Freitag, 16. September 2016
13. Minden – Arche-Noah-Kita – Aus dem Kriminalroman „Rache für Dina“ von Cristina Fabry
„Du musst mir die Kekse holen, ich bin die Prinzessin, du bist die Fee.“, befahl Jodie.
„Muss ich nicht.“, widersprach Joelina. „Ich bin nämlich auch eine Prinzessin.“
„Aber du bist doch die Fee.“
„Ja, aber ich bin eine Feenprinzessin.“
„Das gibt es nicht!“
„Gibt es wohl. Karneval war ich auch eine Feenprinzessin.“
„Das ist Quatsch! Das war nur, weil du gern beides sein wolltest. Fee und Prinzessin. Das geht gar nicht.“
„Das geht wohl!“, erklärte Joelina. „In meinem Märchenbuch zu Hause da gibt es ein Feenreich, da gibt es auch einen Feenkönig und eine Feenkönigin und die haben eine Kind und das ist die Feenprinzessin.“
„Ja, aber“, protestierte Jodie, „das ist ja im Märchen. Aber in echt gibt es keine Feenprinzessinnen.“
„In echt gibt es aber auch keine Feen.“, erklärte Joelina.
„Aber Prinzessinnen“, triumphierte Jodie. „Und darum musst du mir jetzt die Kekse holen.“
„Aber in echt bist du ja gar keine Prinzessin.“, enttarnte Joelina ihre Spielkameradin, „nur im Spiel.“
„Aber dann bist du auch keine Feenprinzessin.“
„Eben.“
„Hä?“
„Ich hab' keine Lust mehr. Ich gehe nach draußen.“ Und schwups, entschwebte die Feenprinzessin in Richtung Schaukel. Jodie hielt indes Ausschau nach einem würdigen Ersatz, der gewillt war, den unterwürfigen Diener zu spielen.
Regina Heuer hatte die Szene interessiert beobachtet, ebenso wie ihre Kollegin Sabine Krönke.
„Die lieben Kleinen ziehen doch schon die gleichen Nummern ab wie die Großen.“, flüsterte Regina ihrer Kollegin zu.
„Ja“, erwiderte diese leise. „Aber die haben viel mehr Möglichkeiten, sich cool aus der Affäre zu ziehen. Joelinas Abgang fand ich grandios.“
„Stell dir mal vor, das hättest du bei Volkmann gebracht.“, phantasierte Regina. „Aber in echt bist du ja gar kein richtiger Superintendent, sondern nur eine aufgeblasene Wurst.“
„Genau“, kicherte Sabine. „Ich hab' keine Lust mehr, ich geh' schaukeln.“
„Arbeitslos in drei Minuten.“, erklärte Regina.
„Aber vielleicht“, gab Sabine flüsternd zu bedenken, „hätte er auch vor Aufregung einen Herzinfarkt erlitten und jetzt müssten keine Steuergelder verschwendet werden, weil die Polizei seinen Mörder sucht.“
Jodie kam auf die beiden Erzieherinnen zu. „Sabine, kannst du mir eine Krone aufmalen, zum ausmalen?“
„Klar kann ich das.“, antwortete Sabine, „aber warum machst du das nicht selbst?“
„Ich kann das nicht.“
„Aber Prinzessinnen müssen gut malen können, sonst sind sie keine richtigen Prinzessinnen. Wenn du es nicht kannst, musst du es üben.“
„Ich weiß aber nicht wie.“, maulte Jodie und formte mit dem Mund eine Schüppe.
„Komm, wir malen die Krone zusammen.“, forderte Sabine sie auf. Regina ging in die Bauecke, einen Streit schlichten, um eine Prügelei zu vermeiden. Etwas später überließen sie Karin die Aufsicht und gingen in die Küche, um das Mittagessen bereit zu stellen.
„Wann findet jetzt eigentlich der Ersatztermin statt für den, der wegen des Mordes an Volkmann ausgefallen ist?“, erkundigte sich Sabine.
„Morgen um 17.00 Uhr.“, antwortete Regina. „Wird ein langer Tag.“
„Du Ärmste.“
„Ich werd's überleben. Hab' es ja selbst so gewollt. Als MAV-Vertreterin bin ich ja schließlich unkündbar. Ist das nichts?“
„Bei deinen Dienstjahren bist du das auch so.“
„Okay, ich bin Politik-süchtig.“
„Na dann viel Vergnügen morgen Nachmittag.“
„Werd' ich haben.“
„Wer ist denn jetzt euer Verhandlungspartner?“
„Reimler, der Schleimer:“
„Ist der auch so ekelhaft wie Volkmann?“
„Ja, und auch genauso machtgeil. Aber nicht so schlau. Und außerdem sitzt er nicht ganz so fest im Sattel. Er ist da nur reingerutscht. Niemand hätte ihn gewählt. Jetzt will er sich natürlich da halten. Wenn er das tut, indem er möglichst niemandem Ärger machen will, wird das gut für uns. Wenn er sich allerdings ein Denkmal setzen will, damit ihn alle begeistert wählen, wenn seine kommissarische Amtszeit endet, dann kommt viel Arbeit auf uns zu.“
„Aber wenn die ihn damals zum Stellvertreter gewählt haben, dann werden die ihn doch jetzt auch sicher zum Chef wählen.“, gab Sabine zu bedenken.
„Das glaube ich nicht.“, entgegnete Regina. „Die Wahl damals war zwischen Pest und Cholera: der dumme, faule Schleimer-Reimler gegen den psychopathischen, selbstverliebten Zimmer-Spinner.“
„Der Typ, der damit angibt, dass die Konfirmanden in Socken und Schneidersitz in seinem Wohnzimmer abhängen?“
„Genau der.“
„Hat der keine Familie?“
„Nee, als Päderast hält man sich sowas besser vom Leib.“
„Echt? Ist das 'n Kinderficker?“
„Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir lebhaft vorstellen, und ich denke, andere tun das auch. Darum hat den natürlich keiner gewählt.“
„Aber warum kandidieren denn keine vernünftigen Leute für diesen Posten?“
„Viel Arbeit, kaum Entlastung und dabei die ganze Zeit im Schatten des großen Sup. Sowas machen nur Idioten oder Kontrollfreaks.“
„Kontrollfreaks sind Idioten.“
„Eben.“
Die ersten Kinder wurden abgeholt, die übrigen nahmen das Mittagessen zusammen ein.
Am Nachmittag wurde Regina Heuer in der Gruppenbetreuung nicht mehr gebraucht. Es gab einiges abzuarbeiten und dann musste sie sich ja auch noch auf die MAV-Sitzung am morgigen Freitag vorbereiten. Sie rief Jens Carstensen an, um die gemeinsame Strategie abzusprechen und um zu vermeiden, dass ihr Informationen fehlten, die sie längst hätte bekommen können. Sie plante, pünktlich Feierabend zu machen. „Einfach mal ein ganz normaler Tag, bevor der Wahnsinn morgen weiter geht.“, dachte sie und wandte sich seufzend ihren Unterlagen zu.

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Freitag, 9. September 2016
Homophobie – abgeschlossener Kurzkrimi
Philipp Tiemann erschien mit dem Fahrrad zum Gottesdienst. Sibylle war entzückt von dem neuen Pfarrer, der mit seinem fröhlichen, offenen Lächeln einfach jeden sofort für sich einnahm. Tizian erwartete sicher eine tolle Konfirmandenzeit. Als Philipp Tiemann sein Fahrrad abschloss, bemerkte Sibylle diesen entzückenden Aufkleber auf der Hinterradverkleidung seines Hollandrads. Eine niedliche Fahne in den Farben des Regenbogens.
„Ist das ein Hoffnungssymbol?“, fragte Sibylle um Aufmerksamkeit heischend.
„Das könnte man so sehen.“, gab Philipp Tiemann Auskunft.
„Ich meine, in der Geschichte von der Arche war der Regenbogen ja auch ein Zeichen der Hoffnung.“
„Ja, das stimmt.“, erklärte der Pfarrer. „In diesem Fall geht es aber vor allem um das Bunte, Darum, dass Menschen unterschiedlich sind und die Fahne ist ein Symbol für lesbischen und schwulen Stolz und die Vielfalt dieser Lebensweise.“
Sibylle erbleichte augenblicklich, um kurz darauf vor Scham rot anzulaufen. Sie bedankte sich steif für die Auskunft und bemühte sich würdigen Schrittes in die Kirche zu gehen, in der ihr Mann schon auf sie wartete.
Während des Gottesdienstes nahm sie keinerlei Hinweis auf die Homosexualität des Theologen war, er sprach ja auch über nichts, was man damit hätte in Verbindung bringen können. Aber hatte er nicht doch auch diesen weibischen Singsang in der Stimme? Bewegte er sich nicht ein bisschen zu wiegend in den Hüften? Und war sein Lächeln, das sie als offen und fröhlich empfunden hatte, nicht doch das eines lüsternen Perversen? Sibylle wusste, dass man solche Gedanken heutzutage nicht mehr öffentlich äußern durfte, ohne dafür von allen Seiten angegriffen zu werden, aber sie war in ordentlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatte einen anständigen Mann geheiratet und mit ihm einen wunderbaren Jungen in die Welt gesetzt, den sie um jeden Preis auf den rechten Weg bringen wollte.
Beim Mittagessen berichtete sie Burkhard, ihrem Mann, von ihrem erschreckenden Erlebnis.
„Das ist doch wirklich nicht zu fassen!“, echauffierte sich Burkhard. „Sitzen die im Presbyterium auf ihren Augen und Ohren? Haben die keinen Verstand? So einen Perversen kann man doch nicht auf Konfirmanden loslassen, das ist doch nur eine Frage der Zeit, wann der einen Jungen in die Sakristei lockt und ihn zu unsittlichen Handlungen überredet. Diese Widerlinge, die sich gegenseitig ihre Geschlechtsteile in den Darm schieben, ich glaube, das will ich mir gar nicht vorstellen.“
„Ich wette, die im Presbyterium wissen das und scheren sich gar nicht darum.“, überlegte Sibylle. „Heutzutage finden das ja alle normal.“
„Das ist auch so etwas,das ich nicht verstehen kann.“, setzte Burkhard seine Tirade fort. „Alle finden es mittlerweile egal oder sogar irgendwie niedlich oder sogar toll, wenn jemand homosexuell ist, als wäre das eine besondere Lebensleistung. Die machen sich doch überall breit, ob im Sport, als Lehrer, Polizisten, Unternehmer, ja sogar Politiker. Und statt sich dafür zu schämen und es geheim zu halten, posaunen sie es auch noch extra laut heraus. In den Medien und als Künstler kannst du als normaler Mann ja heutzutage gar nichts mehr werden, die nehmen nur noch schwule Paradiesvögel und stahlharte Kampflesben. Aber eins sage ich dir: unseren Tizian kriegt der nicht in die Finger.“
„Natürlich nicht.“, sagte Sibylle. „Das wäre ja wohl der Gipfel!“
Burkhard und Sibylle meinten es ernst. Als am Dienstag der Konfirmanden-Unterricht begann, entschuldigten sie ihren Sohn mit einem Zahnarztbesuch. In der nächsten Woche hatte er angeblich Kopfschmerzen. So ging es noch zwei Mal und dann stand plötzlich an einem Montag Morgen ein skandalöser Bericht in einer bekannten Boulevard-Zeitung:
VIKAR MACHT KONFI ZUM JUNKIE
Philipp T. war nur ein einfacher Vikar in einer evangelischen Gemeinde und gab Konfirmanden-Unterricht. Doch was er nach dem Unterricht in einem Hinterzimmer dem damals 13-Jährigen Alexander S. antat, trieb diesen vor Verzweiflung in die Drogensucht. „Er zwang mich, sein Glied anzufassen und sogar zu küssen.“, erklärt der heute 17-jährige, schwer Drogenabhängige. „Mein Leben ist eine Katastrophe, ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren. Der Schmerz ist einfach zu groß.“
„Skandalös, dass man so einen auch noch Pfarrer werden lässt.“ erklärte unsere
Informantin, deren Name aus Quellenschutz-Gründen nicht bekannt gegeben werden darf. Heute ist Philipp T. ordinierter Gemeindepfarrer und darf seelenruhig Ausschau halten nach neuen Opfern. Die Sex-Skandale aus der katholischen Kirche, machen auch vor der Evangelischen nicht halt. Eltern, schützt Eure Kinder!
Philipp Tiemanns Unschuldsbeteuerungen erschienen dem Presbyterium glaubwürdig und sie unterstützten ihn bei seiner Verleumdungsklage gegen die Boulevard-Zeitung. Aber die polizeilichen Untersuchungen, die den Anschuldigungen auf den Fuß folgten, ließen die Mehrheit der Gemeindeglieder deutlich auf Distanz gehen und schon bald wurde erkennbar, dass der Pfarrer in der Gemeinde nicht mehr zu halten war. Sie unterstützten ihn bei der Suche nach einer neuen Stelle, wo er noch einmal ganz von vorn anfangen konnte.
Nur wenige Wochen später bekam die Gemeinde eine freundliche Vakanzvertretung: Ulrike Grönefeld, Pfarrerin zur Anstellung. Es war nicht ausgeschlossen, dass aus dem Vertretungsverhältnis ein dauerhaftes Anstellungsverhältnis würde und man die patente, junge Frau wählen würde.
Zufrieden fuhr Sybille ihren Sohn zum Unterricht und brachte auf dem Rückweg Kuchen mit. Burkhard hatte den Nachmittag frei und sie tranken gemeinsam Kaffee auf der Terrasse.
„Ich bin ja so froh, dass die Frau Grönefeld jetzt da ist.“, sagte Sibylle. „ich hatte schon befürchtet, wir müssten Tizian woanders zum Konfirmanden-Unterricht anmelden. Und die Frau Grönefeld ist ja so freundlich und herzlich, da bin ich ganz zuversichtlich.“
„Ja, und durchgreifen kann sie, glaube ich, auch.“, gab Burkhard seiner Frau recht. „Nicht so ein butterweiches, seichtes Gesäusel sondern eine klare Kante. Ich war ja zwischendurch unsicher, ob wir das Recht so beugen dürfen, aber jetzt denke ich, wir haben alles richtig gemacht und die Welt vor einem potentiellen Täter bewahrt.“
„Wer weiß, ob der nicht vielleicht wirklich Dreck am Stecken hatte?“, überlegte Sibylle. „Warum sonst hätte dieser Fixer so bereitwillig mitgespielt?“
„Weil er das Geld gebrauchen konnte.“
„Ja aber warum ist er überhaupt zum Fixer geworden? Ich habe neulich noch gelesen, dass die meisten Drogenabhängigen Opfer von sexuellem Missbrauch sind.“
„Wenn du mich fragst, sind das alles Sozialversager. Aber so was darf man ja heute nicht mehr laut sagen. Glaubst du unser Sohn würde Drogen nehmen, wenn man ihm so etwas antun würde? Der würde sich wehren und uns hinterher erzählen, was passiert ist. Dann würde der Täter bestraft und das wäre für Tizian Therapie genug. So sieht das nämlich aus.“
Siebzehn Monate später radelte Tizian zu einem Gespräch mit der Pfarrerin, die tatsächlich mittlerweile gewählt worden war. Er stand kurz vor der Konfirmation und musste wie alle anderen auch zu einem persönlichen Einzelgespräch erscheinen. Seine Eltern waren begeistert, dass sie sich so viel Zeit für ihre Konfirmanden nahm. Tizian hätte gern darauf verzichtet, aber das sagte er nicht, denn er wollte seine Eltern nicht enttäuschen.
Die Pfarrerin empfing ihn in Jeans und legerer Bluse, das stufig geschnittene Haar trug sie offen. Sie strahlte ihn an und bat ihn, in ihrem Arbeitszimmer Platz zu nehmen, sie hole in der Zwischenzeit etwas zu trinken.Tizian sah sich um. Alles wirkte irgendwie Puppenstuben-artig, die Möbel, die Farben, gar nicht wie ein Arbeitszimmer. Er hatte auf dem plüschigen orange-braunen Sofa Platz genommen, was er augenblicklich bereute, denn die Pfarrerin setzte sich neben ihn. Es ging um seinen Konfirmationsspruch, aber er konnte sich kaum auf das konzentrieren, was sie sagte, weil ihm ihr scharfer Geruch nach längst getrocknetem und sich nun auf der Haut zersetzenden Schweiß in die Nase zog. Würde sie doch nur etwas mehr Abstand halten! Er musste sich irgendwelche Bilder ansehen, die zu seinem Spruch passten und dabei kam sie mit ihrem Gesicht so nah an seines, dass er nun auch ihren schlechten Atem riechen konnte. Als das Gespräch endlich beendet schien und die Theologin bereits aufgestanden war, hielt sie plötzlich inne.
„Sag mal Tizian“, sprach sie ihn noch einmal an. „Deine Eltern haben mir erzählt, dass du ganz ausgezeichnet Klarinette spielst und gern häufiger eine Möglichkeit zum Auftreten hättest. Wie wäre es denn, wenn du am Sonntag nach den Konfirmationen etwas zum Ausgang spielen würdest?“
„Ja, das könnte ich machen.“, brachte Tizian mühsam hervor. Er wollte nur brav zu allem ja und Amen sagen, damit er nur möglichst schnell hier herauskam. Eigentlich war er froh, dass er nach der Konfirmation nicht mehr sonntags morgens in die Kirche gehen musste.
„Toll!“, sagte die Pfarrerin, beugte sich über ihn und drückte ihn unvermittelt an sich, so dass sie sein Gesicht gegen ihre stinkenden Brüste presste, die halb nackt aus dem leicht geöffneten Blusenausschitt herauslugten. Und dann flüsterte sie: „Siehst du, Tizian, das ist eben der Vorteil, wenn man sich ein bisschen näher kommt. Deine Eltern werden sich sicher freuen.“
Als er ihr hastig zum Abschied die Hand reichte, sagte sie noch einmal: „Und grüß deine Eltern ganz lieb von mir.“, dann radelte er wie ein Wahnsinniger nach Hause, um bloß möglichst schnell weg zu kommen, von dem Puppenstuben-Arbeitszimmer und der zudringlicheren Pfarrerin, auch wenn er ahnte, dass es eine ganze Weile dauern würde, bis er ihr endgültig entkommen sollte.

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Freitag, 2. September 2016
Goedereede – ein Kurz-Krimi zum Weiterspinnen – Schluss I
Die Mühle ratterte laut und ein wenig bedrohlich, obwohl das Zentrum des Getöses sich zwei Stockwerke über ihm befand – durch eine schmale Luke konnte man nach oben sehen. Einige Auserwählte durften sogar ins Allerheiligste unterm Dach der Mühle – Ansgar hatte nicht einmal Interesse, die erlaubte Treppe zu erklimmen – Mechanik hatte ihn noch nie interessiert.
Plötzlich rumpelte es im Gebälk. Die rhythmischen Bewegungen verlangsamten sich, spitze Schreie waren zu hören und schwarzes Blut tropfte durch die Luke auf den alten Holzboden, dessen trockene Poren die Flüssigkeit umgehend aufsaugten. Aufgeregte Menschen mit kreidebleichen Gesichtern stolperten die Treppe herunter und stürzten aus der Mühle. Es dauerte eine ganze Weile bis jemand in der Lage war, Ansgar zu erklären, was eigentlich passiert war: Aus bislang unbekannten Gründen war ein junger Mann ganz oben, wo es bekanntermaßen sehr gefährlich war und wo eigentlich niemand Unbefugtes hingehen durfte, von einem Zahnrad erfasst worden und in die Antriebswelle gezogen worden.
„Ist er sehr schwer verletzt?“, fragte Ansgar entsetzt, der das herab tropfende Blut bemerkt hatte.
„Er ist tot.“, erwiderte sein Auskunftgeber.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, statt dessen arbeitete er an einem Fürbittengebet, das er dem sprachbegabten Gemeindeglied morgen zur Übersetzung vorlegen wollte.
Das Kunstspektakel am Samstag wurde abgesagt. Überall im Ort war Polizei unterwegs und Ansgar wäre am liebsten direkt nach Hause gefahren. Anstelle eines weiteren Carillon-Konzertes spielte der Künstler geistliche Lieder zu Tod und Ewigkeit und das auch nur eine Viertelstunde.
Es war ein wunderbarer, sonniger Samstag, und Ansgar saß auf der Terrasse hinter dem Haus, direkt an der Gracht, trank Tee, arbeitete an seinem Grußwort, las und blinzelte von Zeit zu Zeit in die Sonne. Abends packte er seinen Koffer, denn er hatte vor, direkt im Anschluss an das dreistündige Gottesdienst-Ritual, bestehend aus Kirchenbesuch, Kirchkaffee und Einladung zum Abschieds-Mittagessen im Pfarrhaus, nach Hause zu fahren. Er ging früh schlafen und verhängte das Fenster mit einem Duschtuch, weil ihn das Licht der Straßenlaterne störte.
Als er sich am Sonntag Morgen noch einen Spaziergang gönnte, um den Kopf vor dem Gottesdienst frei zu bekommen, begegneten ihm äußerst traditionell herausgeputzte Gestalten, die ebenfalls zum Gottesdienst unterwegs waren, von denen ihm jedoch in der vorangegangenen Woche niemand begegnet war. Zum Teil waren sie in so etwas Ähnliches wie historische Trachten gekleidet und fuhren mit ernsten Gesichtern in Pferdekutschen vor, so dass Ansgar sich an die in Nordamerika niedergelassenen Amish erinnert fühlte. Vermutlich waren das die Fundamentalisten, die sich von den Reformierten abgespalten hatten. Ihre Gesichter erschienen ihm verbittert, beinahe zornig.
Er suchte schließlich die Kirche auf, besprach sich in der Sakristei mit dem Pfarrer und den Lektoren, sprach mit allen ein gemeinsames Gebet und betrat dann die gefüllte Kirche. Als er in die Gesichter der Gemeinde sah, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Hatte er ihre Augen in den ersten Tagen wie Röntgengeräte empfunden, die versuchten, seine Gedanken zu lesen, wirkten die Gesichter heute Morgen hart und kalt, wie zu Masken erstarrt. Er überbrachte nach der Eröffnung die Grußworte seiner Gemeinde, dann rauschte der Gottesdienst an ihm vorbei, nicht einmal die Predigt bekam er mit.
Als die Fürbitten an der Reihe waren, trat er mit dem Übersetzer ans Lesepult. Nach ein paar üblichen Bitten sprach er: „...und wir bitten dich, Herr, für die Seele des jungen Mannes, der dem Unglück in der Mühle zum Opfer gefallen ist, nimm seine Seele auf und schenke ihm Frieden. Ganz besonders aber bitten wir dich, jene zu trösten und in ihrer Trauer nicht verzweifeln zu lassen, die der Verlust persönlich getroffen hat: seine Angehörigen, seine Freunde und alle, die ihn lieben. Amen.“
Niemand senkte den Blick, kein trauriges Auge war zu sehen, statt dessen Entschlossenheit, klare, graue Augenpaare richteten sich stur geradeaus, ein paar große, braune Augen starrten geradezu zufrieden. Ansgar stellten sich die Nackenhaare auf. Was war nur los mit den Leuten hier? Er wollte es lieber gar nicht wissen. Beim Kirchcafé schienen ihm die Gemeindeglieder eher aus dem Weg zu gehen, doch das war ihm nur recht. Als sein Mentor ihn beim Mittagessen um seine Meinung zur Predigt fragte, entschuldigte er sich für seine unzureichenden Sprachkenntnisse und seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit aufgrund der jüngsten Ereignisse.
Er bedankte sich in aller Form, verabschiedete sich höflich, holte seinen Koffer und verließ die Pieterstraat mit ihren schmalgiebeligen Fischerhäusern. Auf der Kreuzung von Pieterstraat und Kerkstraat wäre er beinahe in die Hinterlassenschaft der Kutschpferde getreten. Ob die Restauriert Reformierten sie wohl absichtlich dort defilieren lassen hatten? Die Symbolik stand der Eimer leerenden Fischerfrau an der Dorfmauer in nichts nach. Auf dem Weg zum Parkplatz hörte er ein letztes Mal die Carillons, sie spielten „Oh komm, du Geist der Wahrheit“.
„Ja, Komm.“, dachte er und stieg wie ein Flüchtender in sein Auto, dem die Fischerin noch wütend einen Eimer Scheiße hinterher warf. Als er dreieinhalb Stunden später wieder zu Hause ankam, war er mehr als erleichtert.
Goedereede war bereits in seiner Erinnerung verblasst wie ein verstörender Film, den man besser vergaß, da las er eines Morgens auf der Titelseite seiner Tageszeitung unter der Rubrik „Die schräge Meldung“ folgenden Text:
Rotterdam. In einem südholländischen Dorf nahe der Küste hat die Polizei einen brutalen Mord aufgeklärt. Ein junger Mann, der in die Zahnräder der Mechanik einer traditionellen Windmühle geraten und dabei gestorben war, war das Opfer eines Mordanschlages. Der Täter war der Vater eines Mädchens, das der Reformierten Kirche angehörte, das Opfer war Mitglied der streng gläubigeren Separatisten, der Restauriert Reformierten Kirche.
Da die beiden jungen Menschen sich ineinander verliebt hatten, schmiedeten sie Heiratspläne. Dies wollte der Vater des Mädchens um jeden Preis verhindern. Doch die Tochter strafte ihn doppelt für seine Gräueltat. Sie konvertierte zur Restauriert Reformierten Kirche und stürzte sich dann vom Turm der Reformierten Kirche. In einem Abschiedsbrief bat sie darum, neben ihrem Verlobten beigesetzt zu werden. Der Vater stellte sich nach dem Freitod der Tochter der Polizei. Romeo und Julia auf dem Dorfe.
ENDE Schluss I


GOEDEREEDE – EIN KURZKRIMI ZM WEITERSPINNEN – SCHLUSS II – FREI NACH HELENE TISCHER UND BIRGIT DIE STARKE
Nachdem er sich in der Mühle gebührend lange aufgehalten und seine gähnende Langeweile erfolgreich verborgen hatte, ging er wieder nach draußen und betrachtete ein letztes Mal die Schlacht der Farben auf den Mühlenflügeln. Trotz der Akzente in grellem Gelb, leuchtendem Rot und schillerndem Blau dominierten Erdtöne, vor allem rötliche. Eine entsetzliche Geschmacklosigkeit, befand er und machte sich auf den Weg zum Marktplatz, wo verschiedene Gruppen Live-Musik zum Besten gaben. Er setzte sich in die Gaststätte, die Biere eines regionalen Brauhauses anbot und bestellte sich ein Sandwich dazu, was sich allerdings als vollwertige Mahlzeit entpuppte, war es doch von epischer Breite, umfangreich belegt und dreistöckig. Dazu gab es frische Pommes Frites, schließlich war er in Holland. Vor der Bühne beobachtete er einen exzentrischen Tänzer, in dem er den „Harry“ erkannte, der das Aquarell in seiner Wohnung aufgestellt hatte. Er trug betont extravagante Kleidung und wirkte auf Ansgar wie das fleischgewordene Klischee eines Bohemiens. Er war sichtlich betrunken, doch war es wohl nicht nur seinem erhöhten Alkoholspiegel sondern auch seinem ausgeprägten Exhibitionismus geschuldet, dass er sich derartig extrovertiert vor der Bühne gebärdete. Ansgar beeilte sich, sein sogenanntes Sandwich zu verdrücken und machte sich auf den Heimweg.
Am Samstag Vormittag erhielt er einen kurzen Besuch des Pfarrers. „Könnten Sie bitte am Sonntag in Ihr Fürbittengebet eine junge Frau einschließen, die seit einigen Tagen vermisst wird?“, bat ihn sein künftiger Kollege. „Sie heißt Anneke van Maas und war bis vor einem Jahr Mitglied unserer Gemeinde. Sie hat sich dann der Herstelde Hervormde Kerk angeschlossen und war gar nicht mehr in unserer Gemeinde präsent. Nun ist sie spurlos verschwunden. Wir vermissen Sie bereits seit über zwei Wochen.“
Ansgar tat, wie ihm geheißen, arbeitete Fürbitten und Grußworte seiner deutschen Gemeinde aus und machte sich nach der Mittagsruhe auf den Weg, um etwas von den ausgestellten Bildern mitzubekommen, wenn er auch für eine Führung zu spät dran war. Viele interessante Leute waren im Ort unterwegs, nicht nur die Künstler, die den Interessierten an diesem Tag Rede und Antwort standen, hoben sich äußerlich von der Norm ab; am schrillsten waren die kunstbeflissenen Lebenskünstler, die sich vom bunten Fest durch die Straßen treiben ließen.
Schließlich betrat Ansgar die Galerie des Initiators der Kunsttage und wie sich herausstellte, handelte es sich um Harry.
„Hi!“, rief er. „Der Pasteur von Duitsland will auch mal gucken. Suchen Sie etwas für Ihre Kirche oder für Ihr Wohnzimmer?“
Ansgar lächelte verlegen. „Weder noch.“, gab er ehrlich zu. „Ich wollte mich nur umsehen. Aber man kann ja nie wissen, vielleicht finde ich am Ende doch etwas, dass sowohl mir als auch meinem schmalen Geldbeutel so sehr gefällt, dass ich es einfach nicht hier lassen kann.“
Harry schlug ihm anerkennend auf die Schulter und lachte schallend. „So ist es gut.“, sagte er. „Die Kirche hat die Kunst schon immer unterstützt, wenn auch oft schamlos ausgebeutet.“
„Ich habe nicht die Absicht, Sie auszubeuten.“, erwiderte Ansgar sauertöpfisch.
„Nee, nee.“, erklärte Harry versöhnlich. „das waren ja auch die Katholiken. Die Protestanten machen so etwas nicht, die verzichten lieber ganz auf Bilder.“
„Das können Sie aber so nicht sagen.“
„Ich kann alles sagen.“, erwiderte Harry, „und zwar ganz genau so wie ich will, egal ob mit Worten, Farben oder Materialien. Ich habe die Macht, alles zu nutzen, was die Erde hergibt, um mich auszudrücken. Und wenn Gott das nicht passt, soll er doch meckern. Ich mache trotzdem, was ich will und er kann mich nicht daran hindern.“
„Eines Tages wird er das.“, erwiderte Ansgar und verließ eilig das offene Atelier. Dieser Harry entsprach nicht seinen Vorstellungen von einer lohnenden Bekanntschaft.
Der Gottesdienst am Sonntag Morgen war genauso steif und langweilig, wie Ansgar ihn eine Woche zuvor erlebt hatte. Doch beim Abschiedsessen im Pfarrhaus erzählte ihm die spröde Pfarrersfrau noch eine atemberaubende Geschichte: „Das Mädchen, für das Sie gebetet haben, also Anneke, die ist ja nicht einfach nur zu der anderen Kirche gewechselt. Dort hat sie eine Weile mitgemacht, weil sie sich von der Gemeinde mehr Zuspruch erhoffte, doch sie muss wohl tiefergehende Probleme gehabt haben. Vor etwa einem dreiviertel Jahr erlitt sie einen Zusammenbruch und bekam sofort einen Therapieplatz. Danach hat sie auch die Herstelde Hervormde Kerk verlassen und sich mit dem hiesigen Künstler Harry angefreundet. Ihre Eltern waren so unglücklich, aber sie konnten sie nicht davon abbringen, dem Maler Modell zu sitzen und zwar als Akt. Auf den Bildern ist allerdings weder ihr Körper noch ihr Gesicht zu erkennen, um nicht zu sagen, man sieht überhaupt keinen Menschen, nur Gekleckse.“
Ansgar war froh, als er das malerische Dorf und seine seltsamen Bewohner endlich verlassen konnte, zumal die Fischersfrau an der Stadtmauer ihm zum Abschied noch einen Eimer Scheiße hinterher warf.
Zwei Wochen später sah er sich ein Kulturmagazin im Fernsehen an: Harry war über Nacht berühmt geworden mit den Action-Painting-Ergüssen, die an der Goedereeder Mühle gehangen hatten. Die vier Stoffbahnen nannten sich „Sympathie fort he Devil“.
Er schüttelte den Kopf, ging schlafen und hatte in der Nacht seltsame und bedrohliche Träume.
Als er am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug und in der Rubrik „Aus aller Welt“ schmökerte, verschlug es ihm den Atem. Dort stand:
„GRAUSIGER FUND IN SÜDHOLLAND
Rotterdam. Im südholländischen Dorf Goedereede hat ein Mörder alter Schule zugeschlagen. Am zentralen Müll-Sammelplatz hatte die Müllabfuhr einen großen Beutel stehen lassen, weil er nicht ordnungsgemäß entsorgt worden war. Es war nicht nachvollziehbar, wem der Müll gehörte und ein bestialischer Gestank rief die Behörden auf den Plan. In der Tüte befanden sich ein Fleischwolf und ein Entsafter, die völlig verschmutzt entsorgt worden waren. Sowohl am Fleischwolf, als auch am Entsafter klebten Fleischreste. Da sich am Fleischwolf etwas festgesetzt hatte, das Ähnlichkeit mit einem menschlichen Fingernagel hatte, ließen die Behörden das Material analysieren: Es war menschlich und ein DNA-Abgleich ergab eine hundertprozentige Übereinstimmung mit einer seit etwa einem Monat vermissten Person. Identität und Motive des Täters sind bis jetzt unklar.“
Augenblicklich erbrach sich Ansgar über der Zeitung. Er wusste schon, warum er noch nie außerordentliche Sympathien für den Teufel empfunden hatte. Angesichts solcher Perversionen erschien ihm das Kacken auf Leinwände geradezu poetisch. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Polizei.
ENDE SCHLUSS II

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Freitag, 26. August 2016
Goedereede – ein Kurz-Krimi zum Weiterspinnen – erster Teil
Als Ansgar, der im sechsten Semester Evangelische Theologie in Münster studierte, nicht mehr überhören konnte, dass sich nichts besser in der Vita eines Theologen machte, als ein Praktikum im Ausland, geriet er in arge Bedrängnis. Er war ein Mensch, der alles Fremde fürchtete, weshalb er als Westfale sein Studium an der kirchlichen Hochschule in Bethel begonnen hatte und erst zur zweiten Hälfte ins nicht ganz so entfernte Münster gewechselt hatte. Ihm graute vor einem Aufenthalt in England mit dem Linksverkehr, dem tot gekochten Essen, der allgegenwärtigen Armut und der schrägen Subkultur. Noch schlimmer wäre Rom gewesen: Das Herz des Katholizismus, Hitze, Staub und Urin in der sengenden, lärmenden Steinwüste, eine Sprache, von der er nicht ein Wort verstand und ein Volk, dass seines Wissens durch und durch sexualisiert war. Wie groß war seine Erleichterung, als sich die Möglichkeit eines achttägigen Praktikums in Südholland an der Grenze zu Zeeland ergab, etwa fünfzig Kilometer südwestlich von Rotterdam.
Holland war nicht so weit weg, die Sprache konnte man zumindest zur Hälfte verstehen und die kulturellen Unterschiede waren irrelevant, auf jeden Fall geringer als die zwischen Ostwestfalen und Bayern.
Es war die reformierte Gemeinde, die „Gereformeerde Kerk“ von Goedereede, die ihn erwartete. Für die Anfahrt hatte er sich ein Auto mit Navigationsgerät geliehen, da sich eine Anreise per öffentlichem Nahverkehr als zu kompliziert erwies.
Die Gemeinde hatte sogar eine Wohnung für ihn angemietet, ihn aber gleich darauf hingewiesen, dass er auf einem öffentlichen Parkplatz sein Auto abstellen müsse, da das Gässchen, in dem er wohne, für Autoverkehr zu schmal sei.
Nach etwa dreieinhalb Stunden Fahrt erreichte er das Dorf. Dort, wo die historische Bebauung begann, wurde der Besucher von der Skulptur einer Fischerfrau begrüßt, die einen Eimer leerte. Auf Ansgar wirkte es so, als würde sie die Eindringlinge fortjagen, indem sie den Inhalt des Nachttopfes über ihnen ausleerte. Aber es war ja nur eine Skulptur und der Anblick, der sich ihm nun bot, war wahrhaft pittoresk. Eine stillgelegte Gracht, an deren Mauern Fischernetze drapiert waren, jahrhundertealte, eng aneinander gebaute Häuser mit schmalen Fronten, spitzen Dächern, ein Giebel war schöner als der andere – im Schnee musste es aussehen wie das Bild auf einem Adventskalender. Am Geländer der kleinen Brücke, die über die Gracht führte, hing ein Banner mit der Aufschrift „Kunstdagen“. Vom haubenlosen Kirchturm, der früher als Leuchtfeuer-Plattform zur Orientierung der Seefahrer gedient hatte, klang ein helles Glockenspiel; Carillons, wie Ansgar vermutete. Irritiert war er nur, weil er das weltliche Stück „Der Entertainer“ zu erkennen glaubte.
Nur noch ein paar Schritte und er stand vor dem Haus in der Pieterstraat, in dem ihn schon ein Vertreter des Gemeinderates erwartete. Das Haus war schmaler als das Arbeitszimmer seines letzten Mentors, die Fassade war hellgrau gestrichen, die Fenster und die Haustür weiß und dunkelgrau abgesetzt. Vor vielen Häusern standen Bänke oder Bistro-Tischchen mit Stühlen, die zum Verweilen einluden. Direkt gegenüber befand sich dankenswerterweise ein traditionelles Bäckerei-Geschäft und auch bis zur Kirche waren es nur ein paar Schritte.
Zum Abendessen war er im Pfarrhaus eingeladen – eine einfache Brotmahlzeit mit Früchtetee. Der Pfarrer machte einen strengen und eingefahrenen Eindruck auf ihn, sprach jedoch hervorragend Deutsch, genau wie seine Frau, die zwar auf den ersten Blick einen ganz gewöhnlichen Eindruck auf ihn machte, lässig gekleidet und mit praktischer Kurzhaarfrisur, aber sich dann doch immerzu betont sittsam gebärdete wie ein schüchterner, altmodischer Backfisch. Der Abend war furchtbar anstrengend, denn er war noch müde von der vorangegangenen Woche und der Anreise. Nach den wegen der Höflichkeit erforderlichen zwei Stunden verabschiedete er sich und ging in seine vorübergehende Dienstwohnung.
Obwohl ein Mann der Kirche, fühlte er sich dennoch im Schlaf gestört von ständigen Glockenschlägen und er musste doch am nächsten Morgen pünktlich und ordentlich zum Gottesdienst erscheinen.
Wie eine wehrhafte Festung wirkte die Kirche, die von einer doppelten Mauer umgeben war. Als ganz besonders ungewöhnlich erwies sich die freie Fläche zwischen Turm und Hauptgebäude, was möglicherweise der Tatsache geschuldet war, dass der Turm nicht ans Westwerk sondern an die Apsis grenzte. Von innen wirkte die Kirche so grundanständig, schlicht und reizlos wie die Pfarrersfrau von außen. Schön waren lediglich die großen Fenster, durch die das Morgenlicht flutete wie eine paradiesische Dusche. Die Orgel hatte einen grandiosen Klang, aber der schmucklose Raum mit nur einem modernen, mehrteiligen Altarbild war vollgestopft mit klobigen Kirchenbänken aus Eichenimitat. Eine völlig überdimensionierte Kanzel schwebte direkt über dem Altar auf der Mittelachse und nicht, wie in seiner Heimat üblich, bescheiden an der Seite. Sicher hatte dies die theologische Bedeutung, das Wort in den Mittelpunkt des geistlichen Lebens zu stellen.
Der Pfarrer predigte mit einem gewaltigen Donner in der Stimme über die Taufe Jesu und als der niederländische Satz: „Jesus was van Johannes gedoopt“.“ über seine Lippen kam, konnte Ansgar sich nur noch unter größter Anstrengung ein Lachen verkneifen. Evangelium ungültig, Jesus war gedopt, Täter Johannes erhält Höchststrafe: Enthauptung; Betrüger Jesus ebenfalls: Kreuzigung. Ansgar biss sich weiterhin angestrengt auf die Lippen, denn niemand in diesen Reihen machte den Eindruck auf ihn, als wenn er Humor hätte.
Zum Mittagessen war er diesmal bei der Familie des Küsters eingeladen, der die Aufgabe wie in so vielen deutschen Gemeinden auch, überwiegend ehrenamtlich und nebenberuflich wahrnahm. Das Essen war etwas entspannter als im Pfarrhaus, weil es hier vor allem um niederschwellige und nicht theologische Themen ging.
Als er am Nachmittag im Ort und etwas außerhalb spazieren ging, wurde ihm aber klar, dass die Menschen, die eng mit der Gemeinde verbunden waren, sich deutlich von den anderen Bewohnern unterschieden, die ein ähnlich gemischtes Bild boten wie jedes deutsche Dorf an der Peripherie einer Großstadt.
Am Montag wurde er vom einen zum anderen gereicht, so dass er am Abend gar nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Am Dienstag Nachmittag hatte er zum ersten Mal das Gefühl, ein wenig hinter die Kulissen zu blicken, denn nach einem Tratsch, den er am Rande mitbekommen und zur Hälfte verstanden hatte, klärte Willem, ein Gemeinderatsmitglied ihn auf, dass es wieder Ärger mit der anderen protestantischen Gemeinde im Ort gegeben hatte, die sich von der Gerefomeerde Kerk abgespalten hatten, weil ihnen hier alles zu flatterhaft-liberal und nicht im Sinne des wahren Christentums war. Sie nannten sich Herstelde Hervormde Kerk, was soviel hieß wie Restauriert Reformierte Kirche. Ihr Gottesdienst- und Gemeinde-Zentrum war in einer alten Scheune untergebracht und nannte sich De Levensbronn – der Lebensbrunnen. Diese Bewegung hatte wohl die ganzen Niederlande vor gar nicht allzu langer Zeit überrollt und auch vor Goedereede nicht halt gemacht.
„Protestantse Taliban“, unkte Willem. Ansgar konnte sich gar nicht vorstellen, dass es tatsächlich heute noch evangelische Christen gab, denen diese calvinistisch-lustfeindlich anmutenden Protestanten nicht fromm genug waren.
Als er zu seiner vorübergehenden Dienstwohnung kam, blickte er konsterniert ins Wohnzimmerfenster: Ein überdimensionales Aquarell auf einer wuchtigen Holzstaffelei stand plötzlich zwischen Fenster und Esstisch. Es handelte sich um unspektakuläre Landschaftsmalerei wie aus einem VHS-Kurs, aber daneben lag ein Schild mit einer stolzen Preisvorstellung: 800 €. Stand er vor der falschen Tür oder war gar in die falsche Straße abgebogen? Wie zum Hohn klimperten die Carillons den Entertainer. Er drehte sich um, aber da war die Bäckerei, er war also richtig. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und stellte verblüfft fest, dass er nicht abgeschlossen hatte. Plötzlich stand ein langhaariger Weißbart vor ihm und grinste. „Hi“, sagte er. „Ik ben Harry. Bist du de Pasteur van Duitsland?“
Die wilde Mischung aus Englisch, Niederländisch, Deutsch und Französisch verwirrte Ansgar vollends.
„Ansgar Heidenreich. Ja, ich mache hier ein Gemeindepraktikum, aber Pastor bin ich noch nicht.“
„Ah, Student?“
„Ja, genau.“
Nun erwies sich Harry als des Deutschen ziemlich mächtig, denn er erklärte: „Ich hab nur das Bild gebracht, wegen die Kunstdagen. Bleibt eine Woche hier.“
„Ach so, ja gut, kein Problem.“
Harry verabschiedete sich, er müsse weiter, sagte er, noch mehr Bilder verteilen.
Der Abend war kühl, windig und regnerisch.Ansgar streifte einen dicken Wollpullover über und machte es sich in dem über dreihundert Jahre alten, frisch renovierten Häuschen gemütlich. Er begann sich schon an das ständige Schlagen der Turmuhr zu gewöhnen und schlief zum ersten Mal tief und fest.
Am Mittwoch bekam er eine Führung über zwei Friedhöfe auf der anderen Seite des stillgelegten Kanals: Es gab einen großen Gemeinde-Friedhof, auf dem sich auch das Grab eines kanadischen Soldaten sowie ein Gedenkstein für einen amerikanischen Soldaten befand, dessen sterbliche Überreste lange nach dem Krieg exhumiert und in die USA überführt worden waren. Außerdem gab es einen kleinen jüdischen Friedhof, der nur noch aus der mit Gras bewachsenen Fläche, auf der sich einmal unzählige Gräber befunden hatten, bestand. Umgeben war er von weißen Beton-Pfählen und nur der Torbogen mit einer hebräischen Inschrift sowie eine Gedenktafel mit Fotos vom Friedhof, auf dem noch die dicht gedrängten Grabsteine standen, erinnerten daran, dass es hier im Dorf einmal jüdisches Leben gegeben hatte, wenn auch ausgegrenzt und auf wenige Quadratmeter verbannt, wie überall in Europa.
Am Donnerstag wurde er zur Besichtigung des Turmmuseums eingeladen und durfte dem Künstler, der die Carillons von Hand bediente, beim Musizieren zusehen. Diesmal gab er ein Konzert von Barock bis Rock beziehungsweise von Bach bis zu den Beatles. Normalerweise, so erklärte er, würden die Glocken von einem Computerprogramm bedient, aber an vielen Samstagen und während der Kunsttage auch donnerstags, gab er ein Konzert. Er schlug mit Händen und Füßen auf die hölzernen Hebel ein in einer Geschwindigkeit, die Ansgar schier fassungslos machte.
Ganz oben auf der Plattform des Turms konnte man bis zum Meer blicken, sah die offene See, Rotterdam und das Binnenmeer, das zwischen Goeree und der nächsten ehemaligen Insel Flakee lag, die schon an Zeeland grenzte. Er machte auch das kleine, graue Haus in der Pieterstraat ausfindig und als er steil nach unten blickte, stellte er sich vor, wie es sich wohl anfühlen mochte, über die Brüstung zu springen, zwei Sekunden durch die Luft zu segeln und dann zersplitternd und zerberstend den Boden zu erreichen. Ob wohl schon einmal jemand gesprungen war?
Am Abend musste er zur Bibelstunde im Gemeindesaal eine Andacht halten. Er hatte etwas Unverfängliches gewählt, die Seligpreisungen. Das freute die Gemeinde ganz besonders, weil sie zur Zeit unter anderem zu diesem Text Textilbilder in Mosaik-Optik und Stepptechnik in der Kirche ausstellten. Ansgar fand, dass sie aussahen wie Tagesdecken Russland-deutscher Großmütter. Ein sprachbegabtes Gemeindeglied übersetzte die Andacht und gab auch gewissenhaft jeden Diskussionsbeitrag an Ansgar weiter.
Freitag und Samstag gab man ihm frei. Er sollte Zeit haben, ein Fürbittengebet und einen Gruß aus seiner Heimatgemeinde für den Gottesdienst am Sonntag vorzubereiten und auch einmal ans Meer zu kommen, sowie das Spektakel um die Kunsttage nicht zu verpassen, die ein örtlicher Galerist namens Harry jährlich organisierte.
Ansgar liebte das Meer nicht besonders, aber da man ihm extra ein Fahrrad zur Verfügung gestellt hatte, radelte er pflichtschuldig an den nächsten Strand, ging mit den Füßen ins Wasser und sammelte ein paar Muscheln zum Beweis, dass er dort gewesen war.
Er gönnte sich ein kleines, regionales Weißbier direkt am Marktplatz, wo heute Live-Musik spielte und machte dann nach Einbruch der Dunkelheit einen kurzen Gang zur Windmühle, deren Flügel mit künstlerisch gestaltetem Segeltuch bespannt waren und die sich zügig im Wind drehten. Das Bauwerk wurde beleuchtet, was die vermeintlichen Kunstwerke noch grotesker erscheinen ließ als bei Tageslicht. „Eine einzige Action-Painting-Orgie“, dachte Ansgar. „Demnächst kacken sie auf Tücher und sagen, es sei Kunst.“
Die Mühle war geöffnet und Ansgar trat ein. Man hörte das Knarren der uralten, hölzernen Zahnräder, die vom kräftigen Wind in Bewegung gebracht wurden. Auch hier standen ein paar Gemälde auf Staffeleien herum. In den Fenstern waren ihm heute einige interessante Tusche- und Bleistift-Zeichnungen aufgefallen, auch ein, zwei farbenprächtige, abstrakte Gemälde, die ihn angesprochen hatten, sowie bearbeitete Fotografien. Aber hier in der Mühle stand nur das gleiche Zeug herum, was in Deutschland ständig in Banken, Sparkassen und Seniorenheimen ausgestellt wurde.

UND HIER KOMMT IHR INS SPIEL: WAS WIRD PASSIEREN? ICH BIN GESPANNT AUF EURE WENDUNGEN. MEIN SCHLUSS KOMMT NÄCHSTE WOCHE.

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