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Sonntag, 18. September 2016
7. Arche-Noah-Kita – Minden - aus dem Kriminalroman "Rache für Dina" von Cristina Fabry
c. fabry, 12:34h
Frau Schlatter hat Cindy schon wieder mit Fieber vorbei gebracht.“ Sabine Krönke goss kochendes Wasser in die Früchteteekanne.
„Na dann ruf' ich da doch gleich mal an.“, erwiderte Regina Heuer. „Wird's wieder nix mit in Ruhe Window Colours malen. Die Ärmste. Seit sie Mutter ist, hat sie kaum noch Zeit für sich.“
„Immerhin holt sie ihre Tochter nicht auf Inlineskatern ab wie damals Frau Ludwig.“
„Das würde ihr auch erhebliche Probleme bereiten, im Hinblick auf ihren Körperschwerpunkt.“
„Ihr Körper ist ein einziger Schwerpunkt.“
„Sabine! Wie gemein!“, tadelte Regina Heuer sie grinsend und verschwand im Leitungszimmer. Sie konnte verstehen, wenn erwerbstätige Mütter mit gnadenlosen Vorgesetzten ihre Kinder nur im äußersten Notfall zu Hause behielten; insbesondere, wenn sie alleinerziehend waren. Da konnte es schon mal zu einer Fehleinschätzung kommen. Aber Frau Schlatter hatte nur einen Mini-Job in den Abendstunden, einen anständig verdienenden Gatten, und sie schob ihr Kind ab, wo sie nur konnte, damit sie Zeit für ihre infantilen Hobbys hatte. Cindy wurde wie ein Accessoire präsentiert, wenn sie damit punkten konnte, ansonsten interessierte sie sich nur für sich selbst. Zum sicherlich zehnten Mal in diesem Jahr wählte sie die bekannte Nummer, die sie – wenn auch unfreiwillig – auswendig wusste: „Frau Schlatter, hier ist Frau Heuer von der Kita. Sie müssen Cindy sofort abholen, sie hat Fieber.“
Nach einem kurzen betretenen Schweigen folgte am anderen Ende der Leitung der gewohnte Redeschwall: „Oh je! Das ist ja ganz ungünstig. Dann muss ich das heute Nachmittag ja absagen und einen neuen Termin machen. Die werden aber gar nicht begeistert sein. Wir müssen doch heute Nachmittag noch zum Leukopäden.“
„Zum was?“ Regina Heuer dachte, sie hätte sich verhört.
„Zum Leukopäden. Cindy spricht doch so schlecht. Ich kann aber nicht jetzt gleich kommen. Ich muss erst noch die Konturen zuende malen, dann kann die Konturenpaste fest werden, wenn ich Cindy hole, und wenn sie dann schläft, kann ich mit ausmalen anfangen.“
Regina Heuer war fassungslos: „Frau Schlatter, Sie kommen jetzt sofort und holen Ihr Kind! Cindy geht es schlecht. Sie muss so schnell wie möglich ins Bett. Sie hätten sie gar nicht erst bringen dürfen. Sie kann die anderen Kinder und die Erzieherinnen anstecken. Wenn Sie in zehn Minuten nicht hier sind, lasse ich Cindy von der Polizei abholen und schalte das Jugendamt ein.“
Regina Heuer knallte den Hörer auf die Gabel. Sie sah auf die Uhr: 7.41 Uhr. „Okay Schnecke“, dachte sie, „bis 51 hast du Zeit, sonst knallt's.“
Es war erst 7.46 Uhr, als Frau Schlatter flammend rot vor Zorn ins Leitungszimmer stürmte. Sie machte sofort den Mund auf: „Sie! So reden Sie mit mir nicht! Das wird ein Nachspiel haben! Ich beschwere mich bei ihrem Superintendanten.“
„Falls Sie den Superintendenten meinen“, erwiderte Regina Heuer gelassen, „das dürfte schwierig werden. Der ist gestern Morgen ermordet worden.“
„Er-mordet?“, stammelte Frau Schlatter und bekam den Mund vor Entsetzten nicht wieder zu. Reglos starrte sie die Kita-Leiterin an.
„Keine Angst, ich war's nicht.“, beruhigte Regina Heuer sie. „Cindy liegt im Krankenzimmer. Und ich bin schon dabei, den Meldebogen fürs Jugendamt wegen Kindeswohlgefährdung auszufüllen. Noch so ein Vorfall und ich schicke ihn ab; seien Sie versichert. Dann machen die Kollegen aus der Erziehungshilfe Ihnen Dampf.“
Wortlos drehte Frau Schlatter sich um und warf die Bürotür ins Schloss. Wenig später sah Regina Heuer sie Cindy hinter sich her schleifen. „Jetzt mach schon!“, zischte sie. „Wegen dir konnte ich meine Konturenpaste nicht zuende auftragen.“
Sabine Krönke kam mit einer Tasse Tee herein. „Hier, zur Beruhigung.“, sagte sie und stellte die Tasse auf den Schreibtisch.
„Cindy muss zum Leukopäden.“, sagte Regina mit todernster Miene.
„Zum was?“, fragte Sabine irritiert.
Regina prustete los: „So hab ich auch reagiert und dann erklärte Frau Schlatter: 'Cindy spricht doch so schlecht'. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, sie aufzuklären, weil sie mir nahtlos von ihrem kreativen Flow berichtete, den sie auf keinen Fall für ihre Tochter unterbrechen wollte. Ich hab' sie zusammengefaltet. Sie war innerhalb von fünf Minuten hier und drohte mir mit dem 'Superintendanten'. Da habe ich sie verbessert, aber wer weiß, vielleicht meinte sie Tom Buhrow.“
Sabine kicherte während des gesamten Berichtes. Dann fragte sie: „Was ist denn gestern bei der Konfrontation MAV-'Superintendant' raus gekommen?“
„Nichts Richtiges. Volkmann ist tot.“
„Wie bitte?“
„Ermordet. Hast du nicht Zeitung gelesen?“
„Nee. Wer macht denn so was?“
„Woher soll ich das wissen? Ich war's jedenfalls nicht. Das hab' ich Frau Schlatter auch schon gesagt; sie sah mich nämlich so an, als würde sie's mir zutrauen.“
„Und was passiert jetzt?“, fragte Sabine.
„Zum einen werde ich mit jeder Mitarbeiterin in unserer Kita und mit jeder Leiterin der anderen Einrichtungen ein Vier-Augen-Gespräch führen, damit alle gewarnt sind; denn Volkmann war ja auch nur die Spitze des Eisberges. Jens Carstensen spricht mit dem Landeskirchen-Fuzzi, der für seine Berufsgruppe zuständig ist. Der ist arbeitsrechtlich sehr vernünftig, sicher auf unserer Seite und stellt die passenden Kontakte im Landeskirchenamt her, damit die unseren Vorgesetzten auf die Finger hauen und in die Suppe spucken.“
„Und bei denen, die unterschrieben haben?“
„Die können vors Arbeitsgericht gehen, aber da prüft mein Hajo noch die Rechtslage.“
„Wenn wir den nicht hätten.“
„Langsam, langsam.“, mahnte Regina Heuer. „Er ist immer noch mein Mann. Kein mein-dein-euer-unser Hajo!“
„Kommst du gleich zum Frühstück zu den Sonnenkäfern? Karin kommt später, hat'n Termin beim Arzt.“
„Ja, klar. Besser ich gewöhne mich schon mal dran. Bis sie in Mutterschutz und Elternzeit geht, haben wir eh keine qualifizierte Vertretung.“
In der Sonnenkäfergruppe herrschte eine ausgelassene Stimmung. Rico zog den Neid aller anderen Kinder auf sich, weil er ein verbotenes Schoko-Croissant dabei hatte. Pierre warf seinen Kakaobecher um und färbte damit Finnjas Rüschenrock schokobraun, die heulend aufsprang und von Sabine in den Waschraum begleitet wurde, um die Kleidung zu wechseln und das Gröbste auszuwaschen.
Dustin sagte mehrmals „Fick deine Mutter!“, was Regina ausnahmsweise zu schwarzer Pädagogik veranlasste: „Dustin, du setzt dich jetzt in die Kuschelecke bis die anderen fertig gefrühstückt haben. Du frühstückst dann danach und dann reden wir noch einmal mit dir.“
„Ich hab' aber ganz doll Hunger!“, brüllte Dustin aus Leibeskräften.
„Das kann gar nicht sein.“, erwiderte Regina ruhig. „Wer so viel Zeit hat, andere zu beleidigen, der kann gar keinen Hunger haben. Wenn du wirklich doll Hunger hättest, hättest du einfach gegessen und nicht geredet. Und jetzt setz' dich bitte in die Kuschelecke und warte, bis ich dich hole.“
Das hätte auch daneben gehen können, aber Dustin gehorchte. Später, beim Frühstück unter vier Augen erklärte Regina Dustin, warum sie solche Ausdrücke im Kindergarten nicht hören wollte und warum er sich selbst schadete, wenn er so redete. Dustin vermied für den Rest des Tages jedes Wort mit F.
Zum Glück war Karin zum Osterbasteln wieder da. Regina hatte genug im Büro zu tun und sie hasste diese Wir-machen-Mutti-eine Freude-Basteleien, wo weniger der Spaß der Kinder und die Entwicklung ihrer Kreativität im Vordergrund stand, als vielmehr die vor Stolz und Rührung glänzenden Elternaugen. Ekelhaft. Aber mittlerweile forderten Eltern so etwas ein: „Warum bastelt ihr nicht mal wieder was Nettes?“
Aber wehe, das Kind kommt mit schmutziger Kleidung nach Hause: „Die Lackschuhe waren ganz neu! Die sollte sie noch zur Silberhochzeit meiner Eltern anziehen. Und die haben 90 Euro gekostet! Können Sie uns das ersetzen?“
Ja ja. 90 Euro für Lackschuhe, aber keinen Cent mehr übrig für Gummistiefel. Was für eine Generation zogen diese Eltern da heran? Und konnten sie in der Kita das Schlimmste verhindern oder war sowieso schon alles zu spät? „Bloß nicht drüber nachdenken.“, murmelte Regina und öffnete ihr e-mail-Postfach.
„Na dann ruf' ich da doch gleich mal an.“, erwiderte Regina Heuer. „Wird's wieder nix mit in Ruhe Window Colours malen. Die Ärmste. Seit sie Mutter ist, hat sie kaum noch Zeit für sich.“
„Immerhin holt sie ihre Tochter nicht auf Inlineskatern ab wie damals Frau Ludwig.“
„Das würde ihr auch erhebliche Probleme bereiten, im Hinblick auf ihren Körperschwerpunkt.“
„Ihr Körper ist ein einziger Schwerpunkt.“
„Sabine! Wie gemein!“, tadelte Regina Heuer sie grinsend und verschwand im Leitungszimmer. Sie konnte verstehen, wenn erwerbstätige Mütter mit gnadenlosen Vorgesetzten ihre Kinder nur im äußersten Notfall zu Hause behielten; insbesondere, wenn sie alleinerziehend waren. Da konnte es schon mal zu einer Fehleinschätzung kommen. Aber Frau Schlatter hatte nur einen Mini-Job in den Abendstunden, einen anständig verdienenden Gatten, und sie schob ihr Kind ab, wo sie nur konnte, damit sie Zeit für ihre infantilen Hobbys hatte. Cindy wurde wie ein Accessoire präsentiert, wenn sie damit punkten konnte, ansonsten interessierte sie sich nur für sich selbst. Zum sicherlich zehnten Mal in diesem Jahr wählte sie die bekannte Nummer, die sie – wenn auch unfreiwillig – auswendig wusste: „Frau Schlatter, hier ist Frau Heuer von der Kita. Sie müssen Cindy sofort abholen, sie hat Fieber.“
Nach einem kurzen betretenen Schweigen folgte am anderen Ende der Leitung der gewohnte Redeschwall: „Oh je! Das ist ja ganz ungünstig. Dann muss ich das heute Nachmittag ja absagen und einen neuen Termin machen. Die werden aber gar nicht begeistert sein. Wir müssen doch heute Nachmittag noch zum Leukopäden.“
„Zum was?“ Regina Heuer dachte, sie hätte sich verhört.
„Zum Leukopäden. Cindy spricht doch so schlecht. Ich kann aber nicht jetzt gleich kommen. Ich muss erst noch die Konturen zuende malen, dann kann die Konturenpaste fest werden, wenn ich Cindy hole, und wenn sie dann schläft, kann ich mit ausmalen anfangen.“
Regina Heuer war fassungslos: „Frau Schlatter, Sie kommen jetzt sofort und holen Ihr Kind! Cindy geht es schlecht. Sie muss so schnell wie möglich ins Bett. Sie hätten sie gar nicht erst bringen dürfen. Sie kann die anderen Kinder und die Erzieherinnen anstecken. Wenn Sie in zehn Minuten nicht hier sind, lasse ich Cindy von der Polizei abholen und schalte das Jugendamt ein.“
Regina Heuer knallte den Hörer auf die Gabel. Sie sah auf die Uhr: 7.41 Uhr. „Okay Schnecke“, dachte sie, „bis 51 hast du Zeit, sonst knallt's.“
Es war erst 7.46 Uhr, als Frau Schlatter flammend rot vor Zorn ins Leitungszimmer stürmte. Sie machte sofort den Mund auf: „Sie! So reden Sie mit mir nicht! Das wird ein Nachspiel haben! Ich beschwere mich bei ihrem Superintendanten.“
„Falls Sie den Superintendenten meinen“, erwiderte Regina Heuer gelassen, „das dürfte schwierig werden. Der ist gestern Morgen ermordet worden.“
„Er-mordet?“, stammelte Frau Schlatter und bekam den Mund vor Entsetzten nicht wieder zu. Reglos starrte sie die Kita-Leiterin an.
„Keine Angst, ich war's nicht.“, beruhigte Regina Heuer sie. „Cindy liegt im Krankenzimmer. Und ich bin schon dabei, den Meldebogen fürs Jugendamt wegen Kindeswohlgefährdung auszufüllen. Noch so ein Vorfall und ich schicke ihn ab; seien Sie versichert. Dann machen die Kollegen aus der Erziehungshilfe Ihnen Dampf.“
Wortlos drehte Frau Schlatter sich um und warf die Bürotür ins Schloss. Wenig später sah Regina Heuer sie Cindy hinter sich her schleifen. „Jetzt mach schon!“, zischte sie. „Wegen dir konnte ich meine Konturenpaste nicht zuende auftragen.“
Sabine Krönke kam mit einer Tasse Tee herein. „Hier, zur Beruhigung.“, sagte sie und stellte die Tasse auf den Schreibtisch.
„Cindy muss zum Leukopäden.“, sagte Regina mit todernster Miene.
„Zum was?“, fragte Sabine irritiert.
Regina prustete los: „So hab ich auch reagiert und dann erklärte Frau Schlatter: 'Cindy spricht doch so schlecht'. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, sie aufzuklären, weil sie mir nahtlos von ihrem kreativen Flow berichtete, den sie auf keinen Fall für ihre Tochter unterbrechen wollte. Ich hab' sie zusammengefaltet. Sie war innerhalb von fünf Minuten hier und drohte mir mit dem 'Superintendanten'. Da habe ich sie verbessert, aber wer weiß, vielleicht meinte sie Tom Buhrow.“
Sabine kicherte während des gesamten Berichtes. Dann fragte sie: „Was ist denn gestern bei der Konfrontation MAV-'Superintendant' raus gekommen?“
„Nichts Richtiges. Volkmann ist tot.“
„Wie bitte?“
„Ermordet. Hast du nicht Zeitung gelesen?“
„Nee. Wer macht denn so was?“
„Woher soll ich das wissen? Ich war's jedenfalls nicht. Das hab' ich Frau Schlatter auch schon gesagt; sie sah mich nämlich so an, als würde sie's mir zutrauen.“
„Und was passiert jetzt?“, fragte Sabine.
„Zum einen werde ich mit jeder Mitarbeiterin in unserer Kita und mit jeder Leiterin der anderen Einrichtungen ein Vier-Augen-Gespräch führen, damit alle gewarnt sind; denn Volkmann war ja auch nur die Spitze des Eisberges. Jens Carstensen spricht mit dem Landeskirchen-Fuzzi, der für seine Berufsgruppe zuständig ist. Der ist arbeitsrechtlich sehr vernünftig, sicher auf unserer Seite und stellt die passenden Kontakte im Landeskirchenamt her, damit die unseren Vorgesetzten auf die Finger hauen und in die Suppe spucken.“
„Und bei denen, die unterschrieben haben?“
„Die können vors Arbeitsgericht gehen, aber da prüft mein Hajo noch die Rechtslage.“
„Wenn wir den nicht hätten.“
„Langsam, langsam.“, mahnte Regina Heuer. „Er ist immer noch mein Mann. Kein mein-dein-euer-unser Hajo!“
„Kommst du gleich zum Frühstück zu den Sonnenkäfern? Karin kommt später, hat'n Termin beim Arzt.“
„Ja, klar. Besser ich gewöhne mich schon mal dran. Bis sie in Mutterschutz und Elternzeit geht, haben wir eh keine qualifizierte Vertretung.“
In der Sonnenkäfergruppe herrschte eine ausgelassene Stimmung. Rico zog den Neid aller anderen Kinder auf sich, weil er ein verbotenes Schoko-Croissant dabei hatte. Pierre warf seinen Kakaobecher um und färbte damit Finnjas Rüschenrock schokobraun, die heulend aufsprang und von Sabine in den Waschraum begleitet wurde, um die Kleidung zu wechseln und das Gröbste auszuwaschen.
Dustin sagte mehrmals „Fick deine Mutter!“, was Regina ausnahmsweise zu schwarzer Pädagogik veranlasste: „Dustin, du setzt dich jetzt in die Kuschelecke bis die anderen fertig gefrühstückt haben. Du frühstückst dann danach und dann reden wir noch einmal mit dir.“
„Ich hab' aber ganz doll Hunger!“, brüllte Dustin aus Leibeskräften.
„Das kann gar nicht sein.“, erwiderte Regina ruhig. „Wer so viel Zeit hat, andere zu beleidigen, der kann gar keinen Hunger haben. Wenn du wirklich doll Hunger hättest, hättest du einfach gegessen und nicht geredet. Und jetzt setz' dich bitte in die Kuschelecke und warte, bis ich dich hole.“
Das hätte auch daneben gehen können, aber Dustin gehorchte. Später, beim Frühstück unter vier Augen erklärte Regina Dustin, warum sie solche Ausdrücke im Kindergarten nicht hören wollte und warum er sich selbst schadete, wenn er so redete. Dustin vermied für den Rest des Tages jedes Wort mit F.
Zum Glück war Karin zum Osterbasteln wieder da. Regina hatte genug im Büro zu tun und sie hasste diese Wir-machen-Mutti-eine Freude-Basteleien, wo weniger der Spaß der Kinder und die Entwicklung ihrer Kreativität im Vordergrund stand, als vielmehr die vor Stolz und Rührung glänzenden Elternaugen. Ekelhaft. Aber mittlerweile forderten Eltern so etwas ein: „Warum bastelt ihr nicht mal wieder was Nettes?“
Aber wehe, das Kind kommt mit schmutziger Kleidung nach Hause: „Die Lackschuhe waren ganz neu! Die sollte sie noch zur Silberhochzeit meiner Eltern anziehen. Und die haben 90 Euro gekostet! Können Sie uns das ersetzen?“
Ja ja. 90 Euro für Lackschuhe, aber keinen Cent mehr übrig für Gummistiefel. Was für eine Generation zogen diese Eltern da heran? Und konnten sie in der Kita das Schlimmste verhindern oder war sowieso schon alles zu spät? „Bloß nicht drüber nachdenken.“, murmelte Regina und öffnete ihr e-mail-Postfach.
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Freitag, 16. September 2016
13. Minden – Arche-Noah-Kita – Aus dem Kriminalroman „Rache für Dina“ von Cristina Fabry
c. fabry, 22:14h
„Du musst mir die Kekse holen, ich bin die Prinzessin, du bist die Fee.“, befahl Jodie.
„Muss ich nicht.“, widersprach Joelina. „Ich bin nämlich auch eine Prinzessin.“
„Aber du bist doch die Fee.“
„Ja, aber ich bin eine Feenprinzessin.“
„Das gibt es nicht!“
„Gibt es wohl. Karneval war ich auch eine Feenprinzessin.“
„Das ist Quatsch! Das war nur, weil du gern beides sein wolltest. Fee und Prinzessin. Das geht gar nicht.“
„Das geht wohl!“, erklärte Joelina. „In meinem Märchenbuch zu Hause da gibt es ein Feenreich, da gibt es auch einen Feenkönig und eine Feenkönigin und die haben eine Kind und das ist die Feenprinzessin.“
„Ja, aber“, protestierte Jodie, „das ist ja im Märchen. Aber in echt gibt es keine Feenprinzessinnen.“
„In echt gibt es aber auch keine Feen.“, erklärte Joelina.
„Aber Prinzessinnen“, triumphierte Jodie. „Und darum musst du mir jetzt die Kekse holen.“
„Aber in echt bist du ja gar keine Prinzessin.“, enttarnte Joelina ihre Spielkameradin, „nur im Spiel.“
„Aber dann bist du auch keine Feenprinzessin.“
„Eben.“
„Hä?“
„Ich hab' keine Lust mehr. Ich gehe nach draußen.“ Und schwups, entschwebte die Feenprinzessin in Richtung Schaukel. Jodie hielt indes Ausschau nach einem würdigen Ersatz, der gewillt war, den unterwürfigen Diener zu spielen.
Regina Heuer hatte die Szene interessiert beobachtet, ebenso wie ihre Kollegin Sabine Krönke.
„Die lieben Kleinen ziehen doch schon die gleichen Nummern ab wie die Großen.“, flüsterte Regina ihrer Kollegin zu.
„Ja“, erwiderte diese leise. „Aber die haben viel mehr Möglichkeiten, sich cool aus der Affäre zu ziehen. Joelinas Abgang fand ich grandios.“
„Stell dir mal vor, das hättest du bei Volkmann gebracht.“, phantasierte Regina. „Aber in echt bist du ja gar kein richtiger Superintendent, sondern nur eine aufgeblasene Wurst.“
„Genau“, kicherte Sabine. „Ich hab' keine Lust mehr, ich geh' schaukeln.“
„Arbeitslos in drei Minuten.“, erklärte Regina.
„Aber vielleicht“, gab Sabine flüsternd zu bedenken, „hätte er auch vor Aufregung einen Herzinfarkt erlitten und jetzt müssten keine Steuergelder verschwendet werden, weil die Polizei seinen Mörder sucht.“
Jodie kam auf die beiden Erzieherinnen zu. „Sabine, kannst du mir eine Krone aufmalen, zum ausmalen?“
„Klar kann ich das.“, antwortete Sabine, „aber warum machst du das nicht selbst?“
„Ich kann das nicht.“
„Aber Prinzessinnen müssen gut malen können, sonst sind sie keine richtigen Prinzessinnen. Wenn du es nicht kannst, musst du es üben.“
„Ich weiß aber nicht wie.“, maulte Jodie und formte mit dem Mund eine Schüppe.
„Komm, wir malen die Krone zusammen.“, forderte Sabine sie auf. Regina ging in die Bauecke, einen Streit schlichten, um eine Prügelei zu vermeiden. Etwas später überließen sie Karin die Aufsicht und gingen in die Küche, um das Mittagessen bereit zu stellen.
„Wann findet jetzt eigentlich der Ersatztermin statt für den, der wegen des Mordes an Volkmann ausgefallen ist?“, erkundigte sich Sabine.
„Morgen um 17.00 Uhr.“, antwortete Regina. „Wird ein langer Tag.“
„Du Ärmste.“
„Ich werd's überleben. Hab' es ja selbst so gewollt. Als MAV-Vertreterin bin ich ja schließlich unkündbar. Ist das nichts?“
„Bei deinen Dienstjahren bist du das auch so.“
„Okay, ich bin Politik-süchtig.“
„Na dann viel Vergnügen morgen Nachmittag.“
„Werd' ich haben.“
„Wer ist denn jetzt euer Verhandlungspartner?“
„Reimler, der Schleimer:“
„Ist der auch so ekelhaft wie Volkmann?“
„Ja, und auch genauso machtgeil. Aber nicht so schlau. Und außerdem sitzt er nicht ganz so fest im Sattel. Er ist da nur reingerutscht. Niemand hätte ihn gewählt. Jetzt will er sich natürlich da halten. Wenn er das tut, indem er möglichst niemandem Ärger machen will, wird das gut für uns. Wenn er sich allerdings ein Denkmal setzen will, damit ihn alle begeistert wählen, wenn seine kommissarische Amtszeit endet, dann kommt viel Arbeit auf uns zu.“
„Aber wenn die ihn damals zum Stellvertreter gewählt haben, dann werden die ihn doch jetzt auch sicher zum Chef wählen.“, gab Sabine zu bedenken.
„Das glaube ich nicht.“, entgegnete Regina. „Die Wahl damals war zwischen Pest und Cholera: der dumme, faule Schleimer-Reimler gegen den psychopathischen, selbstverliebten Zimmer-Spinner.“
„Der Typ, der damit angibt, dass die Konfirmanden in Socken und Schneidersitz in seinem Wohnzimmer abhängen?“
„Genau der.“
„Hat der keine Familie?“
„Nee, als Päderast hält man sich sowas besser vom Leib.“
„Echt? Ist das 'n Kinderficker?“
„Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir lebhaft vorstellen, und ich denke, andere tun das auch. Darum hat den natürlich keiner gewählt.“
„Aber warum kandidieren denn keine vernünftigen Leute für diesen Posten?“
„Viel Arbeit, kaum Entlastung und dabei die ganze Zeit im Schatten des großen Sup. Sowas machen nur Idioten oder Kontrollfreaks.“
„Kontrollfreaks sind Idioten.“
„Eben.“
Die ersten Kinder wurden abgeholt, die übrigen nahmen das Mittagessen zusammen ein.
Am Nachmittag wurde Regina Heuer in der Gruppenbetreuung nicht mehr gebraucht. Es gab einiges abzuarbeiten und dann musste sie sich ja auch noch auf die MAV-Sitzung am morgigen Freitag vorbereiten. Sie rief Jens Carstensen an, um die gemeinsame Strategie abzusprechen und um zu vermeiden, dass ihr Informationen fehlten, die sie längst hätte bekommen können. Sie plante, pünktlich Feierabend zu machen. „Einfach mal ein ganz normaler Tag, bevor der Wahnsinn morgen weiter geht.“, dachte sie und wandte sich seufzend ihren Unterlagen zu.
„Muss ich nicht.“, widersprach Joelina. „Ich bin nämlich auch eine Prinzessin.“
„Aber du bist doch die Fee.“
„Ja, aber ich bin eine Feenprinzessin.“
„Das gibt es nicht!“
„Gibt es wohl. Karneval war ich auch eine Feenprinzessin.“
„Das ist Quatsch! Das war nur, weil du gern beides sein wolltest. Fee und Prinzessin. Das geht gar nicht.“
„Das geht wohl!“, erklärte Joelina. „In meinem Märchenbuch zu Hause da gibt es ein Feenreich, da gibt es auch einen Feenkönig und eine Feenkönigin und die haben eine Kind und das ist die Feenprinzessin.“
„Ja, aber“, protestierte Jodie, „das ist ja im Märchen. Aber in echt gibt es keine Feenprinzessinnen.“
„In echt gibt es aber auch keine Feen.“, erklärte Joelina.
„Aber Prinzessinnen“, triumphierte Jodie. „Und darum musst du mir jetzt die Kekse holen.“
„Aber in echt bist du ja gar keine Prinzessin.“, enttarnte Joelina ihre Spielkameradin, „nur im Spiel.“
„Aber dann bist du auch keine Feenprinzessin.“
„Eben.“
„Hä?“
„Ich hab' keine Lust mehr. Ich gehe nach draußen.“ Und schwups, entschwebte die Feenprinzessin in Richtung Schaukel. Jodie hielt indes Ausschau nach einem würdigen Ersatz, der gewillt war, den unterwürfigen Diener zu spielen.
Regina Heuer hatte die Szene interessiert beobachtet, ebenso wie ihre Kollegin Sabine Krönke.
„Die lieben Kleinen ziehen doch schon die gleichen Nummern ab wie die Großen.“, flüsterte Regina ihrer Kollegin zu.
„Ja“, erwiderte diese leise. „Aber die haben viel mehr Möglichkeiten, sich cool aus der Affäre zu ziehen. Joelinas Abgang fand ich grandios.“
„Stell dir mal vor, das hättest du bei Volkmann gebracht.“, phantasierte Regina. „Aber in echt bist du ja gar kein richtiger Superintendent, sondern nur eine aufgeblasene Wurst.“
„Genau“, kicherte Sabine. „Ich hab' keine Lust mehr, ich geh' schaukeln.“
„Arbeitslos in drei Minuten.“, erklärte Regina.
„Aber vielleicht“, gab Sabine flüsternd zu bedenken, „hätte er auch vor Aufregung einen Herzinfarkt erlitten und jetzt müssten keine Steuergelder verschwendet werden, weil die Polizei seinen Mörder sucht.“
Jodie kam auf die beiden Erzieherinnen zu. „Sabine, kannst du mir eine Krone aufmalen, zum ausmalen?“
„Klar kann ich das.“, antwortete Sabine, „aber warum machst du das nicht selbst?“
„Ich kann das nicht.“
„Aber Prinzessinnen müssen gut malen können, sonst sind sie keine richtigen Prinzessinnen. Wenn du es nicht kannst, musst du es üben.“
„Ich weiß aber nicht wie.“, maulte Jodie und formte mit dem Mund eine Schüppe.
„Komm, wir malen die Krone zusammen.“, forderte Sabine sie auf. Regina ging in die Bauecke, einen Streit schlichten, um eine Prügelei zu vermeiden. Etwas später überließen sie Karin die Aufsicht und gingen in die Küche, um das Mittagessen bereit zu stellen.
„Wann findet jetzt eigentlich der Ersatztermin statt für den, der wegen des Mordes an Volkmann ausgefallen ist?“, erkundigte sich Sabine.
„Morgen um 17.00 Uhr.“, antwortete Regina. „Wird ein langer Tag.“
„Du Ärmste.“
„Ich werd's überleben. Hab' es ja selbst so gewollt. Als MAV-Vertreterin bin ich ja schließlich unkündbar. Ist das nichts?“
„Bei deinen Dienstjahren bist du das auch so.“
„Okay, ich bin Politik-süchtig.“
„Na dann viel Vergnügen morgen Nachmittag.“
„Werd' ich haben.“
„Wer ist denn jetzt euer Verhandlungspartner?“
„Reimler, der Schleimer:“
„Ist der auch so ekelhaft wie Volkmann?“
„Ja, und auch genauso machtgeil. Aber nicht so schlau. Und außerdem sitzt er nicht ganz so fest im Sattel. Er ist da nur reingerutscht. Niemand hätte ihn gewählt. Jetzt will er sich natürlich da halten. Wenn er das tut, indem er möglichst niemandem Ärger machen will, wird das gut für uns. Wenn er sich allerdings ein Denkmal setzen will, damit ihn alle begeistert wählen, wenn seine kommissarische Amtszeit endet, dann kommt viel Arbeit auf uns zu.“
„Aber wenn die ihn damals zum Stellvertreter gewählt haben, dann werden die ihn doch jetzt auch sicher zum Chef wählen.“, gab Sabine zu bedenken.
„Das glaube ich nicht.“, entgegnete Regina. „Die Wahl damals war zwischen Pest und Cholera: der dumme, faule Schleimer-Reimler gegen den psychopathischen, selbstverliebten Zimmer-Spinner.“
„Der Typ, der damit angibt, dass die Konfirmanden in Socken und Schneidersitz in seinem Wohnzimmer abhängen?“
„Genau der.“
„Hat der keine Familie?“
„Nee, als Päderast hält man sich sowas besser vom Leib.“
„Echt? Ist das 'n Kinderficker?“
„Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir lebhaft vorstellen, und ich denke, andere tun das auch. Darum hat den natürlich keiner gewählt.“
„Aber warum kandidieren denn keine vernünftigen Leute für diesen Posten?“
„Viel Arbeit, kaum Entlastung und dabei die ganze Zeit im Schatten des großen Sup. Sowas machen nur Idioten oder Kontrollfreaks.“
„Kontrollfreaks sind Idioten.“
„Eben.“
Die ersten Kinder wurden abgeholt, die übrigen nahmen das Mittagessen zusammen ein.
Am Nachmittag wurde Regina Heuer in der Gruppenbetreuung nicht mehr gebraucht. Es gab einiges abzuarbeiten und dann musste sie sich ja auch noch auf die MAV-Sitzung am morgigen Freitag vorbereiten. Sie rief Jens Carstensen an, um die gemeinsame Strategie abzusprechen und um zu vermeiden, dass ihr Informationen fehlten, die sie längst hätte bekommen können. Sie plante, pünktlich Feierabend zu machen. „Einfach mal ein ganz normaler Tag, bevor der Wahnsinn morgen weiter geht.“, dachte sie und wandte sich seufzend ihren Unterlagen zu.
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Freitag, 9. September 2016
Homophobie – abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 23:01h
Philipp Tiemann erschien mit dem Fahrrad zum Gottesdienst. Sibylle war entzückt von dem neuen Pfarrer, der mit seinem fröhlichen, offenen Lächeln einfach jeden sofort für sich einnahm. Tizian erwartete sicher eine tolle Konfirmandenzeit. Als Philipp Tiemann sein Fahrrad abschloss, bemerkte Sibylle diesen entzückenden Aufkleber auf der Hinterradverkleidung seines Hollandrads. Eine niedliche Fahne in den Farben des Regenbogens.
„Ist das ein Hoffnungssymbol?“, fragte Sibylle um Aufmerksamkeit heischend.
„Das könnte man so sehen.“, gab Philipp Tiemann Auskunft.
„Ich meine, in der Geschichte von der Arche war der Regenbogen ja auch ein Zeichen der Hoffnung.“
„Ja, das stimmt.“, erklärte der Pfarrer. „In diesem Fall geht es aber vor allem um das Bunte, Darum, dass Menschen unterschiedlich sind und die Fahne ist ein Symbol für lesbischen und schwulen Stolz und die Vielfalt dieser Lebensweise.“
Sibylle erbleichte augenblicklich, um kurz darauf vor Scham rot anzulaufen. Sie bedankte sich steif für die Auskunft und bemühte sich würdigen Schrittes in die Kirche zu gehen, in der ihr Mann schon auf sie wartete.
Während des Gottesdienstes nahm sie keinerlei Hinweis auf die Homosexualität des Theologen war, er sprach ja auch über nichts, was man damit hätte in Verbindung bringen können. Aber hatte er nicht doch auch diesen weibischen Singsang in der Stimme? Bewegte er sich nicht ein bisschen zu wiegend in den Hüften? Und war sein Lächeln, das sie als offen und fröhlich empfunden hatte, nicht doch das eines lüsternen Perversen? Sibylle wusste, dass man solche Gedanken heutzutage nicht mehr öffentlich äußern durfte, ohne dafür von allen Seiten angegriffen zu werden, aber sie war in ordentlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatte einen anständigen Mann geheiratet und mit ihm einen wunderbaren Jungen in die Welt gesetzt, den sie um jeden Preis auf den rechten Weg bringen wollte.
Beim Mittagessen berichtete sie Burkhard, ihrem Mann, von ihrem erschreckenden Erlebnis.
„Das ist doch wirklich nicht zu fassen!“, echauffierte sich Burkhard. „Sitzen die im Presbyterium auf ihren Augen und Ohren? Haben die keinen Verstand? So einen Perversen kann man doch nicht auf Konfirmanden loslassen, das ist doch nur eine Frage der Zeit, wann der einen Jungen in die Sakristei lockt und ihn zu unsittlichen Handlungen überredet. Diese Widerlinge, die sich gegenseitig ihre Geschlechtsteile in den Darm schieben, ich glaube, das will ich mir gar nicht vorstellen.“
„Ich wette, die im Presbyterium wissen das und scheren sich gar nicht darum.“, überlegte Sibylle. „Heutzutage finden das ja alle normal.“
„Das ist auch so etwas,das ich nicht verstehen kann.“, setzte Burkhard seine Tirade fort. „Alle finden es mittlerweile egal oder sogar irgendwie niedlich oder sogar toll, wenn jemand homosexuell ist, als wäre das eine besondere Lebensleistung. Die machen sich doch überall breit, ob im Sport, als Lehrer, Polizisten, Unternehmer, ja sogar Politiker. Und statt sich dafür zu schämen und es geheim zu halten, posaunen sie es auch noch extra laut heraus. In den Medien und als Künstler kannst du als normaler Mann ja heutzutage gar nichts mehr werden, die nehmen nur noch schwule Paradiesvögel und stahlharte Kampflesben. Aber eins sage ich dir: unseren Tizian kriegt der nicht in die Finger.“
„Natürlich nicht.“, sagte Sibylle. „Das wäre ja wohl der Gipfel!“
Burkhard und Sibylle meinten es ernst. Als am Dienstag der Konfirmanden-Unterricht begann, entschuldigten sie ihren Sohn mit einem Zahnarztbesuch. In der nächsten Woche hatte er angeblich Kopfschmerzen. So ging es noch zwei Mal und dann stand plötzlich an einem Montag Morgen ein skandalöser Bericht in einer bekannten Boulevard-Zeitung:
VIKAR MACHT KONFI ZUM JUNKIE
Philipp T. war nur ein einfacher Vikar in einer evangelischen Gemeinde und gab Konfirmanden-Unterricht. Doch was er nach dem Unterricht in einem Hinterzimmer dem damals 13-Jährigen Alexander S. antat, trieb diesen vor Verzweiflung in die Drogensucht. „Er zwang mich, sein Glied anzufassen und sogar zu küssen.“, erklärt der heute 17-jährige, schwer Drogenabhängige. „Mein Leben ist eine Katastrophe, ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren. Der Schmerz ist einfach zu groß.“
„Skandalös, dass man so einen auch noch Pfarrer werden lässt.“ erklärte unsere
Informantin, deren Name aus Quellenschutz-Gründen nicht bekannt gegeben werden darf. Heute ist Philipp T. ordinierter Gemeindepfarrer und darf seelenruhig Ausschau halten nach neuen Opfern. Die Sex-Skandale aus der katholischen Kirche, machen auch vor der Evangelischen nicht halt. Eltern, schützt Eure Kinder!
Philipp Tiemanns Unschuldsbeteuerungen erschienen dem Presbyterium glaubwürdig und sie unterstützten ihn bei seiner Verleumdungsklage gegen die Boulevard-Zeitung. Aber die polizeilichen Untersuchungen, die den Anschuldigungen auf den Fuß folgten, ließen die Mehrheit der Gemeindeglieder deutlich auf Distanz gehen und schon bald wurde erkennbar, dass der Pfarrer in der Gemeinde nicht mehr zu halten war. Sie unterstützten ihn bei der Suche nach einer neuen Stelle, wo er noch einmal ganz von vorn anfangen konnte.
Nur wenige Wochen später bekam die Gemeinde eine freundliche Vakanzvertretung: Ulrike Grönefeld, Pfarrerin zur Anstellung. Es war nicht ausgeschlossen, dass aus dem Vertretungsverhältnis ein dauerhaftes Anstellungsverhältnis würde und man die patente, junge Frau wählen würde.
Zufrieden fuhr Sybille ihren Sohn zum Unterricht und brachte auf dem Rückweg Kuchen mit. Burkhard hatte den Nachmittag frei und sie tranken gemeinsam Kaffee auf der Terrasse.
„Ich bin ja so froh, dass die Frau Grönefeld jetzt da ist.“, sagte Sibylle. „ich hatte schon befürchtet, wir müssten Tizian woanders zum Konfirmanden-Unterricht anmelden. Und die Frau Grönefeld ist ja so freundlich und herzlich, da bin ich ganz zuversichtlich.“
„Ja, und durchgreifen kann sie, glaube ich, auch.“, gab Burkhard seiner Frau recht. „Nicht so ein butterweiches, seichtes Gesäusel sondern eine klare Kante. Ich war ja zwischendurch unsicher, ob wir das Recht so beugen dürfen, aber jetzt denke ich, wir haben alles richtig gemacht und die Welt vor einem potentiellen Täter bewahrt.“
„Wer weiß, ob der nicht vielleicht wirklich Dreck am Stecken hatte?“, überlegte Sibylle. „Warum sonst hätte dieser Fixer so bereitwillig mitgespielt?“
„Weil er das Geld gebrauchen konnte.“
„Ja aber warum ist er überhaupt zum Fixer geworden? Ich habe neulich noch gelesen, dass die meisten Drogenabhängigen Opfer von sexuellem Missbrauch sind.“
„Wenn du mich fragst, sind das alles Sozialversager. Aber so was darf man ja heute nicht mehr laut sagen. Glaubst du unser Sohn würde Drogen nehmen, wenn man ihm so etwas antun würde? Der würde sich wehren und uns hinterher erzählen, was passiert ist. Dann würde der Täter bestraft und das wäre für Tizian Therapie genug. So sieht das nämlich aus.“
Siebzehn Monate später radelte Tizian zu einem Gespräch mit der Pfarrerin, die tatsächlich mittlerweile gewählt worden war. Er stand kurz vor der Konfirmation und musste wie alle anderen auch zu einem persönlichen Einzelgespräch erscheinen. Seine Eltern waren begeistert, dass sie sich so viel Zeit für ihre Konfirmanden nahm. Tizian hätte gern darauf verzichtet, aber das sagte er nicht, denn er wollte seine Eltern nicht enttäuschen.
Die Pfarrerin empfing ihn in Jeans und legerer Bluse, das stufig geschnittene Haar trug sie offen. Sie strahlte ihn an und bat ihn, in ihrem Arbeitszimmer Platz zu nehmen, sie hole in der Zwischenzeit etwas zu trinken.Tizian sah sich um. Alles wirkte irgendwie Puppenstuben-artig, die Möbel, die Farben, gar nicht wie ein Arbeitszimmer. Er hatte auf dem plüschigen orange-braunen Sofa Platz genommen, was er augenblicklich bereute, denn die Pfarrerin setzte sich neben ihn. Es ging um seinen Konfirmationsspruch, aber er konnte sich kaum auf das konzentrieren, was sie sagte, weil ihm ihr scharfer Geruch nach längst getrocknetem und sich nun auf der Haut zersetzenden Schweiß in die Nase zog. Würde sie doch nur etwas mehr Abstand halten! Er musste sich irgendwelche Bilder ansehen, die zu seinem Spruch passten und dabei kam sie mit ihrem Gesicht so nah an seines, dass er nun auch ihren schlechten Atem riechen konnte. Als das Gespräch endlich beendet schien und die Theologin bereits aufgestanden war, hielt sie plötzlich inne.
„Sag mal Tizian“, sprach sie ihn noch einmal an. „Deine Eltern haben mir erzählt, dass du ganz ausgezeichnet Klarinette spielst und gern häufiger eine Möglichkeit zum Auftreten hättest. Wie wäre es denn, wenn du am Sonntag nach den Konfirmationen etwas zum Ausgang spielen würdest?“
„Ja, das könnte ich machen.“, brachte Tizian mühsam hervor. Er wollte nur brav zu allem ja und Amen sagen, damit er nur möglichst schnell hier herauskam. Eigentlich war er froh, dass er nach der Konfirmation nicht mehr sonntags morgens in die Kirche gehen musste.
„Toll!“, sagte die Pfarrerin, beugte sich über ihn und drückte ihn unvermittelt an sich, so dass sie sein Gesicht gegen ihre stinkenden Brüste presste, die halb nackt aus dem leicht geöffneten Blusenausschitt herauslugten. Und dann flüsterte sie: „Siehst du, Tizian, das ist eben der Vorteil, wenn man sich ein bisschen näher kommt. Deine Eltern werden sich sicher freuen.“
Als er ihr hastig zum Abschied die Hand reichte, sagte sie noch einmal: „Und grüß deine Eltern ganz lieb von mir.“, dann radelte er wie ein Wahnsinniger nach Hause, um bloß möglichst schnell weg zu kommen, von dem Puppenstuben-Arbeitszimmer und der zudringlicheren Pfarrerin, auch wenn er ahnte, dass es eine ganze Weile dauern würde, bis er ihr endgültig entkommen sollte.
„Ist das ein Hoffnungssymbol?“, fragte Sibylle um Aufmerksamkeit heischend.
„Das könnte man so sehen.“, gab Philipp Tiemann Auskunft.
„Ich meine, in der Geschichte von der Arche war der Regenbogen ja auch ein Zeichen der Hoffnung.“
„Ja, das stimmt.“, erklärte der Pfarrer. „In diesem Fall geht es aber vor allem um das Bunte, Darum, dass Menschen unterschiedlich sind und die Fahne ist ein Symbol für lesbischen und schwulen Stolz und die Vielfalt dieser Lebensweise.“
Sibylle erbleichte augenblicklich, um kurz darauf vor Scham rot anzulaufen. Sie bedankte sich steif für die Auskunft und bemühte sich würdigen Schrittes in die Kirche zu gehen, in der ihr Mann schon auf sie wartete.
Während des Gottesdienstes nahm sie keinerlei Hinweis auf die Homosexualität des Theologen war, er sprach ja auch über nichts, was man damit hätte in Verbindung bringen können. Aber hatte er nicht doch auch diesen weibischen Singsang in der Stimme? Bewegte er sich nicht ein bisschen zu wiegend in den Hüften? Und war sein Lächeln, das sie als offen und fröhlich empfunden hatte, nicht doch das eines lüsternen Perversen? Sibylle wusste, dass man solche Gedanken heutzutage nicht mehr öffentlich äußern durfte, ohne dafür von allen Seiten angegriffen zu werden, aber sie war in ordentlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatte einen anständigen Mann geheiratet und mit ihm einen wunderbaren Jungen in die Welt gesetzt, den sie um jeden Preis auf den rechten Weg bringen wollte.
Beim Mittagessen berichtete sie Burkhard, ihrem Mann, von ihrem erschreckenden Erlebnis.
„Das ist doch wirklich nicht zu fassen!“, echauffierte sich Burkhard. „Sitzen die im Presbyterium auf ihren Augen und Ohren? Haben die keinen Verstand? So einen Perversen kann man doch nicht auf Konfirmanden loslassen, das ist doch nur eine Frage der Zeit, wann der einen Jungen in die Sakristei lockt und ihn zu unsittlichen Handlungen überredet. Diese Widerlinge, die sich gegenseitig ihre Geschlechtsteile in den Darm schieben, ich glaube, das will ich mir gar nicht vorstellen.“
„Ich wette, die im Presbyterium wissen das und scheren sich gar nicht darum.“, überlegte Sibylle. „Heutzutage finden das ja alle normal.“
„Das ist auch so etwas,das ich nicht verstehen kann.“, setzte Burkhard seine Tirade fort. „Alle finden es mittlerweile egal oder sogar irgendwie niedlich oder sogar toll, wenn jemand homosexuell ist, als wäre das eine besondere Lebensleistung. Die machen sich doch überall breit, ob im Sport, als Lehrer, Polizisten, Unternehmer, ja sogar Politiker. Und statt sich dafür zu schämen und es geheim zu halten, posaunen sie es auch noch extra laut heraus. In den Medien und als Künstler kannst du als normaler Mann ja heutzutage gar nichts mehr werden, die nehmen nur noch schwule Paradiesvögel und stahlharte Kampflesben. Aber eins sage ich dir: unseren Tizian kriegt der nicht in die Finger.“
„Natürlich nicht.“, sagte Sibylle. „Das wäre ja wohl der Gipfel!“
Burkhard und Sibylle meinten es ernst. Als am Dienstag der Konfirmanden-Unterricht begann, entschuldigten sie ihren Sohn mit einem Zahnarztbesuch. In der nächsten Woche hatte er angeblich Kopfschmerzen. So ging es noch zwei Mal und dann stand plötzlich an einem Montag Morgen ein skandalöser Bericht in einer bekannten Boulevard-Zeitung:
VIKAR MACHT KONFI ZUM JUNKIE
Philipp T. war nur ein einfacher Vikar in einer evangelischen Gemeinde und gab Konfirmanden-Unterricht. Doch was er nach dem Unterricht in einem Hinterzimmer dem damals 13-Jährigen Alexander S. antat, trieb diesen vor Verzweiflung in die Drogensucht. „Er zwang mich, sein Glied anzufassen und sogar zu küssen.“, erklärt der heute 17-jährige, schwer Drogenabhängige. „Mein Leben ist eine Katastrophe, ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren. Der Schmerz ist einfach zu groß.“
„Skandalös, dass man so einen auch noch Pfarrer werden lässt.“ erklärte unsere
Informantin, deren Name aus Quellenschutz-Gründen nicht bekannt gegeben werden darf. Heute ist Philipp T. ordinierter Gemeindepfarrer und darf seelenruhig Ausschau halten nach neuen Opfern. Die Sex-Skandale aus der katholischen Kirche, machen auch vor der Evangelischen nicht halt. Eltern, schützt Eure Kinder!
Philipp Tiemanns Unschuldsbeteuerungen erschienen dem Presbyterium glaubwürdig und sie unterstützten ihn bei seiner Verleumdungsklage gegen die Boulevard-Zeitung. Aber die polizeilichen Untersuchungen, die den Anschuldigungen auf den Fuß folgten, ließen die Mehrheit der Gemeindeglieder deutlich auf Distanz gehen und schon bald wurde erkennbar, dass der Pfarrer in der Gemeinde nicht mehr zu halten war. Sie unterstützten ihn bei der Suche nach einer neuen Stelle, wo er noch einmal ganz von vorn anfangen konnte.
Nur wenige Wochen später bekam die Gemeinde eine freundliche Vakanzvertretung: Ulrike Grönefeld, Pfarrerin zur Anstellung. Es war nicht ausgeschlossen, dass aus dem Vertretungsverhältnis ein dauerhaftes Anstellungsverhältnis würde und man die patente, junge Frau wählen würde.
Zufrieden fuhr Sybille ihren Sohn zum Unterricht und brachte auf dem Rückweg Kuchen mit. Burkhard hatte den Nachmittag frei und sie tranken gemeinsam Kaffee auf der Terrasse.
„Ich bin ja so froh, dass die Frau Grönefeld jetzt da ist.“, sagte Sibylle. „ich hatte schon befürchtet, wir müssten Tizian woanders zum Konfirmanden-Unterricht anmelden. Und die Frau Grönefeld ist ja so freundlich und herzlich, da bin ich ganz zuversichtlich.“
„Ja, und durchgreifen kann sie, glaube ich, auch.“, gab Burkhard seiner Frau recht. „Nicht so ein butterweiches, seichtes Gesäusel sondern eine klare Kante. Ich war ja zwischendurch unsicher, ob wir das Recht so beugen dürfen, aber jetzt denke ich, wir haben alles richtig gemacht und die Welt vor einem potentiellen Täter bewahrt.“
„Wer weiß, ob der nicht vielleicht wirklich Dreck am Stecken hatte?“, überlegte Sibylle. „Warum sonst hätte dieser Fixer so bereitwillig mitgespielt?“
„Weil er das Geld gebrauchen konnte.“
„Ja aber warum ist er überhaupt zum Fixer geworden? Ich habe neulich noch gelesen, dass die meisten Drogenabhängigen Opfer von sexuellem Missbrauch sind.“
„Wenn du mich fragst, sind das alles Sozialversager. Aber so was darf man ja heute nicht mehr laut sagen. Glaubst du unser Sohn würde Drogen nehmen, wenn man ihm so etwas antun würde? Der würde sich wehren und uns hinterher erzählen, was passiert ist. Dann würde der Täter bestraft und das wäre für Tizian Therapie genug. So sieht das nämlich aus.“
Siebzehn Monate später radelte Tizian zu einem Gespräch mit der Pfarrerin, die tatsächlich mittlerweile gewählt worden war. Er stand kurz vor der Konfirmation und musste wie alle anderen auch zu einem persönlichen Einzelgespräch erscheinen. Seine Eltern waren begeistert, dass sie sich so viel Zeit für ihre Konfirmanden nahm. Tizian hätte gern darauf verzichtet, aber das sagte er nicht, denn er wollte seine Eltern nicht enttäuschen.
Die Pfarrerin empfing ihn in Jeans und legerer Bluse, das stufig geschnittene Haar trug sie offen. Sie strahlte ihn an und bat ihn, in ihrem Arbeitszimmer Platz zu nehmen, sie hole in der Zwischenzeit etwas zu trinken.Tizian sah sich um. Alles wirkte irgendwie Puppenstuben-artig, die Möbel, die Farben, gar nicht wie ein Arbeitszimmer. Er hatte auf dem plüschigen orange-braunen Sofa Platz genommen, was er augenblicklich bereute, denn die Pfarrerin setzte sich neben ihn. Es ging um seinen Konfirmationsspruch, aber er konnte sich kaum auf das konzentrieren, was sie sagte, weil ihm ihr scharfer Geruch nach längst getrocknetem und sich nun auf der Haut zersetzenden Schweiß in die Nase zog. Würde sie doch nur etwas mehr Abstand halten! Er musste sich irgendwelche Bilder ansehen, die zu seinem Spruch passten und dabei kam sie mit ihrem Gesicht so nah an seines, dass er nun auch ihren schlechten Atem riechen konnte. Als das Gespräch endlich beendet schien und die Theologin bereits aufgestanden war, hielt sie plötzlich inne.
„Sag mal Tizian“, sprach sie ihn noch einmal an. „Deine Eltern haben mir erzählt, dass du ganz ausgezeichnet Klarinette spielst und gern häufiger eine Möglichkeit zum Auftreten hättest. Wie wäre es denn, wenn du am Sonntag nach den Konfirmationen etwas zum Ausgang spielen würdest?“
„Ja, das könnte ich machen.“, brachte Tizian mühsam hervor. Er wollte nur brav zu allem ja und Amen sagen, damit er nur möglichst schnell hier herauskam. Eigentlich war er froh, dass er nach der Konfirmation nicht mehr sonntags morgens in die Kirche gehen musste.
„Toll!“, sagte die Pfarrerin, beugte sich über ihn und drückte ihn unvermittelt an sich, so dass sie sein Gesicht gegen ihre stinkenden Brüste presste, die halb nackt aus dem leicht geöffneten Blusenausschitt herauslugten. Und dann flüsterte sie: „Siehst du, Tizian, das ist eben der Vorteil, wenn man sich ein bisschen näher kommt. Deine Eltern werden sich sicher freuen.“
Als er ihr hastig zum Abschied die Hand reichte, sagte sie noch einmal: „Und grüß deine Eltern ganz lieb von mir.“, dann radelte er wie ein Wahnsinniger nach Hause, um bloß möglichst schnell weg zu kommen, von dem Puppenstuben-Arbeitszimmer und der zudringlicheren Pfarrerin, auch wenn er ahnte, dass es eine ganze Weile dauern würde, bis er ihr endgültig entkommen sollte.
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Freitag, 2. September 2016
Goedereede – ein Kurz-Krimi zum Weiterspinnen – Schluss I
c. fabry, 20:23h
Die Mühle ratterte laut und ein wenig bedrohlich, obwohl das Zentrum des Getöses sich zwei Stockwerke über ihm befand – durch eine schmale Luke konnte man nach oben sehen. Einige Auserwählte durften sogar ins Allerheiligste unterm Dach der Mühle – Ansgar hatte nicht einmal Interesse, die erlaubte Treppe zu erklimmen – Mechanik hatte ihn noch nie interessiert.
Plötzlich rumpelte es im Gebälk. Die rhythmischen Bewegungen verlangsamten sich, spitze Schreie waren zu hören und schwarzes Blut tropfte durch die Luke auf den alten Holzboden, dessen trockene Poren die Flüssigkeit umgehend aufsaugten. Aufgeregte Menschen mit kreidebleichen Gesichtern stolperten die Treppe herunter und stürzten aus der Mühle. Es dauerte eine ganze Weile bis jemand in der Lage war, Ansgar zu erklären, was eigentlich passiert war: Aus bislang unbekannten Gründen war ein junger Mann ganz oben, wo es bekanntermaßen sehr gefährlich war und wo eigentlich niemand Unbefugtes hingehen durfte, von einem Zahnrad erfasst worden und in die Antriebswelle gezogen worden.
„Ist er sehr schwer verletzt?“, fragte Ansgar entsetzt, der das herab tropfende Blut bemerkt hatte.
„Er ist tot.“, erwiderte sein Auskunftgeber.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, statt dessen arbeitete er an einem Fürbittengebet, das er dem sprachbegabten Gemeindeglied morgen zur Übersetzung vorlegen wollte.
Das Kunstspektakel am Samstag wurde abgesagt. Überall im Ort war Polizei unterwegs und Ansgar wäre am liebsten direkt nach Hause gefahren. Anstelle eines weiteren Carillon-Konzertes spielte der Künstler geistliche Lieder zu Tod und Ewigkeit und das auch nur eine Viertelstunde.
Es war ein wunderbarer, sonniger Samstag, und Ansgar saß auf der Terrasse hinter dem Haus, direkt an der Gracht, trank Tee, arbeitete an seinem Grußwort, las und blinzelte von Zeit zu Zeit in die Sonne. Abends packte er seinen Koffer, denn er hatte vor, direkt im Anschluss an das dreistündige Gottesdienst-Ritual, bestehend aus Kirchenbesuch, Kirchkaffee und Einladung zum Abschieds-Mittagessen im Pfarrhaus, nach Hause zu fahren. Er ging früh schlafen und verhängte das Fenster mit einem Duschtuch, weil ihn das Licht der Straßenlaterne störte.
Als er sich am Sonntag Morgen noch einen Spaziergang gönnte, um den Kopf vor dem Gottesdienst frei zu bekommen, begegneten ihm äußerst traditionell herausgeputzte Gestalten, die ebenfalls zum Gottesdienst unterwegs waren, von denen ihm jedoch in der vorangegangenen Woche niemand begegnet war. Zum Teil waren sie in so etwas Ähnliches wie historische Trachten gekleidet und fuhren mit ernsten Gesichtern in Pferdekutschen vor, so dass Ansgar sich an die in Nordamerika niedergelassenen Amish erinnert fühlte. Vermutlich waren das die Fundamentalisten, die sich von den Reformierten abgespalten hatten. Ihre Gesichter erschienen ihm verbittert, beinahe zornig.
Er suchte schließlich die Kirche auf, besprach sich in der Sakristei mit dem Pfarrer und den Lektoren, sprach mit allen ein gemeinsames Gebet und betrat dann die gefüllte Kirche. Als er in die Gesichter der Gemeinde sah, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Hatte er ihre Augen in den ersten Tagen wie Röntgengeräte empfunden, die versuchten, seine Gedanken zu lesen, wirkten die Gesichter heute Morgen hart und kalt, wie zu Masken erstarrt. Er überbrachte nach der Eröffnung die Grußworte seiner Gemeinde, dann rauschte der Gottesdienst an ihm vorbei, nicht einmal die Predigt bekam er mit.
Als die Fürbitten an der Reihe waren, trat er mit dem Übersetzer ans Lesepult. Nach ein paar üblichen Bitten sprach er: „...und wir bitten dich, Herr, für die Seele des jungen Mannes, der dem Unglück in der Mühle zum Opfer gefallen ist, nimm seine Seele auf und schenke ihm Frieden. Ganz besonders aber bitten wir dich, jene zu trösten und in ihrer Trauer nicht verzweifeln zu lassen, die der Verlust persönlich getroffen hat: seine Angehörigen, seine Freunde und alle, die ihn lieben. Amen.“
Niemand senkte den Blick, kein trauriges Auge war zu sehen, statt dessen Entschlossenheit, klare, graue Augenpaare richteten sich stur geradeaus, ein paar große, braune Augen starrten geradezu zufrieden. Ansgar stellten sich die Nackenhaare auf. Was war nur los mit den Leuten hier? Er wollte es lieber gar nicht wissen. Beim Kirchcafé schienen ihm die Gemeindeglieder eher aus dem Weg zu gehen, doch das war ihm nur recht. Als sein Mentor ihn beim Mittagessen um seine Meinung zur Predigt fragte, entschuldigte er sich für seine unzureichenden Sprachkenntnisse und seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit aufgrund der jüngsten Ereignisse.
Er bedankte sich in aller Form, verabschiedete sich höflich, holte seinen Koffer und verließ die Pieterstraat mit ihren schmalgiebeligen Fischerhäusern. Auf der Kreuzung von Pieterstraat und Kerkstraat wäre er beinahe in die Hinterlassenschaft der Kutschpferde getreten. Ob die Restauriert Reformierten sie wohl absichtlich dort defilieren lassen hatten? Die Symbolik stand der Eimer leerenden Fischerfrau an der Dorfmauer in nichts nach. Auf dem Weg zum Parkplatz hörte er ein letztes Mal die Carillons, sie spielten „Oh komm, du Geist der Wahrheit“.
„Ja, Komm.“, dachte er und stieg wie ein Flüchtender in sein Auto, dem die Fischerin noch wütend einen Eimer Scheiße hinterher warf. Als er dreieinhalb Stunden später wieder zu Hause ankam, war er mehr als erleichtert.
Goedereede war bereits in seiner Erinnerung verblasst wie ein verstörender Film, den man besser vergaß, da las er eines Morgens auf der Titelseite seiner Tageszeitung unter der Rubrik „Die schräge Meldung“ folgenden Text:
Rotterdam. In einem südholländischen Dorf nahe der Küste hat die Polizei einen brutalen Mord aufgeklärt. Ein junger Mann, der in die Zahnräder der Mechanik einer traditionellen Windmühle geraten und dabei gestorben war, war das Opfer eines Mordanschlages. Der Täter war der Vater eines Mädchens, das der Reformierten Kirche angehörte, das Opfer war Mitglied der streng gläubigeren Separatisten, der Restauriert Reformierten Kirche.
Da die beiden jungen Menschen sich ineinander verliebt hatten, schmiedeten sie Heiratspläne. Dies wollte der Vater des Mädchens um jeden Preis verhindern. Doch die Tochter strafte ihn doppelt für seine Gräueltat. Sie konvertierte zur Restauriert Reformierten Kirche und stürzte sich dann vom Turm der Reformierten Kirche. In einem Abschiedsbrief bat sie darum, neben ihrem Verlobten beigesetzt zu werden. Der Vater stellte sich nach dem Freitod der Tochter der Polizei. Romeo und Julia auf dem Dorfe.
ENDE Schluss I
GOEDEREEDE – EIN KURZKRIMI ZM WEITERSPINNEN – SCHLUSS II – FREI NACH HELENE TISCHER UND BIRGIT DIE STARKE
Nachdem er sich in der Mühle gebührend lange aufgehalten und seine gähnende Langeweile erfolgreich verborgen hatte, ging er wieder nach draußen und betrachtete ein letztes Mal die Schlacht der Farben auf den Mühlenflügeln. Trotz der Akzente in grellem Gelb, leuchtendem Rot und schillerndem Blau dominierten Erdtöne, vor allem rötliche. Eine entsetzliche Geschmacklosigkeit, befand er und machte sich auf den Weg zum Marktplatz, wo verschiedene Gruppen Live-Musik zum Besten gaben. Er setzte sich in die Gaststätte, die Biere eines regionalen Brauhauses anbot und bestellte sich ein Sandwich dazu, was sich allerdings als vollwertige Mahlzeit entpuppte, war es doch von epischer Breite, umfangreich belegt und dreistöckig. Dazu gab es frische Pommes Frites, schließlich war er in Holland. Vor der Bühne beobachtete er einen exzentrischen Tänzer, in dem er den „Harry“ erkannte, der das Aquarell in seiner Wohnung aufgestellt hatte. Er trug betont extravagante Kleidung und wirkte auf Ansgar wie das fleischgewordene Klischee eines Bohemiens. Er war sichtlich betrunken, doch war es wohl nicht nur seinem erhöhten Alkoholspiegel sondern auch seinem ausgeprägten Exhibitionismus geschuldet, dass er sich derartig extrovertiert vor der Bühne gebärdete. Ansgar beeilte sich, sein sogenanntes Sandwich zu verdrücken und machte sich auf den Heimweg.
Am Samstag Vormittag erhielt er einen kurzen Besuch des Pfarrers. „Könnten Sie bitte am Sonntag in Ihr Fürbittengebet eine junge Frau einschließen, die seit einigen Tagen vermisst wird?“, bat ihn sein künftiger Kollege. „Sie heißt Anneke van Maas und war bis vor einem Jahr Mitglied unserer Gemeinde. Sie hat sich dann der Herstelde Hervormde Kerk angeschlossen und war gar nicht mehr in unserer Gemeinde präsent. Nun ist sie spurlos verschwunden. Wir vermissen Sie bereits seit über zwei Wochen.“
Ansgar tat, wie ihm geheißen, arbeitete Fürbitten und Grußworte seiner deutschen Gemeinde aus und machte sich nach der Mittagsruhe auf den Weg, um etwas von den ausgestellten Bildern mitzubekommen, wenn er auch für eine Führung zu spät dran war. Viele interessante Leute waren im Ort unterwegs, nicht nur die Künstler, die den Interessierten an diesem Tag Rede und Antwort standen, hoben sich äußerlich von der Norm ab; am schrillsten waren die kunstbeflissenen Lebenskünstler, die sich vom bunten Fest durch die Straßen treiben ließen.
Schließlich betrat Ansgar die Galerie des Initiators der Kunsttage und wie sich herausstellte, handelte es sich um Harry.
„Hi!“, rief er. „Der Pasteur von Duitsland will auch mal gucken. Suchen Sie etwas für Ihre Kirche oder für Ihr Wohnzimmer?“
Ansgar lächelte verlegen. „Weder noch.“, gab er ehrlich zu. „Ich wollte mich nur umsehen. Aber man kann ja nie wissen, vielleicht finde ich am Ende doch etwas, dass sowohl mir als auch meinem schmalen Geldbeutel so sehr gefällt, dass ich es einfach nicht hier lassen kann.“
Harry schlug ihm anerkennend auf die Schulter und lachte schallend. „So ist es gut.“, sagte er. „Die Kirche hat die Kunst schon immer unterstützt, wenn auch oft schamlos ausgebeutet.“
„Ich habe nicht die Absicht, Sie auszubeuten.“, erwiderte Ansgar sauertöpfisch.
„Nee, nee.“, erklärte Harry versöhnlich. „das waren ja auch die Katholiken. Die Protestanten machen so etwas nicht, die verzichten lieber ganz auf Bilder.“
„Das können Sie aber so nicht sagen.“
„Ich kann alles sagen.“, erwiderte Harry, „und zwar ganz genau so wie ich will, egal ob mit Worten, Farben oder Materialien. Ich habe die Macht, alles zu nutzen, was die Erde hergibt, um mich auszudrücken. Und wenn Gott das nicht passt, soll er doch meckern. Ich mache trotzdem, was ich will und er kann mich nicht daran hindern.“
„Eines Tages wird er das.“, erwiderte Ansgar und verließ eilig das offene Atelier. Dieser Harry entsprach nicht seinen Vorstellungen von einer lohnenden Bekanntschaft.
Der Gottesdienst am Sonntag Morgen war genauso steif und langweilig, wie Ansgar ihn eine Woche zuvor erlebt hatte. Doch beim Abschiedsessen im Pfarrhaus erzählte ihm die spröde Pfarrersfrau noch eine atemberaubende Geschichte: „Das Mädchen, für das Sie gebetet haben, also Anneke, die ist ja nicht einfach nur zu der anderen Kirche gewechselt. Dort hat sie eine Weile mitgemacht, weil sie sich von der Gemeinde mehr Zuspruch erhoffte, doch sie muss wohl tiefergehende Probleme gehabt haben. Vor etwa einem dreiviertel Jahr erlitt sie einen Zusammenbruch und bekam sofort einen Therapieplatz. Danach hat sie auch die Herstelde Hervormde Kerk verlassen und sich mit dem hiesigen Künstler Harry angefreundet. Ihre Eltern waren so unglücklich, aber sie konnten sie nicht davon abbringen, dem Maler Modell zu sitzen und zwar als Akt. Auf den Bildern ist allerdings weder ihr Körper noch ihr Gesicht zu erkennen, um nicht zu sagen, man sieht überhaupt keinen Menschen, nur Gekleckse.“
Ansgar war froh, als er das malerische Dorf und seine seltsamen Bewohner endlich verlassen konnte, zumal die Fischersfrau an der Stadtmauer ihm zum Abschied noch einen Eimer Scheiße hinterher warf.
Zwei Wochen später sah er sich ein Kulturmagazin im Fernsehen an: Harry war über Nacht berühmt geworden mit den Action-Painting-Ergüssen, die an der Goedereeder Mühle gehangen hatten. Die vier Stoffbahnen nannten sich „Sympathie fort he Devil“.
Er schüttelte den Kopf, ging schlafen und hatte in der Nacht seltsame und bedrohliche Träume.
Als er am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug und in der Rubrik „Aus aller Welt“ schmökerte, verschlug es ihm den Atem. Dort stand:
„GRAUSIGER FUND IN SÜDHOLLAND
Rotterdam. Im südholländischen Dorf Goedereede hat ein Mörder alter Schule zugeschlagen. Am zentralen Müll-Sammelplatz hatte die Müllabfuhr einen großen Beutel stehen lassen, weil er nicht ordnungsgemäß entsorgt worden war. Es war nicht nachvollziehbar, wem der Müll gehörte und ein bestialischer Gestank rief die Behörden auf den Plan. In der Tüte befanden sich ein Fleischwolf und ein Entsafter, die völlig verschmutzt entsorgt worden waren. Sowohl am Fleischwolf, als auch am Entsafter klebten Fleischreste. Da sich am Fleischwolf etwas festgesetzt hatte, das Ähnlichkeit mit einem menschlichen Fingernagel hatte, ließen die Behörden das Material analysieren: Es war menschlich und ein DNA-Abgleich ergab eine hundertprozentige Übereinstimmung mit einer seit etwa einem Monat vermissten Person. Identität und Motive des Täters sind bis jetzt unklar.“
Augenblicklich erbrach sich Ansgar über der Zeitung. Er wusste schon, warum er noch nie außerordentliche Sympathien für den Teufel empfunden hatte. Angesichts solcher Perversionen erschien ihm das Kacken auf Leinwände geradezu poetisch. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Polizei.
ENDE SCHLUSS II
Plötzlich rumpelte es im Gebälk. Die rhythmischen Bewegungen verlangsamten sich, spitze Schreie waren zu hören und schwarzes Blut tropfte durch die Luke auf den alten Holzboden, dessen trockene Poren die Flüssigkeit umgehend aufsaugten. Aufgeregte Menschen mit kreidebleichen Gesichtern stolperten die Treppe herunter und stürzten aus der Mühle. Es dauerte eine ganze Weile bis jemand in der Lage war, Ansgar zu erklären, was eigentlich passiert war: Aus bislang unbekannten Gründen war ein junger Mann ganz oben, wo es bekanntermaßen sehr gefährlich war und wo eigentlich niemand Unbefugtes hingehen durfte, von einem Zahnrad erfasst worden und in die Antriebswelle gezogen worden.
„Ist er sehr schwer verletzt?“, fragte Ansgar entsetzt, der das herab tropfende Blut bemerkt hatte.
„Er ist tot.“, erwiderte sein Auskunftgeber.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, statt dessen arbeitete er an einem Fürbittengebet, das er dem sprachbegabten Gemeindeglied morgen zur Übersetzung vorlegen wollte.
Das Kunstspektakel am Samstag wurde abgesagt. Überall im Ort war Polizei unterwegs und Ansgar wäre am liebsten direkt nach Hause gefahren. Anstelle eines weiteren Carillon-Konzertes spielte der Künstler geistliche Lieder zu Tod und Ewigkeit und das auch nur eine Viertelstunde.
Es war ein wunderbarer, sonniger Samstag, und Ansgar saß auf der Terrasse hinter dem Haus, direkt an der Gracht, trank Tee, arbeitete an seinem Grußwort, las und blinzelte von Zeit zu Zeit in die Sonne. Abends packte er seinen Koffer, denn er hatte vor, direkt im Anschluss an das dreistündige Gottesdienst-Ritual, bestehend aus Kirchenbesuch, Kirchkaffee und Einladung zum Abschieds-Mittagessen im Pfarrhaus, nach Hause zu fahren. Er ging früh schlafen und verhängte das Fenster mit einem Duschtuch, weil ihn das Licht der Straßenlaterne störte.
Als er sich am Sonntag Morgen noch einen Spaziergang gönnte, um den Kopf vor dem Gottesdienst frei zu bekommen, begegneten ihm äußerst traditionell herausgeputzte Gestalten, die ebenfalls zum Gottesdienst unterwegs waren, von denen ihm jedoch in der vorangegangenen Woche niemand begegnet war. Zum Teil waren sie in so etwas Ähnliches wie historische Trachten gekleidet und fuhren mit ernsten Gesichtern in Pferdekutschen vor, so dass Ansgar sich an die in Nordamerika niedergelassenen Amish erinnert fühlte. Vermutlich waren das die Fundamentalisten, die sich von den Reformierten abgespalten hatten. Ihre Gesichter erschienen ihm verbittert, beinahe zornig.
Er suchte schließlich die Kirche auf, besprach sich in der Sakristei mit dem Pfarrer und den Lektoren, sprach mit allen ein gemeinsames Gebet und betrat dann die gefüllte Kirche. Als er in die Gesichter der Gemeinde sah, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Hatte er ihre Augen in den ersten Tagen wie Röntgengeräte empfunden, die versuchten, seine Gedanken zu lesen, wirkten die Gesichter heute Morgen hart und kalt, wie zu Masken erstarrt. Er überbrachte nach der Eröffnung die Grußworte seiner Gemeinde, dann rauschte der Gottesdienst an ihm vorbei, nicht einmal die Predigt bekam er mit.
Als die Fürbitten an der Reihe waren, trat er mit dem Übersetzer ans Lesepult. Nach ein paar üblichen Bitten sprach er: „...und wir bitten dich, Herr, für die Seele des jungen Mannes, der dem Unglück in der Mühle zum Opfer gefallen ist, nimm seine Seele auf und schenke ihm Frieden. Ganz besonders aber bitten wir dich, jene zu trösten und in ihrer Trauer nicht verzweifeln zu lassen, die der Verlust persönlich getroffen hat: seine Angehörigen, seine Freunde und alle, die ihn lieben. Amen.“
Niemand senkte den Blick, kein trauriges Auge war zu sehen, statt dessen Entschlossenheit, klare, graue Augenpaare richteten sich stur geradeaus, ein paar große, braune Augen starrten geradezu zufrieden. Ansgar stellten sich die Nackenhaare auf. Was war nur los mit den Leuten hier? Er wollte es lieber gar nicht wissen. Beim Kirchcafé schienen ihm die Gemeindeglieder eher aus dem Weg zu gehen, doch das war ihm nur recht. Als sein Mentor ihn beim Mittagessen um seine Meinung zur Predigt fragte, entschuldigte er sich für seine unzureichenden Sprachkenntnisse und seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit aufgrund der jüngsten Ereignisse.
Er bedankte sich in aller Form, verabschiedete sich höflich, holte seinen Koffer und verließ die Pieterstraat mit ihren schmalgiebeligen Fischerhäusern. Auf der Kreuzung von Pieterstraat und Kerkstraat wäre er beinahe in die Hinterlassenschaft der Kutschpferde getreten. Ob die Restauriert Reformierten sie wohl absichtlich dort defilieren lassen hatten? Die Symbolik stand der Eimer leerenden Fischerfrau an der Dorfmauer in nichts nach. Auf dem Weg zum Parkplatz hörte er ein letztes Mal die Carillons, sie spielten „Oh komm, du Geist der Wahrheit“.
„Ja, Komm.“, dachte er und stieg wie ein Flüchtender in sein Auto, dem die Fischerin noch wütend einen Eimer Scheiße hinterher warf. Als er dreieinhalb Stunden später wieder zu Hause ankam, war er mehr als erleichtert.
Goedereede war bereits in seiner Erinnerung verblasst wie ein verstörender Film, den man besser vergaß, da las er eines Morgens auf der Titelseite seiner Tageszeitung unter der Rubrik „Die schräge Meldung“ folgenden Text:
Rotterdam. In einem südholländischen Dorf nahe der Küste hat die Polizei einen brutalen Mord aufgeklärt. Ein junger Mann, der in die Zahnräder der Mechanik einer traditionellen Windmühle geraten und dabei gestorben war, war das Opfer eines Mordanschlages. Der Täter war der Vater eines Mädchens, das der Reformierten Kirche angehörte, das Opfer war Mitglied der streng gläubigeren Separatisten, der Restauriert Reformierten Kirche.
Da die beiden jungen Menschen sich ineinander verliebt hatten, schmiedeten sie Heiratspläne. Dies wollte der Vater des Mädchens um jeden Preis verhindern. Doch die Tochter strafte ihn doppelt für seine Gräueltat. Sie konvertierte zur Restauriert Reformierten Kirche und stürzte sich dann vom Turm der Reformierten Kirche. In einem Abschiedsbrief bat sie darum, neben ihrem Verlobten beigesetzt zu werden. Der Vater stellte sich nach dem Freitod der Tochter der Polizei. Romeo und Julia auf dem Dorfe.
ENDE Schluss I
GOEDEREEDE – EIN KURZKRIMI ZM WEITERSPINNEN – SCHLUSS II – FREI NACH HELENE TISCHER UND BIRGIT DIE STARKE
Nachdem er sich in der Mühle gebührend lange aufgehalten und seine gähnende Langeweile erfolgreich verborgen hatte, ging er wieder nach draußen und betrachtete ein letztes Mal die Schlacht der Farben auf den Mühlenflügeln. Trotz der Akzente in grellem Gelb, leuchtendem Rot und schillerndem Blau dominierten Erdtöne, vor allem rötliche. Eine entsetzliche Geschmacklosigkeit, befand er und machte sich auf den Weg zum Marktplatz, wo verschiedene Gruppen Live-Musik zum Besten gaben. Er setzte sich in die Gaststätte, die Biere eines regionalen Brauhauses anbot und bestellte sich ein Sandwich dazu, was sich allerdings als vollwertige Mahlzeit entpuppte, war es doch von epischer Breite, umfangreich belegt und dreistöckig. Dazu gab es frische Pommes Frites, schließlich war er in Holland. Vor der Bühne beobachtete er einen exzentrischen Tänzer, in dem er den „Harry“ erkannte, der das Aquarell in seiner Wohnung aufgestellt hatte. Er trug betont extravagante Kleidung und wirkte auf Ansgar wie das fleischgewordene Klischee eines Bohemiens. Er war sichtlich betrunken, doch war es wohl nicht nur seinem erhöhten Alkoholspiegel sondern auch seinem ausgeprägten Exhibitionismus geschuldet, dass er sich derartig extrovertiert vor der Bühne gebärdete. Ansgar beeilte sich, sein sogenanntes Sandwich zu verdrücken und machte sich auf den Heimweg.
Am Samstag Vormittag erhielt er einen kurzen Besuch des Pfarrers. „Könnten Sie bitte am Sonntag in Ihr Fürbittengebet eine junge Frau einschließen, die seit einigen Tagen vermisst wird?“, bat ihn sein künftiger Kollege. „Sie heißt Anneke van Maas und war bis vor einem Jahr Mitglied unserer Gemeinde. Sie hat sich dann der Herstelde Hervormde Kerk angeschlossen und war gar nicht mehr in unserer Gemeinde präsent. Nun ist sie spurlos verschwunden. Wir vermissen Sie bereits seit über zwei Wochen.“
Ansgar tat, wie ihm geheißen, arbeitete Fürbitten und Grußworte seiner deutschen Gemeinde aus und machte sich nach der Mittagsruhe auf den Weg, um etwas von den ausgestellten Bildern mitzubekommen, wenn er auch für eine Führung zu spät dran war. Viele interessante Leute waren im Ort unterwegs, nicht nur die Künstler, die den Interessierten an diesem Tag Rede und Antwort standen, hoben sich äußerlich von der Norm ab; am schrillsten waren die kunstbeflissenen Lebenskünstler, die sich vom bunten Fest durch die Straßen treiben ließen.
Schließlich betrat Ansgar die Galerie des Initiators der Kunsttage und wie sich herausstellte, handelte es sich um Harry.
„Hi!“, rief er. „Der Pasteur von Duitsland will auch mal gucken. Suchen Sie etwas für Ihre Kirche oder für Ihr Wohnzimmer?“
Ansgar lächelte verlegen. „Weder noch.“, gab er ehrlich zu. „Ich wollte mich nur umsehen. Aber man kann ja nie wissen, vielleicht finde ich am Ende doch etwas, dass sowohl mir als auch meinem schmalen Geldbeutel so sehr gefällt, dass ich es einfach nicht hier lassen kann.“
Harry schlug ihm anerkennend auf die Schulter und lachte schallend. „So ist es gut.“, sagte er. „Die Kirche hat die Kunst schon immer unterstützt, wenn auch oft schamlos ausgebeutet.“
„Ich habe nicht die Absicht, Sie auszubeuten.“, erwiderte Ansgar sauertöpfisch.
„Nee, nee.“, erklärte Harry versöhnlich. „das waren ja auch die Katholiken. Die Protestanten machen so etwas nicht, die verzichten lieber ganz auf Bilder.“
„Das können Sie aber so nicht sagen.“
„Ich kann alles sagen.“, erwiderte Harry, „und zwar ganz genau so wie ich will, egal ob mit Worten, Farben oder Materialien. Ich habe die Macht, alles zu nutzen, was die Erde hergibt, um mich auszudrücken. Und wenn Gott das nicht passt, soll er doch meckern. Ich mache trotzdem, was ich will und er kann mich nicht daran hindern.“
„Eines Tages wird er das.“, erwiderte Ansgar und verließ eilig das offene Atelier. Dieser Harry entsprach nicht seinen Vorstellungen von einer lohnenden Bekanntschaft.
Der Gottesdienst am Sonntag Morgen war genauso steif und langweilig, wie Ansgar ihn eine Woche zuvor erlebt hatte. Doch beim Abschiedsessen im Pfarrhaus erzählte ihm die spröde Pfarrersfrau noch eine atemberaubende Geschichte: „Das Mädchen, für das Sie gebetet haben, also Anneke, die ist ja nicht einfach nur zu der anderen Kirche gewechselt. Dort hat sie eine Weile mitgemacht, weil sie sich von der Gemeinde mehr Zuspruch erhoffte, doch sie muss wohl tiefergehende Probleme gehabt haben. Vor etwa einem dreiviertel Jahr erlitt sie einen Zusammenbruch und bekam sofort einen Therapieplatz. Danach hat sie auch die Herstelde Hervormde Kerk verlassen und sich mit dem hiesigen Künstler Harry angefreundet. Ihre Eltern waren so unglücklich, aber sie konnten sie nicht davon abbringen, dem Maler Modell zu sitzen und zwar als Akt. Auf den Bildern ist allerdings weder ihr Körper noch ihr Gesicht zu erkennen, um nicht zu sagen, man sieht überhaupt keinen Menschen, nur Gekleckse.“
Ansgar war froh, als er das malerische Dorf und seine seltsamen Bewohner endlich verlassen konnte, zumal die Fischersfrau an der Stadtmauer ihm zum Abschied noch einen Eimer Scheiße hinterher warf.
Zwei Wochen später sah er sich ein Kulturmagazin im Fernsehen an: Harry war über Nacht berühmt geworden mit den Action-Painting-Ergüssen, die an der Goedereeder Mühle gehangen hatten. Die vier Stoffbahnen nannten sich „Sympathie fort he Devil“.
Er schüttelte den Kopf, ging schlafen und hatte in der Nacht seltsame und bedrohliche Träume.
Als er am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug und in der Rubrik „Aus aller Welt“ schmökerte, verschlug es ihm den Atem. Dort stand:
„GRAUSIGER FUND IN SÜDHOLLAND
Rotterdam. Im südholländischen Dorf Goedereede hat ein Mörder alter Schule zugeschlagen. Am zentralen Müll-Sammelplatz hatte die Müllabfuhr einen großen Beutel stehen lassen, weil er nicht ordnungsgemäß entsorgt worden war. Es war nicht nachvollziehbar, wem der Müll gehörte und ein bestialischer Gestank rief die Behörden auf den Plan. In der Tüte befanden sich ein Fleischwolf und ein Entsafter, die völlig verschmutzt entsorgt worden waren. Sowohl am Fleischwolf, als auch am Entsafter klebten Fleischreste. Da sich am Fleischwolf etwas festgesetzt hatte, das Ähnlichkeit mit einem menschlichen Fingernagel hatte, ließen die Behörden das Material analysieren: Es war menschlich und ein DNA-Abgleich ergab eine hundertprozentige Übereinstimmung mit einer seit etwa einem Monat vermissten Person. Identität und Motive des Täters sind bis jetzt unklar.“
Augenblicklich erbrach sich Ansgar über der Zeitung. Er wusste schon, warum er noch nie außerordentliche Sympathien für den Teufel empfunden hatte. Angesichts solcher Perversionen erschien ihm das Kacken auf Leinwände geradezu poetisch. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Polizei.
ENDE SCHLUSS II
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