte konsequent auf Abstand.
Richard nahm einen kräftigen Zug. Er genoss schon seit einigen Jahren seinen Ruhestand, hatte die Altersteilzeit in fünf Jahre Vollzeit und Fünf Jahre Vorruhestand umgewandelt und erfreute sich bester Laune und Gesundheit.
„Wann starten wir denn den Film?“, fragte Gesine, „wenn die ersten Flammen herunter gebrannt sind?“ Sie war eine besonders vorsichtige Person, immer höflich, besonders freundlich und zugewandt, immer offen für neue Ideen, aber gleichzeitig furchtbar ängstlich und verletzlich. Die aparte Sonja und die ihr hierin kaum nachstehende Margit verunsicherten sie und machten, dass sie sich klein, dick und dumm vorkam. Vor Männern wie Uwe fürchtete sie sich, Erwin schüchterte sie mit seiner barschen Art ein, Richard verunsicherte sie, weil er sehr ausgiebig flirtete und dabei auch noch immer ziemlich attraktiv war, aber den zuverlässigen Helmut und vor allem den in sich ruhenden Friedhelm hatte sie besonders gern.
Da saßen sie nun, der versammelte Gesprächskreis, und sahen sich zum gefühlt hundertsten Mal an, wie Heinz Rühmann zum Pfeiffer mit drei f wurde und seine Dinosaurier-artigen Pauker an der Nase herumführte.
„Helmut , sagte Richard , „ich glaube du hast einen Schuss Rum zu viel in die Bowle getan. Ich seh schon doppelt.“
„Unsinn.“, widersprach Lotte entschieden, „Der Film ist irgendwie unscharf. Hast du die DVD nicht richtig sauber gemacht?“
Geräuschvoll sackte Friedhelm vom Sessel. Es verbreitete sich umgehend eine große Aufregung, aber jeder, der versuchte zu helfen, ging unmittelbar nach dem Aufstehen in die Knie.
Acht Stunden später
„Das sieht hier aus, als wäre der Fuchs im Hühnerstall überrascht worden.“, raunte Keller seiner Kollegin Kerkenbrock ins Ohr.
„Ihren Humor möchte ich mal haben.“, zischte die und verbesserte sich dann: „Oder lieber nicht. Wer hat die eigentlich gefunden?“
„Die Küsterin. Irgend ein Angehöriger hat mitten in der Nacht bei ihr angerufen und da hat sie nachgesehen. Wir müssen die Bowle untersuchen lassen, ich wette, da ist was drin, was da nicht rein gehört. Und kann mal einer dem Scheiß Rühmann den Saft abdrehen? Ich kann dem alten Nazispeichellecker keine drei Minuten ins Gesicht sehen, ohne dass sich mir der Magen umdreht.“
Eine Beamtin schaltete Fernseher und DVD-Player aus.
„Nur einen wenzigen Schlock.“, sinnierte Keller.
Im Nebenzimmer saß zitternd die Küsterin. Sabine Kerkenbrock gesellte sich zu ihr. „Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Frau Pankoke?“
„Ja, natürlich.“
„Waren außer dem hiesigen Gesprächskreis noch andere Gruppen im Haus?“
„Der Jugendkreis. Die waren im Gruppenraum.“
„Hatten die Jugendlichen irgendwie Zugang zu der Bowle?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„War die Haustür abgeschlossen oder geöffnet, als Sie heute Nacht hier ankamen?“
„Die Tür war offen.“ Frau Pankoke blickte verzweifelt aus dem Fenster. Plötzlich riss sie die Augen auf: „Auf dem Dachboden der Kirche brennt Licht.“, stieß sie hervor. „Ich war um sieben heute Abend noch da oben, da brannte es nicht.“
„Haben die Jugendlichen Zugang zum Dachboden?“
„Nur Sebastian, der Gruppenleiter. Aber ich kann mir nicht vorstellen, was der da oben wollte. Da versteckt sich bestimmt der Mörder und wartet, bis sich hier alles beruhigt hat.“
„Das glaube ich nicht, Frau Pankoke.“, beruhigte Kerkenbrock die Küsterin. „Wenn hier überhaupt ein Mord vorliegt, vielleicht ist es auch einfach nur ein Unglücksfall. Aber wir können ja mal nachsehen.“
In Begleitung von zwei weiteren Beamten bestiegen Stefan Keller und Sabine Kerkenbrock den Dachboden der Kirche, den Schlüssel hatten sie sich von der Küsterin aushändigen lassen. Was sie dort vorfanden, ließ ihrer aller Blut gefrieren: Mit einem Bergsportseil hatte sich ein junger Mann im Dachfirst erhängt. Unter seiner Leiche lag ein Stück Papier. Keller streifte sich Handschuhe über, nahm es an sich und entfaltete es. Dort stand:
„Liebe Gemeinde!
Jetzt kann ich wohl unmöglich weiterleben, mit der Schuld, die ich auf mich geladen habe. Ich wollte sowieso nicht weiterleben, darum habe ich mir hochkonzentriertes Barbiturat besorgt. Ich verrate nicht wie, ich will niemanden unnötig belasten. Aber dann waren da diese selbstgefälligen Silberpanther, die mir und der Jugend in unserer Gemeinde alles genommen haben, was uns lieb und wichtig war. Wir hatten hier nie einen hauptamtlichen Jugendmitarbeiter, wir haben immer alles ehrenamtlich geleistet und Geld gab es auch immer nur ganz wenig. Zuerst wurde der Jugendraum auch für andere Gemeindegruppen genutzt. Als die Stadt das herausgefunden hat, gingen uns auch noch die öffentlichen Fördermittel verloren und die Gemeinde hatte es natürlich nicht nötig, diese zu ersetzen. Dann regten sie sich auf, dass der Jugendraum ihre Vorstellung von Ästhetik beleidigte, schließlich würden nicht nur Jugendgruppen den Raum nutzen. Er wurde genauso neutral eingerichtet wie jeder langweilige Mehrzweckraum in jedem evangelischen Gemeindehaus. Unsere Arbeit wurde praktisch unmöglich gemacht und so blieben auch nach und nach die Jugendlichen weg. Heute Abend hat Erwin mir deswegen noch einen dummen Spruch rein gereicht, ausgerechnet Erwin, der in jungen Jahren die Vorstandsarbeit im CVJM hingeschmissen hat, sich um nichts mehr geschert hat und jetzt als Rentner immer dazwischen pfuscht, wenn der deutlich jüngere Vorstand seine Arbeit machen will. Nicht einmal unser Herbstfest hat er uns allein planen lassen, ständig hat er seine Verbindungen in der Gemeinde spielen lassen und uns Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ich konnte sie einfach nicht mehr sehen, diese ewig Wein kübelnden Rentner, die sich überall im Gemeindehaus breitmachen und alle Macht an sich reißen, weil sie sonst nichts zu tun haben. Da habe ich ihnen mein Barbiturat geschenkt und das Gemeindehaus von dieser Plage befreit. Ich bin immer gern Klettern gegangen und ich war gern ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Evangelischen Kirche. Ist doch ein passender Abgang. Macht es künftig besser. Euer Sebastian.“
Keller reichte das Papier seiner Kollegin und sagte: „Den Brief sollte man eigentlich veröffentlichen. Eindeutig ein Generationen-Konflikt.“
ENDE
„Hast du im Kaminzimmer schon angeheizt?“, fragte ihn Richard mit einem schelmischen Grinsen.
„Nein.“, erwiderte Helmut todernst, „Das machen wir zusammen mit der Feuerzangenbowle. Kommen jetzt eigentlich alle?“
„Werner hat keine Zeit.“, sagte Sonja . „Und Sabine hat eben noch eine Mail geschickt, dass ihr etwas dazwischen gekommen ist. Aber Friedhelm und Hanna kommen auf jeden Fall.“
„Mit Gesine und Lotte habe ich eben noch gesprochen.“, sagte Richard .
Wie auf ein Stichwort erschienen die beiden Frauen mit Erwin, Margit und Uwe im Schlepptau, kurz darauf trudelten auch Friedhelm und Hanna ein. Der Gesprächskreis war komplett. Helmut hatte den Topf mit der Mischung aus Rotwein, Orangensaft, Orangenscheiben Zimt und Nelken schon aufgesetzt, als plötzlich Sebastian die Küche betrat. Der Jugendliche nuschelte ein leises „N'Abend.“ und man spürte deutlich, dass er sich wie ein Fremdkörper unter all den ums Rentenalter peripherierenden Erwachsenen fühlte.
„Ihr wisst aber schon, dass das Kaminzimmer heute Abend belegt ist?“, fragte Helmut eifrig.
„Wir treffen uns im Jugendraum.“, erwiderte Sebastian tonlos.
„Im Gruppenraum, so heißt der jetzt.“, verbesserte Lotte ihn schnippisch.
„Was heißt denn eigentlich wir?“,kläffte Uwe und sah den Jugendlichen herausfordernd an.
„Kommen da überhaupt noch welche außer dir? So eine richtige Jugendgruppe kriegt ihr ja schon lange nicht mehr zustande.“
„Kommen schon noch ein paar.“, antwortete Sebastian scheinbar emotionslos, aber seine Augen sprühten Funken.
„Nehmt euch mal ein Beispiel an uns.“, tönte Erwin. „Als wir noch so junge Hüpfer waren wie ihr, da waren wir mit dreimal soviel Mann wie jetzt. Und wir haben richtig was los gemacht, nicht nur vorm Computer rumgehangen. Wenn ihr in fünfzig Jahren auch nur noch ein Drittel von dem zusammen kriegt, was ihr heute habt, dann seid ihr womöglich nur ein zwei Drittel Mensch.“ Er lachte schallend.
Sebastian ignorierte die Sprüche, kochte eine Kanne Tee, stellte ein paar Tassen, Löffel und Zucker auf ein Tablett und verschwand wortlos in den ehemaligen Jugendraum, der jetzt Gruppenraum hieß.
Als die Basis der Feuerzangenbowle warm genug war, siedelte der Gesprächskreis ins Kaminzimmer um. „Ich schmeiß mal das Feuer an.“, sagte Uwe und positionierte sich wichtigtuerisch vor dem Kamin. Uwe war einer dieser Typen die sich ganz archaisch und tief verbunden mit ihren Urahnen fühlten, wenn sie ein Kaminfeuer entfachten oder vor dem Grill standen. Helmut war da feinsinniger, er bevorzugte die saubere, ätherische Flamme des Rechauds, auf den er nun den Topf mit der angesetzten Bowle stellte, die Zange und den Zuckerhut auflegte, alles mit hochprozentigem Rum begoss und wartete, bis alle es sich gemütlich gemacht hatten. Friedhelm knipste mit einem süffisanten Lächeln die schummrigen Stehlampen an, während Hanna, seine Gattin, die grelle Deckenbeleuchtung ausknipste. Als alle Platz genommen hatten, entzündete Helmut den Zuckerhut und alle blickten versonnen in die orangefarbenen und tiefblauen Flammen, vor allem aber schon bald in den brennenden, geschmolzenen Zucker der karamellisiert in die warme Flüssigkeit tropfte und dort sein unvergleichliches Aroma verbreitete.
„Sieht das schön aus.“, hauchte Sonja schwärmerisch und ganz im Einklang mit ihren feinen Gesichtszügen, dem zierlichen Körper und der elfenhaften Haltung, die sie sich auch jenseits der Sechzig bewahrt hatte. Es lief eine heimliche Konkurrenz zwischen ihr und Margit , die genauso alt und genauso zart war, aber im Gesicht nicht mehr ganz so gut definierte Konturen vorzuweisen hatte.
„Für mich bitte nur eine halbe Tasse.“, sagte Lotte und kniff wie um die Ernsthaftigkeit ihrer reduzierten Alkoholkonsum-Absichten zu bekräftigen, altjüngferlich den Mund zu. Lotte war unter allen anwesenden Frauen mit Abstand die stutenbissigste, sie war pensionierte Englischlehrerin, gab sich gern als feministische Frauenförderin, duldete aber kein weibliches Wesen neben sich, das ihr in irgendeiner Hinsicht überlegen sein könnte. Wenn sie bei einer Frau diesen Eindruck hatte, so wurde diese umgehend so lange akribisch demontiert bis die Ex-Studienrätin ihr Ziel erreicht hatte. Hanna, eine patente, freundliche, bodenständige Praktikerin, hatte das längst durchschaut und hielt Lotte konsequent auf Abstand.
Richard nahm einen kräftigen Zug. Er genoss schon seit einigen Jahren seinen Ruhestand, hatte die Altersteilzeit in fünf Jahre Vollzeit und Fünf Jahre Vorruhestand umgewandelt und erfreute sich bester Laune und Gesundheit.
„Wann starten wir denn den Film?“, fragte Gesine, „wenn die ersten Flammen herunter gebrannt sind?“ Sie war eine besonders vorsichtige Person, immer höflich, besonders freundlich und zugewandt, immer offen für neue Ideen, aber gleichzeitig furchtbar ängstlich und verletzlich. Die aparte Sonja und die ihr hierin kaum nachstehende Margit verunsicherten sie und machten, dass sie sich klein, dick und dumm vorkam. Vor Männern wie Uwe fürchtete sie sich, Erwin schüchterte sie mit seiner barschen Art ein, Richard verunsicherte sie, weil er sehr ausgiebig flirtete und dabei auch noch immer ziemlich attraktiv war, aber den zuverlässigen Helmut und vor allem den in sich ruhenden Friedhelm hatte sie besonders gern.
Da saßen sie nun, der versammelte Gesprächskreis, und sahen sich zum gefühlt hundertsten Mal an, wie Heinz Rühmann zum Pfeiffer mit drei f wurde und seine Dinosaurier-artigen Pauker an der Nase herumführte.
„Helmut , sagte Richard , „ich glaube du hast einen Schuss Rum zu viel in die Bowle getan. Ich seh schon doppelt.“
„Unsinn.“, widersprach Lotte entschieden, „Der Film ist irgendwie unscharf. Hast du die DVD nicht richtig sauber gemacht?“
Geräuschvoll sackte Friedhelm vom Sessel. Es verbreitete sich umgehend eine große Aufregung, aber jeder, der versuchte zu helfen, ging unmittelbar nach dem Aufstehen in die Knie.
Acht Stunden später
„Das sieht hier aus, als wäre der Fuchs im Hühnerstall überrascht worden.“, raunte Keller seiner Kollegin Kerkenbrock ins Ohr.
„Ihren Humor möchte ich mal haben.“, zischte die und verbesserte sich dann: „Oder lieber nicht. Wer hat die eigentlich gefunden?“
„Die Küsterin. Irgend ein Angehöriger hat mitten in der Nacht bei ihr angerufen und da hat sie nachgesehen. Wir müssen die Bowle untersuchen lassen, ich wette, da ist was drin, was da nicht rein gehört. Und kann mal einer dem Scheiß Rühmann den Saft abdrehen? Ich kann dem alten Nazispeichellecker keine drei Minuten ins Gesicht sehen, ohne dass sich mir der Magen umdreht.“
Eine Beamtin schaltete Fernseher und DVD-Player aus.
„Nur einen wenzigen Schlock.“, sinnierte Keller.
Im Nebenzimmer saß zitternd die Küsterin. Sabine Kerkenbrock gesellte sich zu ihr. „Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Frau Pankoke?“
„Ja, natürlich.“
„Waren außer dem hiesigen Gesprächskreis noch andere Gruppen im Haus?“
„Der Jugendkreis. Die waren im Gruppenraum.“
„Hatten die Jugendlichen irgendwie Zugang zu der Bowle?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„War die Haustür abgeschlossen oder geöffnet, als Sie heute Nacht hier ankamen?“
„Die Tür war offen.“ Frau Pankoke blickte verzweifelt aus dem Fenster. Plötzlich riss sie die Augen auf: „Auf dem Dachboden der Kirche brennt Licht.“, stieß sie hervor. „Ich war um sieben heute Abend noch da oben, da brannte es nicht.“
„Haben die Jugendlichen Zugang zum Dachboden?“
„Nur Sebastian, der Gruppenleiter. Aber ich kann mir nicht vorstellen, was der da oben wollte. Da versteckt sich bestimmt der Mörder und wartet, bis sich hier alles beruhigt hat.“
„Das glaube ich nicht, Frau Pankoke.“, beruhigte Kerkenbrock die Küsterin. „Wenn hier überhaupt ein Mord vorliegt, vielleicht ist es auch einfach nur ein Unglücksfall. Aber wir können ja mal nachsehen.“
In Begleitung von zwei weiteren Beamten bestiegen Stefan Keller und Sabine Kerkenbrock den Dachboden der Kirche, den Schlüssel hatten sie sich von der Küsterin aushändigen lassen. Was sie dort vorfanden, ließ ihrer aller Blut gefrieren: Mit einem Bergsportseil hatte sich ein junger Mann im Dachfirst erhängt. Unter seiner Leiche lag ein Stück Papier. Keller streifte sich Handschuhe über, nahm es an sich und entfaltete es. Dort stand:
„Liebe Gemeinde!
Jetzt kann ich wohl unmöglich weiterleben, mit der Schuld, die ich auf mich geladen habe. Ich wollte sowieso nicht weiterleben, darum habe ich mir hochkonzentriertes Barbiturat besorgt. Ich verrate nicht wie, ich will niemanden unnötig belasten. Aber dann waren da diese selbstgefälligen Silberpanther, die mir und der Jugend in unserer Gemeinde alles genommen haben, was uns lieb und wichtig war. Wir hatten hier nie einen hauptamtlichen Jugendmitarbeiter, wir haben immer alles ehrenamtlich geleistet und Geld gab es auch immer nur ganz wenig. Zuerst wurde der Jugendraum auch für andere Gemeindegruppen genutzt. Als die Stadt das herausgefunden hat, gingen uns auch noch die öffentlichen Fördermittel verloren und die Gemeinde hatte es natürlich nicht nötig, diese zu ersetzen. Dann regten sie sich auf, dass der Jugendraum ihre Vorstellung von Ästhetik beleidigte, schließlich würden nicht nur Jugendgruppen den Raum nutzen. Er wurde genauso neutral eingerichtet wie jeder langweilige Mehrzweckraum in jedem evangelischen Gemeindehaus. Unsere Arbeit wurde praktisch unmöglich gemacht und so blieben auch nach und nach die Jugendlichen weg. Heute Abend hat Erwin mir deswegen noch einen dummen Spruch rein gereicht, ausgerechnet Erwin, der in jungen Jahren die Vorstandsarbeit im CVJM hingeschmissen hat, sich um nichts mehr geschert hat und jetzt als Rentner immer dazwischen pfuscht, wenn der deutlich jüngere Vorstand seine Arbeit machen will. Nicht einmal unser Herbstfest hat er uns allein planen lassen, ständig hat er seine Verbindungen in der Gemeinde spielen lassen und uns Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ich konnte sie einfach nicht mehr sehen, diese ewig Wein kübelnden Rentner, die sich überall im Gemeindehaus breitmachen und alle Macht an sich reißen, weil sie sonst nichts zu tun haben. Da habe ich ihnen mein Barbiturat geschenkt und das Gemeindehaus von dieser Plage befreit. Ich bin immer gern Klettern gegangen und ich war gern ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Evangelischen Kirche. Ist doch ein passender Abgang. Macht es künftig besser. Euer Sebastian.“
Keller reichte das Papier seiner Kollegin und sagte: „Den Brief sollte man eigentlich veröffentlichen. Eindeutig ein Generationen-Konflikt.“
ENDE
... link (13 Kommentare) ... comment
Donnerstag, 22. September 2016
34. Arche-Noah-Kita – Minden - aus dem Roman "Rache für Dina" von Cristina Fabry
c. fabry, 10:29h
„Warum hat Marek denn eben so schrecklich geheult?“, fragte Regina Heuer ihre Kollegin Sabine Krönke.
„Målin hat ihm Sand ins Gesicht geworfen, laut Målins Auskunft, weil er absichtlich ihre Burgmauer eingetreten hat, laut Mareks Version aus Versehen.“, gab Sabine Auskunft. „Marek hat außerdem ganz, ganz viel Sand in die Augen bekommen, so dass er ganz blind war, und Målin ist ja so gemein, während Målin natürlich beteuerte, dass sie ihn mit ihrem Geschoss nur sanft verscheuchen wollte, damit er nicht auch noch den Turm zertrampelt.“
„Sanft verscheuchen? Hat sie das wirklich so formuliert?“, fragte Regina verblüfft.
„Natürlich nicht.“, antwortete ihre Kollegin. „Sie sagte eher so etwas wie: „Ich wollte nur, dass er nicht alles kaputt macht, und da habe ich ihn ein ganz bisschen verjagt, weil Sand ist ja weich und tut nicht weh.“
„Tut aber doch weh!“, plärrte Regina und verlieh damit ihrer Phantasie über Mareks Reaktion Ausdruck.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn.“, sinnierte Sabine.
„Genau wie im Kirchenkreis.“, erwiderte Regina. „Mir ist immer noch ganz schlecht, obwohl Siggi mir ja schon am Freitag Bescheid gegeben hat. Ich will heute Abend mal Sonja anrufen, die muss ja völlig am Ende sein.“
„Sonja? Ist das Jens Frau?“
„Ja. 'Ne ganz Nette. Wir treffen uns ab und zu zum Grillen oder machen Spiele-Abende.“
„Glaubst du denn, dass der Mord an Jens die Rache für Volkmanns Ermordung war?“
„Ich kann es mir zumindest vorstellen. Vielleicht hat jemand von Volkmanns Jüngern die MAV in Verdacht und schlägt jetzt zurück.“
„Dann bist du aber auch nicht mehr sicher.“
„Nee, es hat ja Jens schon erwischt. Höchstens, wenn der Nächste aus der Leitungs-Liga dran ist, trete ich wieder auf den Plan.“
„Wen könntest du dir denn als Mörder vorstellen?“
„Keinen. Nicht einmal Massmann. Er ist zwar 'ne echte Kotzkanne, aber immer super korrekt und prinzipientreu.“
„Ich denke, er steckt auch hinter den neuen Verträgen und ähnlichen Schweinereien.“
„Ja schon, aber das ist ja alles halbwegs legal. So einer wie Massmann riskiert doch nicht Kopf und Kragen. Das ist ein Erbsenzähler und Fugenauskratzer, der seine Nachbarn verklagt, weil die Samen ihrer Ringelblumen in seinen Garten rüber wehen oder der seine Einfahrt mit einem Tor versieht, damit niemand mehr auf seinem sauber verlegten Verbundpflaster wendet und Fahrrinnen verursacht. So einer tötet nur im Krieg, wenn er offiziell dazu ermächtigt und das Gesetz auf seiner Seite ist. Dann käme schon eher Frau Attig infrage, Volkmanns persönlicher Zerberus. Die war ihrem Chef ja hoffnungslos verfallen. Andererseits hätte sie vermutlich viel zu viel Angst, sich die Bluse zu bekleckern und die Fingernägel abzubrechen. Mal ganz zu schweigen von dem Grauen einer solchen Bluttat – das hielte sie gar nicht aus.“
„Regina.“, Marek baute sich mit noch immer geröteten Augen vor den Erzieherinnen auf. „Da vorne ist eine Frau mit einem alten Mann, die wollen mit dir reden.“
Marek zeigte in Richtung Terrasse, wo eine gut aussehende junge Frau mit einem leicht zerknautschten Mittfünfziger auf sie wartete. Sie ging auf sie zu und reichte ihnen die Hand. „Ich bin Regina Heuer, die Leiterin dieser Kita. Was kann ich für Sie tun?“
„Sabine Kerkenbrock und Stefan Keller von der Bielefelder Mordkommission.“, sagte die junge Frau so leise, dass die Kinder nichts davon mitbekamen. „Können wir uns mit Ihnen irgendwo in Ruhe unterhalten?“
„Gehen wir doch in mein Büro.“, antwortete Regina. „Ich gehe mal vor.“
Nachdem sie sich gesetzt hatten und die Kita-Leiterin Getränke bereit gestellt hatte, begann Keller die Befragung: „Wir sind von mehreren Seiten darauf hingewiesen worden, dass sie am besten über den Konflikt bezüglich neuer Verträge für die Erzieherinnen informiert sind. Nun haben wir mit den übrigen Vertretern der MAV gesprochen und uns liegen auch die Gesprächsprotokolle vor. Haben Sie noch weiter gehende Informationen?“
„Aber was hat das mit dem Mord an Jens Carstensen zu tun?“, fragte Regina Heuer verwirrt.
„Zu Herrn Carstensen kommen wir gleich noch.“, erklärte Keller. „Aber wir untersuchen auch nach wie vor den Mord an Norbert Volkmann, und möglicherweise hängen beide Taten zusammen und möglicherweise haben sie etwas mit arbeitsrechtlichen Konflikten zu tun.“
„Ja, das ist natürlich denkbar.“, gab Regina zu. „Wie war jetzt noch mal Ihre Frage? Sie müssen entschuldigen, aber ich stehe immer noch unter Schock, obwohl ich schon seit Freitag Abend Bescheid weiß.“
„Wer hat Sie denn informiert?“, fragte Keller.
„Siegfried Wischmeier. Er war ganz aufgelöst.“
„Verständlicherweise. Also, zurück zu meiner Frage. Wie steht es mit ergänzenden Hintergrundinformationen zu den geänderten Arbeitsverträgen der Erzieherinnen?“
„Ach so. Ja, dass sie massiv bedroht und unter Druck gesetzt wurden, steht ja in den Protokollen. Alle diejenigen, die nicht dagegen vorgehen – und das ist die Mehrheit – sind nicht etwa einverstanden, sondern haben Angst vor Schikanen bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes. Nicht jede ist eine Kämpfernatur, viele haben auch gut verdienende Ehemänner und arbeiten mehr, um sich selbst zu verwirklichen, als zur Sicherung ihres Lebensunterhalts. Viele von den jüngeren Kolleginnen fürchten um ihre Existenz, wenn sie sich wehren. Sie sagen sich, dass sie sich besser aus der Sicherheit des schlecht bezahlten Jobs auf eine höher dotierte Stelle bewerben, als den Kampf gegen den Arbeitgeber aufzunehmen und womöglich aus einer geschwächten Position heraus auf Jobsuche zu gehen.“
„Wissen Sie, wie der Anstellungsträger die geänderten Verträge begründet hat?“, fragte Kerkenbrock.
„Angeblich sollten alle diejenigen, die länger oder weniger als fünf Jahre beim Kirchenkreis beschäftigt sind – je nachdem, wer gerade unterschreiben sollte - , in eine neue Gehaltsgruppe eingeordnet werden, ohne nennenswerte Veränderungen des Nettogehalts. Es handele sich nur um eine Formsache.“
„Waren die Betroffenen sehr verärgert?“, fragte Keller.
„Wie Sie sich vorstellen können!“, erwiderte Regina. „Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn man Ihnen auf einmal ein Neuntel Ihres Nettolohns verweigern würde, einfach so, um Geld zu sparen für irgendwelche eitlen Projekte.“
„Was für eitle Projekte meinen Sie denn?“, fragte Kerkenbrock.
„Kirchenmusikalische Leckerbissen, Vorzeige-Events im religionspädagogischen Sektor, aufwändige Gebäudesanierungen und so weiter.“
„Könnte da jemandem die Birne durchgebrannt sein?“, hakte Keller weiter nach.
„Ach, Sie meinen, ob von den Kolleginnen eine als Täterin infrage käme? Im Affekt zuzustechen, das könnte ich mir theoretisch noch vorstellen, aber keine von denen wäre so cool, dem Chef die Hosen runter zu ziehen und ihn genital zu verstümmeln.“
„Jetzt mal was ganz Anderes.“, mischte Kerkenbrock sich wieder ein. „Erinnern Sie sich eigentlich an ein fröhliches Sprüche Klopfen innerhalb der MAV über ein mögliches Verhältnis zwischen Norbert Volkmann und der Hartumer Kirchenmusikerin Lydia Schmalgemeier?“
„Äh ja, dunkel. Warum?“
„Nun, wir verfolgen eine mögliche Spur.“, erklärte Kerkenbrock. „Erinnern Sie sich an Details oder an Sprüche von Jens Carstensen? Die sollen ja recht eindrucksvoll gewesen sein.“
„Also, ich weiß noch, wie Friedrich Ortmann Frau Schmalgemeiers Verhalten beschrieben und zum Teil auch nachgeäfft hat. Jens Carstensen hat eine Reihe von Bemerkungen gemacht, die ziemlich witzig, aber auch deutlich unter der Gürtellinie waren. Aber Genaueres...warten Sie, an einen Spruch kann ich mich erinnern: 'Und Norbert erkannte seine Kantorin und er sang ihr ins Ohr: In dir ist Freude, in allem Leide, oh du süße Organistin.' - Das waren Anspielungen auf Adam und Eva und auf ein bekanntes Kirchenlied.“
„Könnte irgendjemand außerhalb der MAV von diesen Sprüchen etwas mitbekommen haben?“
„Das ist eher unwahrscheinlich.“, stellte Regina Heuer fest. „Meinen sie etwa, Jens Carstensen sei wegen dieser Bemerkungen ermordet worden?“
„Wir wissen es nicht.“, erklärte Keller. „Hätten Sie denn eine Idee, in welche Richtung wir ermitteln sollten?“
„Jens Carstensen ist als Mitarbeitervertreter der Kirchenkreisleitung ganz schön aufs Dach gestiegen. Er hat Reimler mit dem Arbeitsgericht gedroht, und diese Drohung ist keine leere. Mein Mann ist Anwalt für Arbeitsrecht und prüft zur Zeit die Erfolgsaussichten. Sieht gut aus für die Kolleginnen. Außerdem war Jens am Donnerstag beim landeskirchlichen Beauftragten für die Mitarbeiter in Verkündigung uns Seelsorge, der ist im Bereich Interessenwahrung für Mitarbeitende ziemlich engagiert, vielleicht sollten Sie sich mit dem mal unterhalten.“
„Wie heißt der, und wo finden wir den?“
„Den Namen weiß ich auch nicht, finden Sie aber auf der Homepage der Landeskirche. Auf jeden Fall sitzt er im Landeskirchenamt in Bielefeld.“
„Wie praktisch.“, stellte Keller fest.
„Dann vielen Dank, Frau Heuer.“, sagte Kerkenbrock. „Melden Sie sich bei uns, falls Ihnen noch etwas auf- oder einfällt?“
„Wenn Sie mir Ihre Kontaktdaten da lassen.“
Prompt legten die Beamten ihre Visitenkarten auf den Tisch. Regina sah ihnen nach, als sie ihr Auto aufsuchten.
„Was gäbe ich darum, wenn mir noch etwas einfiele.“, murmelte sie und ging dann wieder in den Garten, wo eine allein arbeitende Kollegin und ein Haufen quirliger kleiner Kinder auf sie warteten.
„Målin hat ihm Sand ins Gesicht geworfen, laut Målins Auskunft, weil er absichtlich ihre Burgmauer eingetreten hat, laut Mareks Version aus Versehen.“, gab Sabine Auskunft. „Marek hat außerdem ganz, ganz viel Sand in die Augen bekommen, so dass er ganz blind war, und Målin ist ja so gemein, während Målin natürlich beteuerte, dass sie ihn mit ihrem Geschoss nur sanft verscheuchen wollte, damit er nicht auch noch den Turm zertrampelt.“
„Sanft verscheuchen? Hat sie das wirklich so formuliert?“, fragte Regina verblüfft.
„Natürlich nicht.“, antwortete ihre Kollegin. „Sie sagte eher so etwas wie: „Ich wollte nur, dass er nicht alles kaputt macht, und da habe ich ihn ein ganz bisschen verjagt, weil Sand ist ja weich und tut nicht weh.“
„Tut aber doch weh!“, plärrte Regina und verlieh damit ihrer Phantasie über Mareks Reaktion Ausdruck.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn.“, sinnierte Sabine.
„Genau wie im Kirchenkreis.“, erwiderte Regina. „Mir ist immer noch ganz schlecht, obwohl Siggi mir ja schon am Freitag Bescheid gegeben hat. Ich will heute Abend mal Sonja anrufen, die muss ja völlig am Ende sein.“
„Sonja? Ist das Jens Frau?“
„Ja. 'Ne ganz Nette. Wir treffen uns ab und zu zum Grillen oder machen Spiele-Abende.“
„Glaubst du denn, dass der Mord an Jens die Rache für Volkmanns Ermordung war?“
„Ich kann es mir zumindest vorstellen. Vielleicht hat jemand von Volkmanns Jüngern die MAV in Verdacht und schlägt jetzt zurück.“
„Dann bist du aber auch nicht mehr sicher.“
„Nee, es hat ja Jens schon erwischt. Höchstens, wenn der Nächste aus der Leitungs-Liga dran ist, trete ich wieder auf den Plan.“
„Wen könntest du dir denn als Mörder vorstellen?“
„Keinen. Nicht einmal Massmann. Er ist zwar 'ne echte Kotzkanne, aber immer super korrekt und prinzipientreu.“
„Ich denke, er steckt auch hinter den neuen Verträgen und ähnlichen Schweinereien.“
„Ja schon, aber das ist ja alles halbwegs legal. So einer wie Massmann riskiert doch nicht Kopf und Kragen. Das ist ein Erbsenzähler und Fugenauskratzer, der seine Nachbarn verklagt, weil die Samen ihrer Ringelblumen in seinen Garten rüber wehen oder der seine Einfahrt mit einem Tor versieht, damit niemand mehr auf seinem sauber verlegten Verbundpflaster wendet und Fahrrinnen verursacht. So einer tötet nur im Krieg, wenn er offiziell dazu ermächtigt und das Gesetz auf seiner Seite ist. Dann käme schon eher Frau Attig infrage, Volkmanns persönlicher Zerberus. Die war ihrem Chef ja hoffnungslos verfallen. Andererseits hätte sie vermutlich viel zu viel Angst, sich die Bluse zu bekleckern und die Fingernägel abzubrechen. Mal ganz zu schweigen von dem Grauen einer solchen Bluttat – das hielte sie gar nicht aus.“
„Regina.“, Marek baute sich mit noch immer geröteten Augen vor den Erzieherinnen auf. „Da vorne ist eine Frau mit einem alten Mann, die wollen mit dir reden.“
Marek zeigte in Richtung Terrasse, wo eine gut aussehende junge Frau mit einem leicht zerknautschten Mittfünfziger auf sie wartete. Sie ging auf sie zu und reichte ihnen die Hand. „Ich bin Regina Heuer, die Leiterin dieser Kita. Was kann ich für Sie tun?“
„Sabine Kerkenbrock und Stefan Keller von der Bielefelder Mordkommission.“, sagte die junge Frau so leise, dass die Kinder nichts davon mitbekamen. „Können wir uns mit Ihnen irgendwo in Ruhe unterhalten?“
„Gehen wir doch in mein Büro.“, antwortete Regina. „Ich gehe mal vor.“
Nachdem sie sich gesetzt hatten und die Kita-Leiterin Getränke bereit gestellt hatte, begann Keller die Befragung: „Wir sind von mehreren Seiten darauf hingewiesen worden, dass sie am besten über den Konflikt bezüglich neuer Verträge für die Erzieherinnen informiert sind. Nun haben wir mit den übrigen Vertretern der MAV gesprochen und uns liegen auch die Gesprächsprotokolle vor. Haben Sie noch weiter gehende Informationen?“
„Aber was hat das mit dem Mord an Jens Carstensen zu tun?“, fragte Regina Heuer verwirrt.
„Zu Herrn Carstensen kommen wir gleich noch.“, erklärte Keller. „Aber wir untersuchen auch nach wie vor den Mord an Norbert Volkmann, und möglicherweise hängen beide Taten zusammen und möglicherweise haben sie etwas mit arbeitsrechtlichen Konflikten zu tun.“
„Ja, das ist natürlich denkbar.“, gab Regina zu. „Wie war jetzt noch mal Ihre Frage? Sie müssen entschuldigen, aber ich stehe immer noch unter Schock, obwohl ich schon seit Freitag Abend Bescheid weiß.“
„Wer hat Sie denn informiert?“, fragte Keller.
„Siegfried Wischmeier. Er war ganz aufgelöst.“
„Verständlicherweise. Also, zurück zu meiner Frage. Wie steht es mit ergänzenden Hintergrundinformationen zu den geänderten Arbeitsverträgen der Erzieherinnen?“
„Ach so. Ja, dass sie massiv bedroht und unter Druck gesetzt wurden, steht ja in den Protokollen. Alle diejenigen, die nicht dagegen vorgehen – und das ist die Mehrheit – sind nicht etwa einverstanden, sondern haben Angst vor Schikanen bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes. Nicht jede ist eine Kämpfernatur, viele haben auch gut verdienende Ehemänner und arbeiten mehr, um sich selbst zu verwirklichen, als zur Sicherung ihres Lebensunterhalts. Viele von den jüngeren Kolleginnen fürchten um ihre Existenz, wenn sie sich wehren. Sie sagen sich, dass sie sich besser aus der Sicherheit des schlecht bezahlten Jobs auf eine höher dotierte Stelle bewerben, als den Kampf gegen den Arbeitgeber aufzunehmen und womöglich aus einer geschwächten Position heraus auf Jobsuche zu gehen.“
„Wissen Sie, wie der Anstellungsträger die geänderten Verträge begründet hat?“, fragte Kerkenbrock.
„Angeblich sollten alle diejenigen, die länger oder weniger als fünf Jahre beim Kirchenkreis beschäftigt sind – je nachdem, wer gerade unterschreiben sollte - , in eine neue Gehaltsgruppe eingeordnet werden, ohne nennenswerte Veränderungen des Nettogehalts. Es handele sich nur um eine Formsache.“
„Waren die Betroffenen sehr verärgert?“, fragte Keller.
„Wie Sie sich vorstellen können!“, erwiderte Regina. „Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn man Ihnen auf einmal ein Neuntel Ihres Nettolohns verweigern würde, einfach so, um Geld zu sparen für irgendwelche eitlen Projekte.“
„Was für eitle Projekte meinen Sie denn?“, fragte Kerkenbrock.
„Kirchenmusikalische Leckerbissen, Vorzeige-Events im religionspädagogischen Sektor, aufwändige Gebäudesanierungen und so weiter.“
„Könnte da jemandem die Birne durchgebrannt sein?“, hakte Keller weiter nach.
„Ach, Sie meinen, ob von den Kolleginnen eine als Täterin infrage käme? Im Affekt zuzustechen, das könnte ich mir theoretisch noch vorstellen, aber keine von denen wäre so cool, dem Chef die Hosen runter zu ziehen und ihn genital zu verstümmeln.“
„Jetzt mal was ganz Anderes.“, mischte Kerkenbrock sich wieder ein. „Erinnern Sie sich eigentlich an ein fröhliches Sprüche Klopfen innerhalb der MAV über ein mögliches Verhältnis zwischen Norbert Volkmann und der Hartumer Kirchenmusikerin Lydia Schmalgemeier?“
„Äh ja, dunkel. Warum?“
„Nun, wir verfolgen eine mögliche Spur.“, erklärte Kerkenbrock. „Erinnern Sie sich an Details oder an Sprüche von Jens Carstensen? Die sollen ja recht eindrucksvoll gewesen sein.“
„Also, ich weiß noch, wie Friedrich Ortmann Frau Schmalgemeiers Verhalten beschrieben und zum Teil auch nachgeäfft hat. Jens Carstensen hat eine Reihe von Bemerkungen gemacht, die ziemlich witzig, aber auch deutlich unter der Gürtellinie waren. Aber Genaueres...warten Sie, an einen Spruch kann ich mich erinnern: 'Und Norbert erkannte seine Kantorin und er sang ihr ins Ohr: In dir ist Freude, in allem Leide, oh du süße Organistin.' - Das waren Anspielungen auf Adam und Eva und auf ein bekanntes Kirchenlied.“
„Könnte irgendjemand außerhalb der MAV von diesen Sprüchen etwas mitbekommen haben?“
„Das ist eher unwahrscheinlich.“, stellte Regina Heuer fest. „Meinen sie etwa, Jens Carstensen sei wegen dieser Bemerkungen ermordet worden?“
„Wir wissen es nicht.“, erklärte Keller. „Hätten Sie denn eine Idee, in welche Richtung wir ermitteln sollten?“
„Jens Carstensen ist als Mitarbeitervertreter der Kirchenkreisleitung ganz schön aufs Dach gestiegen. Er hat Reimler mit dem Arbeitsgericht gedroht, und diese Drohung ist keine leere. Mein Mann ist Anwalt für Arbeitsrecht und prüft zur Zeit die Erfolgsaussichten. Sieht gut aus für die Kolleginnen. Außerdem war Jens am Donnerstag beim landeskirchlichen Beauftragten für die Mitarbeiter in Verkündigung uns Seelsorge, der ist im Bereich Interessenwahrung für Mitarbeitende ziemlich engagiert, vielleicht sollten Sie sich mit dem mal unterhalten.“
„Wie heißt der, und wo finden wir den?“
„Den Namen weiß ich auch nicht, finden Sie aber auf der Homepage der Landeskirche. Auf jeden Fall sitzt er im Landeskirchenamt in Bielefeld.“
„Wie praktisch.“, stellte Keller fest.
„Dann vielen Dank, Frau Heuer.“, sagte Kerkenbrock. „Melden Sie sich bei uns, falls Ihnen noch etwas auf- oder einfällt?“
„Wenn Sie mir Ihre Kontaktdaten da lassen.“
Prompt legten die Beamten ihre Visitenkarten auf den Tisch. Regina sah ihnen nach, als sie ihr Auto aufsuchten.
„Was gäbe ich darum, wenn mir noch etwas einfiele.“, murmelte sie und ging dann wieder in den Garten, wo eine allein arbeitende Kollegin und ein Haufen quirliger kleiner Kinder auf sie warteten.
... link (4 Kommentare) ... comment
Dienstag, 20. September 2016
25. Arche-Noah-Kita - aus dem Kriminalroman "Rache für Dina" von Cristina Fabry
c. fabry, 13:12h
Regina Heuer schloss die Bürotür und ging an der Küche vorbei. „Läuft die Spülmaschine?“ scherzte sie. „Spülmaschine läuft.“, antwortete Sabine Krönke im Kasernenton. „Grothaus schon gesichtet?“ fragte sie.
„Bis jetzt noch nicht.“, antwortete Regina Heuer, aber er hat ja noch dreizehn Minuten. Der Countdown zur jährlichen Horror-Andacht läuft.“
„Wieso?“, fragte Sabine. „Der kommt doch jede Woche.“
„Jeden Freitag Horror-Andacht?“, überlegte Regina. „Ja, so kann man das natürlich auch sehen. Aber heute ist mal wieder Kreuzigung dran. Ich sehe schon wieder die Schreck-geweiteten Kinderaugen und höre wie das Telefon heiß klingelt. Genau wie im letzten Jahr. Tränen, Alpträume und aufgebrachte Eltern.“
„Sag ihm das doch.“, schlug Sabine vor.
„Das mache ich auch.“, antwortete Regina.
„Guck mal. Da kommt er schon.“
Mit einer Aktentasche ausgestattet ging Pfarrer Christoph Grothaus auf den Eingang der KiTa zu. Er wirkte so, als sei er zu einem Fachvortrag unterwegs und nicht zu einem religionspädagogischen Angebot für Kindergartenkinder.
„Guten Morgen Herr Grothaus.“, begrüßte Regina ihn. „Können Sie vorher noch einmal ganz kurz in mein Büro kommen?“
Grothaus erwiderte den Gruß und folgte der Einladung.
„Ich wollte Sie noch einmal daran erinnern“, erklärte Regina, „dass im letzten Jahr einige Kinder durch die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu regelrecht traumatisiert waren. Es wäre ganz gut, wenn Sie die Dramatik und die erschreckenden Details aus der Beschreibung heraus lassen könnten.“
„Aber Frau Heuer“, antwortete Christoph Grothaus. „Ich kann den Kindern doch keine Passions-Geschichte light auftischen, nur weil Leiden, Sterben und Tod heute überall ausgeblendet und verdrängt werden. Die Kinder müssen frühzeitig an diese Themen heran geführt werden, damit sie Schritt für Schritt lernen, damit umzugehen. Und die Botschaft des Evangeliums ist auch schwerlich zu begreifen, wenn man nur erzählt, dass die Männer des hohen Rates und die römischen Soldaten gemein zu Jesus waren und ihn am Ende ganz lange gefesselt haben, so dass er gar nichts mehr machen konnte.“
Regina protestierte: „Drei- bis Sechsjährige sind aber zu klein für so grausame Details wie blutige Peitschenhiebe oder das Durchbohren von Händen und Füßen mit dicken Nägeln. Das können die noch nicht verarbeiten. Bei Siebenjährigen sieht das schon anders aus.“
„Wissen Sie, Frau Heuer“, antwortete Grothaus mit einem süffisanten Lächeln, „Ich habe zwölf Semester Theologie studiert und etliche Vorlesungen und Seminare besucht zur Religionspädagogik mit Kindern. Ich weiß, was ich da tue. Ich halte mich aus Ihrem Fachgebiet heraus, halten Sie sich bitte aus dem meinen heraus, dann können wir wunderbar zusammenarbeiten.“
„Die Eltern machen mir nächste Woche die Hölle heiß!“, protestierte Regina empört.
„Dann leiten Sie sie an mich weiter. Ich bin gern bereit, unwissenden Eltern die Bedeutung der Passionsgeschichte für die Glaubensbiographie ihrer lieben Kleinen zu erläutern. Und jetzt würde ich gern anfangen.“
Er verließ das Büro, ohne eine Antwort abzuwarten und ließ Regina mit offenem Mund zurück. Als sie sich einigermaßen gefasst hatte, ging sie in den Gruppenraum, in dem die Andacht heute stattfand.
Die Kinder sangen zur Einstimmung gerade „Guten Morgen, lieber Gott“, wie jedes Mal zu Beginn der Andacht.
„Wisst ihr denn, was am übernächsten Sonntag für ein großes Fest ist?“, fragte er die Kinder.
Einige Fünf- und Sechsjährige riefen eifrig: „Ostern!“
„Da kommt der Osterhase!“, brüllte der vierjährige Cedric, und die übrigen Kinder jubelten begeistert. Der Pfarrer bemühte sich, seinen säuerlichen Ausdruck, der sich reflexartig in sein Gesicht grub, tapfer hinweg zu lächeln.
„Der Osterhase“, erklärte er, „ist ein lustiger Frühlingsspaß, den die Erwachsenen sich ausgedacht haben, um den Kindern eine Freude zu machen.“
Regina vergrub entsetzt ihr Gesicht in den Händen.
Grothaus fuhr fort: „Worum es beim Osterfest eigentlich geht, ist, dass Jesus von den Toten auferstanden ist..“
Die Kinder starrten ihn mit großen Augen und offenen Mündern an. Sie mussten ein bisschen zu viel auf einmal verarbeiten: Der Osterhase war nur ausgedacht und Jesus war bei den Toten und ist irgendwie aufgestanden. Wie hing das nun alles zusammen?
„Dass Jesus auferstanden ist“, erklärte der Pfarrer weiter, „ist das Wichtigste für alle, die an ihn glauben. Darum ist Ostern auch wichtiger als Weihnachten.“
„Das glaube ich nicht!“, widersprach Cindy. „Weihnachten gibt es viel mehr und auch viel tollere Geschenke und ganz viel Leckeres zu Essen und alle besuchen sich. Weihnachten ist viel viel toller!“
„Das Fest ist vielleicht schöner und größer“, erklärte Grothaus geduldig, „aber an Weihnachten feiern wir, dass Jesus geboren ist. Geboren wurden wir alle, aber noch keiner von uns ist von den Toten auferstanden. Das ist ein Wunder.“
„Ja“, erklärte Viktoria eifrig. „Wenn man tot ist, dann muss man eigentlich liegen bleiben und kann sich nicht mehr bewegen, außer man ist ein Vampir oder ein Gespenst.“
Jetzt hatte auch Jonas etwas beizutragen: „In meiner Kinderbibel hat Jesus ein weißes Kleid an. Der war bestimmt ein Gespenst.“
„Nein nein!“, widersprach Grothaus. „Das weiße Kleid hatte er ja schon vorher. Aber wir wollen heute auch nicht ausführlich von Ostern und der Auferstehung erzählen, sondern von dem, was kurz vorher geschehen ist. Was musste denn passieren, damit Jesus von den Toten auferstehen konnte?“
Lara meldete sich zaghaft: „Vielleicht musste jemand Feenstaub auf das Grab streuen?“
„Nein, das ist ja Unsinn!“, erwiderte Grothaus ungehalten. „Es gibt weder Feen noch Feenstaub. Das sind alles Märchen. Ich stelle die Frage mal anders: Was muss passieren, damit jemand tot ist?“
„Erschießen. Peng Peng Peng!, rief Justin.
„Gewehre gab es damals noch nicht.“, erklärte der Pfarrer. „Aber Jesus musste sterben. Er wurde getötet. Und wie es dazu kam, will ich euch erzählen.“
Gespannt hielten die Kinder den Atem an, als der Pastor einen Filzteppich und eine Schachtel aus der Tasche holte. In der Schachtel befanden sich Figuren, die ebenfalls aus Filz gearbeitet waren und der Visualisierung der erzählten Geschichte dienten. Er holte eine Jesus-Figur und ein paar Jünger aus der Schachtel und begann, die Passionsgeschichte zu erzählen. Er ließ nichts aus: das letzte Abendmahl, die Stunden der Angst in Gethsemane, der Verrat des Judas und dessen Suizid, die Verhaftung Jesu und das von Petrus abgeschlagene Ohr des Soldaten, die Peitschenhiebe, die schmerzenden Stacheln der Dornenkrone und wie ihm wohl Schweiß und Blut in die Augen gelaufen waren, das Verhör durch Pilatus, die Rettung des Barabas, das Tragen und der Zusammenbruch unter der Last des Kreuzes, das Einschlagen der Nägel in Hände und Füße, der entsetzliche Schmerz und so weiter, bis zum bitteren Ende. Die Kinder verfolgten mucksmäuschenstill diesen Horror-Film in Filzoptik und der Pfarrer sprach am Ende zufrieden ein Gebet und einen Segen, packte seine Filzfiguren wieder ein, wünschte allen frohe Ostern und lief eilig zu seinem Auto. Die Kinder – froh, dass die beängstigende Situation endlich vorüber war – schalteten einfach um auf Spiel und Spaß und verdrängten zunächst erfolgreich die grausamen Bilder, die Grothaus in ihrem Kopf hatte entstehen lassen. Karin ging mit einer größeren Gruppe in den Garten, und diejenigen, die im Haus blieben, beschäftigten sich zunächst selbst, so dass Regina sich leise mit ihrer Kollegin Sabine unterhalten konnte.
„Wie kann man nur so einem Kinderhasser religionspädagogische Verantwortung übertragen? Mal eben alle schönen Träume zerstören, ein paar Alpträume säen und dann die Kinder in ihrem Elend allein lassen. Ich würde mich sofort an den Superintendenten wenden, aber der Reimler ist ja auch so eine Wurst.“
„Gibt es überhaupt Pfarrer, die mit Kindern umgehen können? Muss man nicht schon total balla balla sein, wenn man überhaupt Theologie studiert?“, fragte Sabine.
„Nee, das kann man so nicht sagen.“, antwortete Regina. „Es sind ja auch nicht alle Erzieherinnen phantasielose Basteltanten, die nix drauf haben als schwarze Pädagogik und Zickenkrieg. Es gibt, glaube ich, schon eine große Menge Theologen, die das studiert haben, weil die Kirche der einzige Ort war, wo sie nicht ständig fertig gemacht wurden, aber es gibt auch ganz tolle und engagierte und auch welche, die super mit Kindern können. Der Winter zum Beispiel, das war der Vorgänger vom Grothaus. Die Kinder haben sich immer total gefreut, wenn der kam. Und der hätte sich bei dieser Geschichte die Details geschenkt. Er hätte mit den Kindern reflektiert wie das ist, wenn alle einen rum schubsen und vielleicht ein paar Übungen dazu gemacht. Der hätte den Kindern auch den Osterhasen nicht ausgeredet, sondern erzählt, dass der der Deko-Beauftragte für die Welt-weite Auferstehungsparty ist und zwar in einer Sprache, die die Kleinen auch verstehen. Zu schade, dass die Guten immer verschwinden.“
„Was ist denn mit ihm passiert?“
„Hat'n Posten in der Landeskirche bekommen.“
„Aber das ist doch schön, wenn ausnahmsweise mal die Guten Karriere machen.“
„Schon“, gab Regina ihr recht, „aber wenn sie gehen, kommen meistens nur die Luschen nach. Kassieren ein fettes Gehalt, obwohl sie nichts können. Das ist einfach zum Kotzen!“
„Und unsereins mit unserem schmalen Geld will man noch Dumping-Löhne aufdrücken.“, fiel Sabine in das Lamento ein. „Was ist eigentlich bei eurem Gespräch im Kirchenkreis raus gekommen? Gibt’s was Neues?“
„Nicht viel.“, antwortete Regina. „Fünf Kolleginnen haben den Dreck mittlerweile unterschrieben. Jens Carstensen hat sich gestern in Bielefeld mit dem landeskirchlichen Beauftragten getroffen und ich habe alle Einrichtungsleitungen geimpft, damit keiner mehr unterschreibt. Ich habe echt viel telefoniert letztes Wochenende. Reimler will weiter sparen und meint, die neuen Verträge könne er auch gar nicht rückgängig machen. Da hat Jens die Sitzung platzen lassen und gesagt, dass wir dann eben den Rechtsweg einschlagen müssen. Wir versuchen es jetzt erst noch einmal mit der kostengünstigeren Variante „Neutraler Berater“. Reimler will sich um einen geeigneten Kandidaten kümmern. Ich bin echt mal gespannt.“
„Ich auch.“, erklärte Sabine. Dann mussten beide ihr Gespräch beenden, weil die Kinder ihre volle Aufmerksamkeit einforderten.
Bis zum Mittagessen lief alles normal. Es gab Chicken-Nuggets, kleine runde Petersilienkartoffeln und Erbsen mit Möhren. Außerdem stand rote Traubenschorle auf dem Tisch.
„Ich will Blut trinken!“, rief Cedric und lachte irre. „Ich bin ein Vampir, und ich trinke das ganze Blut von Jesus alleine aus.“
„Und ich esse sein Fleisch.“, erklärte Dustin und biss in ein Stück Hühnchen wie ein Raubtier.“
„So war das mit dem Abendmahl aber nicht gemeint.“, erklärte Regina. „Damals haben die Menschen sich besser vorstellen können, was Jesus meinte, wenn er es so erklärte. Eigentlich wollte er sagen, dass er viel Schlimmes erleben müsste, damit die Welt besser werden kann.“
„Die haben den ja auch gar nicht gegessen.“, erklärte Cindy weise. „Weil dann hätte der nach dem Sterben ja nicht einfach aufstehen können.“
„Ja, sonst wär' der ja als Kacke rumgelaufen.“, überlegte Rico und kriegte sich vor Lachen gar nicht mehr ein.
„Gar nicht dumm, der Rico.“, dachte Regina, wollte aber verhindern, dass diese von den Kindern selbst initiierte gruppentherapeutische Verarbeitung in einen wüsten Klamauk ausartete. Darum sagte sie: „Das, was Pastor Grothaus euch heute erzählt hat, das waren eigentlich mehrere Geschichten auf einmal. Das kann ich auch nicht alles mal eben so erklären. Aber ich mache euch einen Vorschlag. Nächste Woche erzähle ich euch Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag immer nur ein bisschen von der Geschichte, erkläre euch das und dann reden wir darüber. Wollen wir das so machen?“
Die Kinder stimmten zu und wechselten dankbar das Thema beim Essen.
„Dem Grothaus mache ich die Hölle heiß!“, zischte Regina. „Ich weiß noch nicht wie, aber diesmal wird der Passions-Horrortrip ein Nachspiel haben. Das war das letzte Mal, dass der diese Nummer abgezogen hat.“
„Bis jetzt noch nicht.“, antwortete Regina Heuer, aber er hat ja noch dreizehn Minuten. Der Countdown zur jährlichen Horror-Andacht läuft.“
„Wieso?“, fragte Sabine. „Der kommt doch jede Woche.“
„Jeden Freitag Horror-Andacht?“, überlegte Regina. „Ja, so kann man das natürlich auch sehen. Aber heute ist mal wieder Kreuzigung dran. Ich sehe schon wieder die Schreck-geweiteten Kinderaugen und höre wie das Telefon heiß klingelt. Genau wie im letzten Jahr. Tränen, Alpträume und aufgebrachte Eltern.“
„Sag ihm das doch.“, schlug Sabine vor.
„Das mache ich auch.“, antwortete Regina.
„Guck mal. Da kommt er schon.“
Mit einer Aktentasche ausgestattet ging Pfarrer Christoph Grothaus auf den Eingang der KiTa zu. Er wirkte so, als sei er zu einem Fachvortrag unterwegs und nicht zu einem religionspädagogischen Angebot für Kindergartenkinder.
„Guten Morgen Herr Grothaus.“, begrüßte Regina ihn. „Können Sie vorher noch einmal ganz kurz in mein Büro kommen?“
Grothaus erwiderte den Gruß und folgte der Einladung.
„Ich wollte Sie noch einmal daran erinnern“, erklärte Regina, „dass im letzten Jahr einige Kinder durch die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu regelrecht traumatisiert waren. Es wäre ganz gut, wenn Sie die Dramatik und die erschreckenden Details aus der Beschreibung heraus lassen könnten.“
„Aber Frau Heuer“, antwortete Christoph Grothaus. „Ich kann den Kindern doch keine Passions-Geschichte light auftischen, nur weil Leiden, Sterben und Tod heute überall ausgeblendet und verdrängt werden. Die Kinder müssen frühzeitig an diese Themen heran geführt werden, damit sie Schritt für Schritt lernen, damit umzugehen. Und die Botschaft des Evangeliums ist auch schwerlich zu begreifen, wenn man nur erzählt, dass die Männer des hohen Rates und die römischen Soldaten gemein zu Jesus waren und ihn am Ende ganz lange gefesselt haben, so dass er gar nichts mehr machen konnte.“
Regina protestierte: „Drei- bis Sechsjährige sind aber zu klein für so grausame Details wie blutige Peitschenhiebe oder das Durchbohren von Händen und Füßen mit dicken Nägeln. Das können die noch nicht verarbeiten. Bei Siebenjährigen sieht das schon anders aus.“
„Wissen Sie, Frau Heuer“, antwortete Grothaus mit einem süffisanten Lächeln, „Ich habe zwölf Semester Theologie studiert und etliche Vorlesungen und Seminare besucht zur Religionspädagogik mit Kindern. Ich weiß, was ich da tue. Ich halte mich aus Ihrem Fachgebiet heraus, halten Sie sich bitte aus dem meinen heraus, dann können wir wunderbar zusammenarbeiten.“
„Die Eltern machen mir nächste Woche die Hölle heiß!“, protestierte Regina empört.
„Dann leiten Sie sie an mich weiter. Ich bin gern bereit, unwissenden Eltern die Bedeutung der Passionsgeschichte für die Glaubensbiographie ihrer lieben Kleinen zu erläutern. Und jetzt würde ich gern anfangen.“
Er verließ das Büro, ohne eine Antwort abzuwarten und ließ Regina mit offenem Mund zurück. Als sie sich einigermaßen gefasst hatte, ging sie in den Gruppenraum, in dem die Andacht heute stattfand.
Die Kinder sangen zur Einstimmung gerade „Guten Morgen, lieber Gott“, wie jedes Mal zu Beginn der Andacht.
„Wisst ihr denn, was am übernächsten Sonntag für ein großes Fest ist?“, fragte er die Kinder.
Einige Fünf- und Sechsjährige riefen eifrig: „Ostern!“
„Da kommt der Osterhase!“, brüllte der vierjährige Cedric, und die übrigen Kinder jubelten begeistert. Der Pfarrer bemühte sich, seinen säuerlichen Ausdruck, der sich reflexartig in sein Gesicht grub, tapfer hinweg zu lächeln.
„Der Osterhase“, erklärte er, „ist ein lustiger Frühlingsspaß, den die Erwachsenen sich ausgedacht haben, um den Kindern eine Freude zu machen.“
Regina vergrub entsetzt ihr Gesicht in den Händen.
Grothaus fuhr fort: „Worum es beim Osterfest eigentlich geht, ist, dass Jesus von den Toten auferstanden ist..“
Die Kinder starrten ihn mit großen Augen und offenen Mündern an. Sie mussten ein bisschen zu viel auf einmal verarbeiten: Der Osterhase war nur ausgedacht und Jesus war bei den Toten und ist irgendwie aufgestanden. Wie hing das nun alles zusammen?
„Dass Jesus auferstanden ist“, erklärte der Pfarrer weiter, „ist das Wichtigste für alle, die an ihn glauben. Darum ist Ostern auch wichtiger als Weihnachten.“
„Das glaube ich nicht!“, widersprach Cindy. „Weihnachten gibt es viel mehr und auch viel tollere Geschenke und ganz viel Leckeres zu Essen und alle besuchen sich. Weihnachten ist viel viel toller!“
„Das Fest ist vielleicht schöner und größer“, erklärte Grothaus geduldig, „aber an Weihnachten feiern wir, dass Jesus geboren ist. Geboren wurden wir alle, aber noch keiner von uns ist von den Toten auferstanden. Das ist ein Wunder.“
„Ja“, erklärte Viktoria eifrig. „Wenn man tot ist, dann muss man eigentlich liegen bleiben und kann sich nicht mehr bewegen, außer man ist ein Vampir oder ein Gespenst.“
Jetzt hatte auch Jonas etwas beizutragen: „In meiner Kinderbibel hat Jesus ein weißes Kleid an. Der war bestimmt ein Gespenst.“
„Nein nein!“, widersprach Grothaus. „Das weiße Kleid hatte er ja schon vorher. Aber wir wollen heute auch nicht ausführlich von Ostern und der Auferstehung erzählen, sondern von dem, was kurz vorher geschehen ist. Was musste denn passieren, damit Jesus von den Toten auferstehen konnte?“
Lara meldete sich zaghaft: „Vielleicht musste jemand Feenstaub auf das Grab streuen?“
„Nein, das ist ja Unsinn!“, erwiderte Grothaus ungehalten. „Es gibt weder Feen noch Feenstaub. Das sind alles Märchen. Ich stelle die Frage mal anders: Was muss passieren, damit jemand tot ist?“
„Erschießen. Peng Peng Peng!, rief Justin.
„Gewehre gab es damals noch nicht.“, erklärte der Pfarrer. „Aber Jesus musste sterben. Er wurde getötet. Und wie es dazu kam, will ich euch erzählen.“
Gespannt hielten die Kinder den Atem an, als der Pastor einen Filzteppich und eine Schachtel aus der Tasche holte. In der Schachtel befanden sich Figuren, die ebenfalls aus Filz gearbeitet waren und der Visualisierung der erzählten Geschichte dienten. Er holte eine Jesus-Figur und ein paar Jünger aus der Schachtel und begann, die Passionsgeschichte zu erzählen. Er ließ nichts aus: das letzte Abendmahl, die Stunden der Angst in Gethsemane, der Verrat des Judas und dessen Suizid, die Verhaftung Jesu und das von Petrus abgeschlagene Ohr des Soldaten, die Peitschenhiebe, die schmerzenden Stacheln der Dornenkrone und wie ihm wohl Schweiß und Blut in die Augen gelaufen waren, das Verhör durch Pilatus, die Rettung des Barabas, das Tragen und der Zusammenbruch unter der Last des Kreuzes, das Einschlagen der Nägel in Hände und Füße, der entsetzliche Schmerz und so weiter, bis zum bitteren Ende. Die Kinder verfolgten mucksmäuschenstill diesen Horror-Film in Filzoptik und der Pfarrer sprach am Ende zufrieden ein Gebet und einen Segen, packte seine Filzfiguren wieder ein, wünschte allen frohe Ostern und lief eilig zu seinem Auto. Die Kinder – froh, dass die beängstigende Situation endlich vorüber war – schalteten einfach um auf Spiel und Spaß und verdrängten zunächst erfolgreich die grausamen Bilder, die Grothaus in ihrem Kopf hatte entstehen lassen. Karin ging mit einer größeren Gruppe in den Garten, und diejenigen, die im Haus blieben, beschäftigten sich zunächst selbst, so dass Regina sich leise mit ihrer Kollegin Sabine unterhalten konnte.
„Wie kann man nur so einem Kinderhasser religionspädagogische Verantwortung übertragen? Mal eben alle schönen Träume zerstören, ein paar Alpträume säen und dann die Kinder in ihrem Elend allein lassen. Ich würde mich sofort an den Superintendenten wenden, aber der Reimler ist ja auch so eine Wurst.“
„Gibt es überhaupt Pfarrer, die mit Kindern umgehen können? Muss man nicht schon total balla balla sein, wenn man überhaupt Theologie studiert?“, fragte Sabine.
„Nee, das kann man so nicht sagen.“, antwortete Regina. „Es sind ja auch nicht alle Erzieherinnen phantasielose Basteltanten, die nix drauf haben als schwarze Pädagogik und Zickenkrieg. Es gibt, glaube ich, schon eine große Menge Theologen, die das studiert haben, weil die Kirche der einzige Ort war, wo sie nicht ständig fertig gemacht wurden, aber es gibt auch ganz tolle und engagierte und auch welche, die super mit Kindern können. Der Winter zum Beispiel, das war der Vorgänger vom Grothaus. Die Kinder haben sich immer total gefreut, wenn der kam. Und der hätte sich bei dieser Geschichte die Details geschenkt. Er hätte mit den Kindern reflektiert wie das ist, wenn alle einen rum schubsen und vielleicht ein paar Übungen dazu gemacht. Der hätte den Kindern auch den Osterhasen nicht ausgeredet, sondern erzählt, dass der der Deko-Beauftragte für die Welt-weite Auferstehungsparty ist und zwar in einer Sprache, die die Kleinen auch verstehen. Zu schade, dass die Guten immer verschwinden.“
„Was ist denn mit ihm passiert?“
„Hat'n Posten in der Landeskirche bekommen.“
„Aber das ist doch schön, wenn ausnahmsweise mal die Guten Karriere machen.“
„Schon“, gab Regina ihr recht, „aber wenn sie gehen, kommen meistens nur die Luschen nach. Kassieren ein fettes Gehalt, obwohl sie nichts können. Das ist einfach zum Kotzen!“
„Und unsereins mit unserem schmalen Geld will man noch Dumping-Löhne aufdrücken.“, fiel Sabine in das Lamento ein. „Was ist eigentlich bei eurem Gespräch im Kirchenkreis raus gekommen? Gibt’s was Neues?“
„Nicht viel.“, antwortete Regina. „Fünf Kolleginnen haben den Dreck mittlerweile unterschrieben. Jens Carstensen hat sich gestern in Bielefeld mit dem landeskirchlichen Beauftragten getroffen und ich habe alle Einrichtungsleitungen geimpft, damit keiner mehr unterschreibt. Ich habe echt viel telefoniert letztes Wochenende. Reimler will weiter sparen und meint, die neuen Verträge könne er auch gar nicht rückgängig machen. Da hat Jens die Sitzung platzen lassen und gesagt, dass wir dann eben den Rechtsweg einschlagen müssen. Wir versuchen es jetzt erst noch einmal mit der kostengünstigeren Variante „Neutraler Berater“. Reimler will sich um einen geeigneten Kandidaten kümmern. Ich bin echt mal gespannt.“
„Ich auch.“, erklärte Sabine. Dann mussten beide ihr Gespräch beenden, weil die Kinder ihre volle Aufmerksamkeit einforderten.
Bis zum Mittagessen lief alles normal. Es gab Chicken-Nuggets, kleine runde Petersilienkartoffeln und Erbsen mit Möhren. Außerdem stand rote Traubenschorle auf dem Tisch.
„Ich will Blut trinken!“, rief Cedric und lachte irre. „Ich bin ein Vampir, und ich trinke das ganze Blut von Jesus alleine aus.“
„Und ich esse sein Fleisch.“, erklärte Dustin und biss in ein Stück Hühnchen wie ein Raubtier.“
„So war das mit dem Abendmahl aber nicht gemeint.“, erklärte Regina. „Damals haben die Menschen sich besser vorstellen können, was Jesus meinte, wenn er es so erklärte. Eigentlich wollte er sagen, dass er viel Schlimmes erleben müsste, damit die Welt besser werden kann.“
„Die haben den ja auch gar nicht gegessen.“, erklärte Cindy weise. „Weil dann hätte der nach dem Sterben ja nicht einfach aufstehen können.“
„Ja, sonst wär' der ja als Kacke rumgelaufen.“, überlegte Rico und kriegte sich vor Lachen gar nicht mehr ein.
„Gar nicht dumm, der Rico.“, dachte Regina, wollte aber verhindern, dass diese von den Kindern selbst initiierte gruppentherapeutische Verarbeitung in einen wüsten Klamauk ausartete. Darum sagte sie: „Das, was Pastor Grothaus euch heute erzählt hat, das waren eigentlich mehrere Geschichten auf einmal. Das kann ich auch nicht alles mal eben so erklären. Aber ich mache euch einen Vorschlag. Nächste Woche erzähle ich euch Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag immer nur ein bisschen von der Geschichte, erkläre euch das und dann reden wir darüber. Wollen wir das so machen?“
Die Kinder stimmten zu und wechselten dankbar das Thema beim Essen.
„Dem Grothaus mache ich die Hölle heiß!“, zischte Regina. „Ich weiß noch nicht wie, aber diesmal wird der Passions-Horrortrip ein Nachspiel haben. Das war das letzte Mal, dass der diese Nummer abgezogen hat.“
... link (3 Kommentare) ... comment
Sonntag, 18. September 2016
7. Arche-Noah-Kita – Minden - aus dem Kriminalroman "Rache für Dina" von Cristina Fabry
c. fabry, 12:34h
Frau Schlatter hat Cindy schon wieder mit Fieber vorbei gebracht.“ Sabine Krönke goss kochendes Wasser in die Früchteteekanne.
„Na dann ruf' ich da doch gleich mal an.“, erwiderte Regina Heuer. „Wird's wieder nix mit in Ruhe Window Colours malen. Die Ärmste. Seit sie Mutter ist, hat sie kaum noch Zeit für sich.“
„Immerhin holt sie ihre Tochter nicht auf Inlineskatern ab wie damals Frau Ludwig.“
„Das würde ihr auch erhebliche Probleme bereiten, im Hinblick auf ihren Körperschwerpunkt.“
„Ihr Körper ist ein einziger Schwerpunkt.“
„Sabine! Wie gemein!“, tadelte Regina Heuer sie grinsend und verschwand im Leitungszimmer. Sie konnte verstehen, wenn erwerbstätige Mütter mit gnadenlosen Vorgesetzten ihre Kinder nur im äußersten Notfall zu Hause behielten; insbesondere, wenn sie alleinerziehend waren. Da konnte es schon mal zu einer Fehleinschätzung kommen. Aber Frau Schlatter hatte nur einen Mini-Job in den Abendstunden, einen anständig verdienenden Gatten, und sie schob ihr Kind ab, wo sie nur konnte, damit sie Zeit für ihre infantilen Hobbys hatte. Cindy wurde wie ein Accessoire präsentiert, wenn sie damit punkten konnte, ansonsten interessierte sie sich nur für sich selbst. Zum sicherlich zehnten Mal in diesem Jahr wählte sie die bekannte Nummer, die sie – wenn auch unfreiwillig – auswendig wusste: „Frau Schlatter, hier ist Frau Heuer von der Kita. Sie müssen Cindy sofort abholen, sie hat Fieber.“
Nach einem kurzen betretenen Schweigen folgte am anderen Ende der Leitung der gewohnte Redeschwall: „Oh je! Das ist ja ganz ungünstig. Dann muss ich das heute Nachmittag ja absagen und einen neuen Termin machen. Die werden aber gar nicht begeistert sein. Wir müssen doch heute Nachmittag noch zum Leukopäden.“
„Zum was?“ Regina Heuer dachte, sie hätte sich verhört.
„Zum Leukopäden. Cindy spricht doch so schlecht. Ich kann aber nicht jetzt gleich kommen. Ich muss erst noch die Konturen zuende malen, dann kann die Konturenpaste fest werden, wenn ich Cindy hole, und wenn sie dann schläft, kann ich mit ausmalen anfangen.“
Regina Heuer war fassungslos: „Frau Schlatter, Sie kommen jetzt sofort und holen Ihr Kind! Cindy geht es schlecht. Sie muss so schnell wie möglich ins Bett. Sie hätten sie gar nicht erst bringen dürfen. Sie kann die anderen Kinder und die Erzieherinnen anstecken. Wenn Sie in zehn Minuten nicht hier sind, lasse ich Cindy von der Polizei abholen und schalte das Jugendamt ein.“
Regina Heuer knallte den Hörer auf die Gabel. Sie sah auf die Uhr: 7.41 Uhr. „Okay Schnecke“, dachte sie, „bis 51 hast du Zeit, sonst knallt's.“
Es war erst 7.46 Uhr, als Frau Schlatter flammend rot vor Zorn ins Leitungszimmer stürmte. Sie machte sofort den Mund auf: „Sie! So reden Sie mit mir nicht! Das wird ein Nachspiel haben! Ich beschwere mich bei ihrem Superintendanten.“
„Falls Sie den Superintendenten meinen“, erwiderte Regina Heuer gelassen, „das dürfte schwierig werden. Der ist gestern Morgen ermordet worden.“
„Er-mordet?“, stammelte Frau Schlatter und bekam den Mund vor Entsetzten nicht wieder zu. Reglos starrte sie die Kita-Leiterin an.
„Keine Angst, ich war's nicht.“, beruhigte Regina Heuer sie. „Cindy liegt im Krankenzimmer. Und ich bin schon dabei, den Meldebogen fürs Jugendamt wegen Kindeswohlgefährdung auszufüllen. Noch so ein Vorfall und ich schicke ihn ab; seien Sie versichert. Dann machen die Kollegen aus der Erziehungshilfe Ihnen Dampf.“
Wortlos drehte Frau Schlatter sich um und warf die Bürotür ins Schloss. Wenig später sah Regina Heuer sie Cindy hinter sich her schleifen. „Jetzt mach schon!“, zischte sie. „Wegen dir konnte ich meine Konturenpaste nicht zuende auftragen.“
Sabine Krönke kam mit einer Tasse Tee herein. „Hier, zur Beruhigung.“, sagte sie und stellte die Tasse auf den Schreibtisch.
„Cindy muss zum Leukopäden.“, sagte Regina mit todernster Miene.
„Zum was?“, fragte Sabine irritiert.
Regina prustete los: „So hab ich auch reagiert und dann erklärte Frau Schlatter: 'Cindy spricht doch so schlecht'. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, sie aufzuklären, weil sie mir nahtlos von ihrem kreativen Flow berichtete, den sie auf keinen Fall für ihre Tochter unterbrechen wollte. Ich hab' sie zusammengefaltet. Sie war innerhalb von fünf Minuten hier und drohte mir mit dem 'Superintendanten'. Da habe ich sie verbessert, aber wer weiß, vielleicht meinte sie Tom Buhrow.“
Sabine kicherte während des gesamten Berichtes. Dann fragte sie: „Was ist denn gestern bei der Konfrontation MAV-'Superintendant' raus gekommen?“
„Nichts Richtiges. Volkmann ist tot.“
„Wie bitte?“
„Ermordet. Hast du nicht Zeitung gelesen?“
„Nee. Wer macht denn so was?“
„Woher soll ich das wissen? Ich war's jedenfalls nicht. Das hab' ich Frau Schlatter auch schon gesagt; sie sah mich nämlich so an, als würde sie's mir zutrauen.“
„Und was passiert jetzt?“, fragte Sabine.
„Zum einen werde ich mit jeder Mitarbeiterin in unserer Kita und mit jeder Leiterin der anderen Einrichtungen ein Vier-Augen-Gespräch führen, damit alle gewarnt sind; denn Volkmann war ja auch nur die Spitze des Eisberges. Jens Carstensen spricht mit dem Landeskirchen-Fuzzi, der für seine Berufsgruppe zuständig ist. Der ist arbeitsrechtlich sehr vernünftig, sicher auf unserer Seite und stellt die passenden Kontakte im Landeskirchenamt her, damit die unseren Vorgesetzten auf die Finger hauen und in die Suppe spucken.“
„Und bei denen, die unterschrieben haben?“
„Die können vors Arbeitsgericht gehen, aber da prüft mein Hajo noch die Rechtslage.“
„Wenn wir den nicht hätten.“
„Langsam, langsam.“, mahnte Regina Heuer. „Er ist immer noch mein Mann. Kein mein-dein-euer-unser Hajo!“
„Kommst du gleich zum Frühstück zu den Sonnenkäfern? Karin kommt später, hat'n Termin beim Arzt.“
„Ja, klar. Besser ich gewöhne mich schon mal dran. Bis sie in Mutterschutz und Elternzeit geht, haben wir eh keine qualifizierte Vertretung.“
In der Sonnenkäfergruppe herrschte eine ausgelassene Stimmung. Rico zog den Neid aller anderen Kinder auf sich, weil er ein verbotenes Schoko-Croissant dabei hatte. Pierre warf seinen Kakaobecher um und färbte damit Finnjas Rüschenrock schokobraun, die heulend aufsprang und von Sabine in den Waschraum begleitet wurde, um die Kleidung zu wechseln und das Gröbste auszuwaschen.
Dustin sagte mehrmals „Fick deine Mutter!“, was Regina ausnahmsweise zu schwarzer Pädagogik veranlasste: „Dustin, du setzt dich jetzt in die Kuschelecke bis die anderen fertig gefrühstückt haben. Du frühstückst dann danach und dann reden wir noch einmal mit dir.“
„Ich hab' aber ganz doll Hunger!“, brüllte Dustin aus Leibeskräften.
„Das kann gar nicht sein.“, erwiderte Regina ruhig. „Wer so viel Zeit hat, andere zu beleidigen, der kann gar keinen Hunger haben. Wenn du wirklich doll Hunger hättest, hättest du einfach gegessen und nicht geredet. Und jetzt setz' dich bitte in die Kuschelecke und warte, bis ich dich hole.“
Das hätte auch daneben gehen können, aber Dustin gehorchte. Später, beim Frühstück unter vier Augen erklärte Regina Dustin, warum sie solche Ausdrücke im Kindergarten nicht hören wollte und warum er sich selbst schadete, wenn er so redete. Dustin vermied für den Rest des Tages jedes Wort mit F.
Zum Glück war Karin zum Osterbasteln wieder da. Regina hatte genug im Büro zu tun und sie hasste diese Wir-machen-Mutti-eine Freude-Basteleien, wo weniger der Spaß der Kinder und die Entwicklung ihrer Kreativität im Vordergrund stand, als vielmehr die vor Stolz und Rührung glänzenden Elternaugen. Ekelhaft. Aber mittlerweile forderten Eltern so etwas ein: „Warum bastelt ihr nicht mal wieder was Nettes?“
Aber wehe, das Kind kommt mit schmutziger Kleidung nach Hause: „Die Lackschuhe waren ganz neu! Die sollte sie noch zur Silberhochzeit meiner Eltern anziehen. Und die haben 90 Euro gekostet! Können Sie uns das ersetzen?“
Ja ja. 90 Euro für Lackschuhe, aber keinen Cent mehr übrig für Gummistiefel. Was für eine Generation zogen diese Eltern da heran? Und konnten sie in der Kita das Schlimmste verhindern oder war sowieso schon alles zu spät? „Bloß nicht drüber nachdenken.“, murmelte Regina und öffnete ihr e-mail-Postfach.
„Na dann ruf' ich da doch gleich mal an.“, erwiderte Regina Heuer. „Wird's wieder nix mit in Ruhe Window Colours malen. Die Ärmste. Seit sie Mutter ist, hat sie kaum noch Zeit für sich.“
„Immerhin holt sie ihre Tochter nicht auf Inlineskatern ab wie damals Frau Ludwig.“
„Das würde ihr auch erhebliche Probleme bereiten, im Hinblick auf ihren Körperschwerpunkt.“
„Ihr Körper ist ein einziger Schwerpunkt.“
„Sabine! Wie gemein!“, tadelte Regina Heuer sie grinsend und verschwand im Leitungszimmer. Sie konnte verstehen, wenn erwerbstätige Mütter mit gnadenlosen Vorgesetzten ihre Kinder nur im äußersten Notfall zu Hause behielten; insbesondere, wenn sie alleinerziehend waren. Da konnte es schon mal zu einer Fehleinschätzung kommen. Aber Frau Schlatter hatte nur einen Mini-Job in den Abendstunden, einen anständig verdienenden Gatten, und sie schob ihr Kind ab, wo sie nur konnte, damit sie Zeit für ihre infantilen Hobbys hatte. Cindy wurde wie ein Accessoire präsentiert, wenn sie damit punkten konnte, ansonsten interessierte sie sich nur für sich selbst. Zum sicherlich zehnten Mal in diesem Jahr wählte sie die bekannte Nummer, die sie – wenn auch unfreiwillig – auswendig wusste: „Frau Schlatter, hier ist Frau Heuer von der Kita. Sie müssen Cindy sofort abholen, sie hat Fieber.“
Nach einem kurzen betretenen Schweigen folgte am anderen Ende der Leitung der gewohnte Redeschwall: „Oh je! Das ist ja ganz ungünstig. Dann muss ich das heute Nachmittag ja absagen und einen neuen Termin machen. Die werden aber gar nicht begeistert sein. Wir müssen doch heute Nachmittag noch zum Leukopäden.“
„Zum was?“ Regina Heuer dachte, sie hätte sich verhört.
„Zum Leukopäden. Cindy spricht doch so schlecht. Ich kann aber nicht jetzt gleich kommen. Ich muss erst noch die Konturen zuende malen, dann kann die Konturenpaste fest werden, wenn ich Cindy hole, und wenn sie dann schläft, kann ich mit ausmalen anfangen.“
Regina Heuer war fassungslos: „Frau Schlatter, Sie kommen jetzt sofort und holen Ihr Kind! Cindy geht es schlecht. Sie muss so schnell wie möglich ins Bett. Sie hätten sie gar nicht erst bringen dürfen. Sie kann die anderen Kinder und die Erzieherinnen anstecken. Wenn Sie in zehn Minuten nicht hier sind, lasse ich Cindy von der Polizei abholen und schalte das Jugendamt ein.“
Regina Heuer knallte den Hörer auf die Gabel. Sie sah auf die Uhr: 7.41 Uhr. „Okay Schnecke“, dachte sie, „bis 51 hast du Zeit, sonst knallt's.“
Es war erst 7.46 Uhr, als Frau Schlatter flammend rot vor Zorn ins Leitungszimmer stürmte. Sie machte sofort den Mund auf: „Sie! So reden Sie mit mir nicht! Das wird ein Nachspiel haben! Ich beschwere mich bei ihrem Superintendanten.“
„Falls Sie den Superintendenten meinen“, erwiderte Regina Heuer gelassen, „das dürfte schwierig werden. Der ist gestern Morgen ermordet worden.“
„Er-mordet?“, stammelte Frau Schlatter und bekam den Mund vor Entsetzten nicht wieder zu. Reglos starrte sie die Kita-Leiterin an.
„Keine Angst, ich war's nicht.“, beruhigte Regina Heuer sie. „Cindy liegt im Krankenzimmer. Und ich bin schon dabei, den Meldebogen fürs Jugendamt wegen Kindeswohlgefährdung auszufüllen. Noch so ein Vorfall und ich schicke ihn ab; seien Sie versichert. Dann machen die Kollegen aus der Erziehungshilfe Ihnen Dampf.“
Wortlos drehte Frau Schlatter sich um und warf die Bürotür ins Schloss. Wenig später sah Regina Heuer sie Cindy hinter sich her schleifen. „Jetzt mach schon!“, zischte sie. „Wegen dir konnte ich meine Konturenpaste nicht zuende auftragen.“
Sabine Krönke kam mit einer Tasse Tee herein. „Hier, zur Beruhigung.“, sagte sie und stellte die Tasse auf den Schreibtisch.
„Cindy muss zum Leukopäden.“, sagte Regina mit todernster Miene.
„Zum was?“, fragte Sabine irritiert.
Regina prustete los: „So hab ich auch reagiert und dann erklärte Frau Schlatter: 'Cindy spricht doch so schlecht'. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, sie aufzuklären, weil sie mir nahtlos von ihrem kreativen Flow berichtete, den sie auf keinen Fall für ihre Tochter unterbrechen wollte. Ich hab' sie zusammengefaltet. Sie war innerhalb von fünf Minuten hier und drohte mir mit dem 'Superintendanten'. Da habe ich sie verbessert, aber wer weiß, vielleicht meinte sie Tom Buhrow.“
Sabine kicherte während des gesamten Berichtes. Dann fragte sie: „Was ist denn gestern bei der Konfrontation MAV-'Superintendant' raus gekommen?“
„Nichts Richtiges. Volkmann ist tot.“
„Wie bitte?“
„Ermordet. Hast du nicht Zeitung gelesen?“
„Nee. Wer macht denn so was?“
„Woher soll ich das wissen? Ich war's jedenfalls nicht. Das hab' ich Frau Schlatter auch schon gesagt; sie sah mich nämlich so an, als würde sie's mir zutrauen.“
„Und was passiert jetzt?“, fragte Sabine.
„Zum einen werde ich mit jeder Mitarbeiterin in unserer Kita und mit jeder Leiterin der anderen Einrichtungen ein Vier-Augen-Gespräch führen, damit alle gewarnt sind; denn Volkmann war ja auch nur die Spitze des Eisberges. Jens Carstensen spricht mit dem Landeskirchen-Fuzzi, der für seine Berufsgruppe zuständig ist. Der ist arbeitsrechtlich sehr vernünftig, sicher auf unserer Seite und stellt die passenden Kontakte im Landeskirchenamt her, damit die unseren Vorgesetzten auf die Finger hauen und in die Suppe spucken.“
„Und bei denen, die unterschrieben haben?“
„Die können vors Arbeitsgericht gehen, aber da prüft mein Hajo noch die Rechtslage.“
„Wenn wir den nicht hätten.“
„Langsam, langsam.“, mahnte Regina Heuer. „Er ist immer noch mein Mann. Kein mein-dein-euer-unser Hajo!“
„Kommst du gleich zum Frühstück zu den Sonnenkäfern? Karin kommt später, hat'n Termin beim Arzt.“
„Ja, klar. Besser ich gewöhne mich schon mal dran. Bis sie in Mutterschutz und Elternzeit geht, haben wir eh keine qualifizierte Vertretung.“
In der Sonnenkäfergruppe herrschte eine ausgelassene Stimmung. Rico zog den Neid aller anderen Kinder auf sich, weil er ein verbotenes Schoko-Croissant dabei hatte. Pierre warf seinen Kakaobecher um und färbte damit Finnjas Rüschenrock schokobraun, die heulend aufsprang und von Sabine in den Waschraum begleitet wurde, um die Kleidung zu wechseln und das Gröbste auszuwaschen.
Dustin sagte mehrmals „Fick deine Mutter!“, was Regina ausnahmsweise zu schwarzer Pädagogik veranlasste: „Dustin, du setzt dich jetzt in die Kuschelecke bis die anderen fertig gefrühstückt haben. Du frühstückst dann danach und dann reden wir noch einmal mit dir.“
„Ich hab' aber ganz doll Hunger!“, brüllte Dustin aus Leibeskräften.
„Das kann gar nicht sein.“, erwiderte Regina ruhig. „Wer so viel Zeit hat, andere zu beleidigen, der kann gar keinen Hunger haben. Wenn du wirklich doll Hunger hättest, hättest du einfach gegessen und nicht geredet. Und jetzt setz' dich bitte in die Kuschelecke und warte, bis ich dich hole.“
Das hätte auch daneben gehen können, aber Dustin gehorchte. Später, beim Frühstück unter vier Augen erklärte Regina Dustin, warum sie solche Ausdrücke im Kindergarten nicht hören wollte und warum er sich selbst schadete, wenn er so redete. Dustin vermied für den Rest des Tages jedes Wort mit F.
Zum Glück war Karin zum Osterbasteln wieder da. Regina hatte genug im Büro zu tun und sie hasste diese Wir-machen-Mutti-eine Freude-Basteleien, wo weniger der Spaß der Kinder und die Entwicklung ihrer Kreativität im Vordergrund stand, als vielmehr die vor Stolz und Rührung glänzenden Elternaugen. Ekelhaft. Aber mittlerweile forderten Eltern so etwas ein: „Warum bastelt ihr nicht mal wieder was Nettes?“
Aber wehe, das Kind kommt mit schmutziger Kleidung nach Hause: „Die Lackschuhe waren ganz neu! Die sollte sie noch zur Silberhochzeit meiner Eltern anziehen. Und die haben 90 Euro gekostet! Können Sie uns das ersetzen?“
Ja ja. 90 Euro für Lackschuhe, aber keinen Cent mehr übrig für Gummistiefel. Was für eine Generation zogen diese Eltern da heran? Und konnten sie in der Kita das Schlimmste verhindern oder war sowieso schon alles zu spät? „Bloß nicht drüber nachdenken.“, murmelte Regina und öffnete ihr e-mail-Postfach.
... link (3 Kommentare) ... comment
... older stories