Freitag, 2. September 2016
Goedereede – ein Kurz-Krimi zum Weiterspinnen – Schluss I
Die Mühle ratterte laut und ein wenig bedrohlich, obwohl das Zentrum des Getöses sich zwei Stockwerke über ihm befand – durch eine schmale Luke konnte man nach oben sehen. Einige Auserwählte durften sogar ins Allerheiligste unterm Dach der Mühle – Ansgar hatte nicht einmal Interesse, die erlaubte Treppe zu erklimmen – Mechanik hatte ihn noch nie interessiert.
Plötzlich rumpelte es im Gebälk. Die rhythmischen Bewegungen verlangsamten sich, spitze Schreie waren zu hören und schwarzes Blut tropfte durch die Luke auf den alten Holzboden, dessen trockene Poren die Flüssigkeit umgehend aufsaugten. Aufgeregte Menschen mit kreidebleichen Gesichtern stolperten die Treppe herunter und stürzten aus der Mühle. Es dauerte eine ganze Weile bis jemand in der Lage war, Ansgar zu erklären, was eigentlich passiert war: Aus bislang unbekannten Gründen war ein junger Mann ganz oben, wo es bekanntermaßen sehr gefährlich war und wo eigentlich niemand Unbefugtes hingehen durfte, von einem Zahnrad erfasst worden und in die Antriebswelle gezogen worden.
„Ist er sehr schwer verletzt?“, fragte Ansgar entsetzt, der das herab tropfende Blut bemerkt hatte.
„Er ist tot.“, erwiderte sein Auskunftgeber.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, statt dessen arbeitete er an einem Fürbittengebet, das er dem sprachbegabten Gemeindeglied morgen zur Übersetzung vorlegen wollte.
Das Kunstspektakel am Samstag wurde abgesagt. Überall im Ort war Polizei unterwegs und Ansgar wäre am liebsten direkt nach Hause gefahren. Anstelle eines weiteren Carillon-Konzertes spielte der Künstler geistliche Lieder zu Tod und Ewigkeit und das auch nur eine Viertelstunde.
Es war ein wunderbarer, sonniger Samstag, und Ansgar saß auf der Terrasse hinter dem Haus, direkt an der Gracht, trank Tee, arbeitete an seinem Grußwort, las und blinzelte von Zeit zu Zeit in die Sonne. Abends packte er seinen Koffer, denn er hatte vor, direkt im Anschluss an das dreistündige Gottesdienst-Ritual, bestehend aus Kirchenbesuch, Kirchkaffee und Einladung zum Abschieds-Mittagessen im Pfarrhaus, nach Hause zu fahren. Er ging früh schlafen und verhängte das Fenster mit einem Duschtuch, weil ihn das Licht der Straßenlaterne störte.
Als er sich am Sonntag Morgen noch einen Spaziergang gönnte, um den Kopf vor dem Gottesdienst frei zu bekommen, begegneten ihm äußerst traditionell herausgeputzte Gestalten, die ebenfalls zum Gottesdienst unterwegs waren, von denen ihm jedoch in der vorangegangenen Woche niemand begegnet war. Zum Teil waren sie in so etwas Ähnliches wie historische Trachten gekleidet und fuhren mit ernsten Gesichtern in Pferdekutschen vor, so dass Ansgar sich an die in Nordamerika niedergelassenen Amish erinnert fühlte. Vermutlich waren das die Fundamentalisten, die sich von den Reformierten abgespalten hatten. Ihre Gesichter erschienen ihm verbittert, beinahe zornig.
Er suchte schließlich die Kirche auf, besprach sich in der Sakristei mit dem Pfarrer und den Lektoren, sprach mit allen ein gemeinsames Gebet und betrat dann die gefüllte Kirche. Als er in die Gesichter der Gemeinde sah, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Hatte er ihre Augen in den ersten Tagen wie Röntgengeräte empfunden, die versuchten, seine Gedanken zu lesen, wirkten die Gesichter heute Morgen hart und kalt, wie zu Masken erstarrt. Er überbrachte nach der Eröffnung die Grußworte seiner Gemeinde, dann rauschte der Gottesdienst an ihm vorbei, nicht einmal die Predigt bekam er mit.
Als die Fürbitten an der Reihe waren, trat er mit dem Übersetzer ans Lesepult. Nach ein paar üblichen Bitten sprach er: „...und wir bitten dich, Herr, für die Seele des jungen Mannes, der dem Unglück in der Mühle zum Opfer gefallen ist, nimm seine Seele auf und schenke ihm Frieden. Ganz besonders aber bitten wir dich, jene zu trösten und in ihrer Trauer nicht verzweifeln zu lassen, die der Verlust persönlich getroffen hat: seine Angehörigen, seine Freunde und alle, die ihn lieben. Amen.“
Niemand senkte den Blick, kein trauriges Auge war zu sehen, statt dessen Entschlossenheit, klare, graue Augenpaare richteten sich stur geradeaus, ein paar große, braune Augen starrten geradezu zufrieden. Ansgar stellten sich die Nackenhaare auf. Was war nur los mit den Leuten hier? Er wollte es lieber gar nicht wissen. Beim Kirchcafé schienen ihm die Gemeindeglieder eher aus dem Weg zu gehen, doch das war ihm nur recht. Als sein Mentor ihn beim Mittagessen um seine Meinung zur Predigt fragte, entschuldigte er sich für seine unzureichenden Sprachkenntnisse und seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit aufgrund der jüngsten Ereignisse.
Er bedankte sich in aller Form, verabschiedete sich höflich, holte seinen Koffer und verließ die Pieterstraat mit ihren schmalgiebeligen Fischerhäusern. Auf der Kreuzung von Pieterstraat und Kerkstraat wäre er beinahe in die Hinterlassenschaft der Kutschpferde getreten. Ob die Restauriert Reformierten sie wohl absichtlich dort defilieren lassen hatten? Die Symbolik stand der Eimer leerenden Fischerfrau an der Dorfmauer in nichts nach. Auf dem Weg zum Parkplatz hörte er ein letztes Mal die Carillons, sie spielten „Oh komm, du Geist der Wahrheit“.
„Ja, Komm.“, dachte er und stieg wie ein Flüchtender in sein Auto, dem die Fischerin noch wütend einen Eimer Scheiße hinterher warf. Als er dreieinhalb Stunden später wieder zu Hause ankam, war er mehr als erleichtert.
Goedereede war bereits in seiner Erinnerung verblasst wie ein verstörender Film, den man besser vergaß, da las er eines Morgens auf der Titelseite seiner Tageszeitung unter der Rubrik „Die schräge Meldung“ folgenden Text:
Rotterdam. In einem südholländischen Dorf nahe der Küste hat die Polizei einen brutalen Mord aufgeklärt. Ein junger Mann, der in die Zahnräder der Mechanik einer traditionellen Windmühle geraten und dabei gestorben war, war das Opfer eines Mordanschlages. Der Täter war der Vater eines Mädchens, das der Reformierten Kirche angehörte, das Opfer war Mitglied der streng gläubigeren Separatisten, der Restauriert Reformierten Kirche.
Da die beiden jungen Menschen sich ineinander verliebt hatten, schmiedeten sie Heiratspläne. Dies wollte der Vater des Mädchens um jeden Preis verhindern. Doch die Tochter strafte ihn doppelt für seine Gräueltat. Sie konvertierte zur Restauriert Reformierten Kirche und stürzte sich dann vom Turm der Reformierten Kirche. In einem Abschiedsbrief bat sie darum, neben ihrem Verlobten beigesetzt zu werden. Der Vater stellte sich nach dem Freitod der Tochter der Polizei. Romeo und Julia auf dem Dorfe.
ENDE Schluss I


GOEDEREEDE – EIN KURZKRIMI ZM WEITERSPINNEN – SCHLUSS II – FREI NACH HELENE TISCHER UND BIRGIT DIE STARKE
Nachdem er sich in der Mühle gebührend lange aufgehalten und seine gähnende Langeweile erfolgreich verborgen hatte, ging er wieder nach draußen und betrachtete ein letztes Mal die Schlacht der Farben auf den Mühlenflügeln. Trotz der Akzente in grellem Gelb, leuchtendem Rot und schillerndem Blau dominierten Erdtöne, vor allem rötliche. Eine entsetzliche Geschmacklosigkeit, befand er und machte sich auf den Weg zum Marktplatz, wo verschiedene Gruppen Live-Musik zum Besten gaben. Er setzte sich in die Gaststätte, die Biere eines regionalen Brauhauses anbot und bestellte sich ein Sandwich dazu, was sich allerdings als vollwertige Mahlzeit entpuppte, war es doch von epischer Breite, umfangreich belegt und dreistöckig. Dazu gab es frische Pommes Frites, schließlich war er in Holland. Vor der Bühne beobachtete er einen exzentrischen Tänzer, in dem er den „Harry“ erkannte, der das Aquarell in seiner Wohnung aufgestellt hatte. Er trug betont extravagante Kleidung und wirkte auf Ansgar wie das fleischgewordene Klischee eines Bohemiens. Er war sichtlich betrunken, doch war es wohl nicht nur seinem erhöhten Alkoholspiegel sondern auch seinem ausgeprägten Exhibitionismus geschuldet, dass er sich derartig extrovertiert vor der Bühne gebärdete. Ansgar beeilte sich, sein sogenanntes Sandwich zu verdrücken und machte sich auf den Heimweg.
Am Samstag Vormittag erhielt er einen kurzen Besuch des Pfarrers. „Könnten Sie bitte am Sonntag in Ihr Fürbittengebet eine junge Frau einschließen, die seit einigen Tagen vermisst wird?“, bat ihn sein künftiger Kollege. „Sie heißt Anneke van Maas und war bis vor einem Jahr Mitglied unserer Gemeinde. Sie hat sich dann der Herstelde Hervormde Kerk angeschlossen und war gar nicht mehr in unserer Gemeinde präsent. Nun ist sie spurlos verschwunden. Wir vermissen Sie bereits seit über zwei Wochen.“
Ansgar tat, wie ihm geheißen, arbeitete Fürbitten und Grußworte seiner deutschen Gemeinde aus und machte sich nach der Mittagsruhe auf den Weg, um etwas von den ausgestellten Bildern mitzubekommen, wenn er auch für eine Führung zu spät dran war. Viele interessante Leute waren im Ort unterwegs, nicht nur die Künstler, die den Interessierten an diesem Tag Rede und Antwort standen, hoben sich äußerlich von der Norm ab; am schrillsten waren die kunstbeflissenen Lebenskünstler, die sich vom bunten Fest durch die Straßen treiben ließen.
Schließlich betrat Ansgar die Galerie des Initiators der Kunsttage und wie sich herausstellte, handelte es sich um Harry.
„Hi!“, rief er. „Der Pasteur von Duitsland will auch mal gucken. Suchen Sie etwas für Ihre Kirche oder für Ihr Wohnzimmer?“
Ansgar lächelte verlegen. „Weder noch.“, gab er ehrlich zu. „Ich wollte mich nur umsehen. Aber man kann ja nie wissen, vielleicht finde ich am Ende doch etwas, dass sowohl mir als auch meinem schmalen Geldbeutel so sehr gefällt, dass ich es einfach nicht hier lassen kann.“
Harry schlug ihm anerkennend auf die Schulter und lachte schallend. „So ist es gut.“, sagte er. „Die Kirche hat die Kunst schon immer unterstützt, wenn auch oft schamlos ausgebeutet.“
„Ich habe nicht die Absicht, Sie auszubeuten.“, erwiderte Ansgar sauertöpfisch.
„Nee, nee.“, erklärte Harry versöhnlich. „das waren ja auch die Katholiken. Die Protestanten machen so etwas nicht, die verzichten lieber ganz auf Bilder.“
„Das können Sie aber so nicht sagen.“
„Ich kann alles sagen.“, erwiderte Harry, „und zwar ganz genau so wie ich will, egal ob mit Worten, Farben oder Materialien. Ich habe die Macht, alles zu nutzen, was die Erde hergibt, um mich auszudrücken. Und wenn Gott das nicht passt, soll er doch meckern. Ich mache trotzdem, was ich will und er kann mich nicht daran hindern.“
„Eines Tages wird er das.“, erwiderte Ansgar und verließ eilig das offene Atelier. Dieser Harry entsprach nicht seinen Vorstellungen von einer lohnenden Bekanntschaft.
Der Gottesdienst am Sonntag Morgen war genauso steif und langweilig, wie Ansgar ihn eine Woche zuvor erlebt hatte. Doch beim Abschiedsessen im Pfarrhaus erzählte ihm die spröde Pfarrersfrau noch eine atemberaubende Geschichte: „Das Mädchen, für das Sie gebetet haben, also Anneke, die ist ja nicht einfach nur zu der anderen Kirche gewechselt. Dort hat sie eine Weile mitgemacht, weil sie sich von der Gemeinde mehr Zuspruch erhoffte, doch sie muss wohl tiefergehende Probleme gehabt haben. Vor etwa einem dreiviertel Jahr erlitt sie einen Zusammenbruch und bekam sofort einen Therapieplatz. Danach hat sie auch die Herstelde Hervormde Kerk verlassen und sich mit dem hiesigen Künstler Harry angefreundet. Ihre Eltern waren so unglücklich, aber sie konnten sie nicht davon abbringen, dem Maler Modell zu sitzen und zwar als Akt. Auf den Bildern ist allerdings weder ihr Körper noch ihr Gesicht zu erkennen, um nicht zu sagen, man sieht überhaupt keinen Menschen, nur Gekleckse.“
Ansgar war froh, als er das malerische Dorf und seine seltsamen Bewohner endlich verlassen konnte, zumal die Fischersfrau an der Stadtmauer ihm zum Abschied noch einen Eimer Scheiße hinterher warf.
Zwei Wochen später sah er sich ein Kulturmagazin im Fernsehen an: Harry war über Nacht berühmt geworden mit den Action-Painting-Ergüssen, die an der Goedereeder Mühle gehangen hatten. Die vier Stoffbahnen nannten sich „Sympathie fort he Devil“.
Er schüttelte den Kopf, ging schlafen und hatte in der Nacht seltsame und bedrohliche Träume.
Als er am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug und in der Rubrik „Aus aller Welt“ schmökerte, verschlug es ihm den Atem. Dort stand:
„GRAUSIGER FUND IN SÜDHOLLAND
Rotterdam. Im südholländischen Dorf Goedereede hat ein Mörder alter Schule zugeschlagen. Am zentralen Müll-Sammelplatz hatte die Müllabfuhr einen großen Beutel stehen lassen, weil er nicht ordnungsgemäß entsorgt worden war. Es war nicht nachvollziehbar, wem der Müll gehörte und ein bestialischer Gestank rief die Behörden auf den Plan. In der Tüte befanden sich ein Fleischwolf und ein Entsafter, die völlig verschmutzt entsorgt worden waren. Sowohl am Fleischwolf, als auch am Entsafter klebten Fleischreste. Da sich am Fleischwolf etwas festgesetzt hatte, das Ähnlichkeit mit einem menschlichen Fingernagel hatte, ließen die Behörden das Material analysieren: Es war menschlich und ein DNA-Abgleich ergab eine hundertprozentige Übereinstimmung mit einer seit etwa einem Monat vermissten Person. Identität und Motive des Täters sind bis jetzt unklar.“
Augenblicklich erbrach sich Ansgar über der Zeitung. Er wusste schon, warum er noch nie außerordentliche Sympathien für den Teufel empfunden hatte. Angesichts solcher Perversionen erschien ihm das Kacken auf Leinwände geradezu poetisch. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Polizei.
ENDE SCHLUSS II

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Freitag, 26. August 2016
Goedereede – ein Kurz-Krimi zum Weiterspinnen – erster Teil
Als Ansgar, der im sechsten Semester Evangelische Theologie in Münster studierte, nicht mehr überhören konnte, dass sich nichts besser in der Vita eines Theologen machte, als ein Praktikum im Ausland, geriet er in arge Bedrängnis. Er war ein Mensch, der alles Fremde fürchtete, weshalb er als Westfale sein Studium an der kirchlichen Hochschule in Bethel begonnen hatte und erst zur zweiten Hälfte ins nicht ganz so entfernte Münster gewechselt hatte. Ihm graute vor einem Aufenthalt in England mit dem Linksverkehr, dem tot gekochten Essen, der allgegenwärtigen Armut und der schrägen Subkultur. Noch schlimmer wäre Rom gewesen: Das Herz des Katholizismus, Hitze, Staub und Urin in der sengenden, lärmenden Steinwüste, eine Sprache, von der er nicht ein Wort verstand und ein Volk, dass seines Wissens durch und durch sexualisiert war. Wie groß war seine Erleichterung, als sich die Möglichkeit eines achttägigen Praktikums in Südholland an der Grenze zu Zeeland ergab, etwa fünfzig Kilometer südwestlich von Rotterdam.
Holland war nicht so weit weg, die Sprache konnte man zumindest zur Hälfte verstehen und die kulturellen Unterschiede waren irrelevant, auf jeden Fall geringer als die zwischen Ostwestfalen und Bayern.
Es war die reformierte Gemeinde, die „Gereformeerde Kerk“ von Goedereede, die ihn erwartete. Für die Anfahrt hatte er sich ein Auto mit Navigationsgerät geliehen, da sich eine Anreise per öffentlichem Nahverkehr als zu kompliziert erwies.
Die Gemeinde hatte sogar eine Wohnung für ihn angemietet, ihn aber gleich darauf hingewiesen, dass er auf einem öffentlichen Parkplatz sein Auto abstellen müsse, da das Gässchen, in dem er wohne, für Autoverkehr zu schmal sei.
Nach etwa dreieinhalb Stunden Fahrt erreichte er das Dorf. Dort, wo die historische Bebauung begann, wurde der Besucher von der Skulptur einer Fischerfrau begrüßt, die einen Eimer leerte. Auf Ansgar wirkte es so, als würde sie die Eindringlinge fortjagen, indem sie den Inhalt des Nachttopfes über ihnen ausleerte. Aber es war ja nur eine Skulptur und der Anblick, der sich ihm nun bot, war wahrhaft pittoresk. Eine stillgelegte Gracht, an deren Mauern Fischernetze drapiert waren, jahrhundertealte, eng aneinander gebaute Häuser mit schmalen Fronten, spitzen Dächern, ein Giebel war schöner als der andere – im Schnee musste es aussehen wie das Bild auf einem Adventskalender. Am Geländer der kleinen Brücke, die über die Gracht führte, hing ein Banner mit der Aufschrift „Kunstdagen“. Vom haubenlosen Kirchturm, der früher als Leuchtfeuer-Plattform zur Orientierung der Seefahrer gedient hatte, klang ein helles Glockenspiel; Carillons, wie Ansgar vermutete. Irritiert war er nur, weil er das weltliche Stück „Der Entertainer“ zu erkennen glaubte.
Nur noch ein paar Schritte und er stand vor dem Haus in der Pieterstraat, in dem ihn schon ein Vertreter des Gemeinderates erwartete. Das Haus war schmaler als das Arbeitszimmer seines letzten Mentors, die Fassade war hellgrau gestrichen, die Fenster und die Haustür weiß und dunkelgrau abgesetzt. Vor vielen Häusern standen Bänke oder Bistro-Tischchen mit Stühlen, die zum Verweilen einluden. Direkt gegenüber befand sich dankenswerterweise ein traditionelles Bäckerei-Geschäft und auch bis zur Kirche waren es nur ein paar Schritte.
Zum Abendessen war er im Pfarrhaus eingeladen – eine einfache Brotmahlzeit mit Früchtetee. Der Pfarrer machte einen strengen und eingefahrenen Eindruck auf ihn, sprach jedoch hervorragend Deutsch, genau wie seine Frau, die zwar auf den ersten Blick einen ganz gewöhnlichen Eindruck auf ihn machte, lässig gekleidet und mit praktischer Kurzhaarfrisur, aber sich dann doch immerzu betont sittsam gebärdete wie ein schüchterner, altmodischer Backfisch. Der Abend war furchtbar anstrengend, denn er war noch müde von der vorangegangenen Woche und der Anreise. Nach den wegen der Höflichkeit erforderlichen zwei Stunden verabschiedete er sich und ging in seine vorübergehende Dienstwohnung.
Obwohl ein Mann der Kirche, fühlte er sich dennoch im Schlaf gestört von ständigen Glockenschlägen und er musste doch am nächsten Morgen pünktlich und ordentlich zum Gottesdienst erscheinen.
Wie eine wehrhafte Festung wirkte die Kirche, die von einer doppelten Mauer umgeben war. Als ganz besonders ungewöhnlich erwies sich die freie Fläche zwischen Turm und Hauptgebäude, was möglicherweise der Tatsache geschuldet war, dass der Turm nicht ans Westwerk sondern an die Apsis grenzte. Von innen wirkte die Kirche so grundanständig, schlicht und reizlos wie die Pfarrersfrau von außen. Schön waren lediglich die großen Fenster, durch die das Morgenlicht flutete wie eine paradiesische Dusche. Die Orgel hatte einen grandiosen Klang, aber der schmucklose Raum mit nur einem modernen, mehrteiligen Altarbild war vollgestopft mit klobigen Kirchenbänken aus Eichenimitat. Eine völlig überdimensionierte Kanzel schwebte direkt über dem Altar auf der Mittelachse und nicht, wie in seiner Heimat üblich, bescheiden an der Seite. Sicher hatte dies die theologische Bedeutung, das Wort in den Mittelpunkt des geistlichen Lebens zu stellen.
Der Pfarrer predigte mit einem gewaltigen Donner in der Stimme über die Taufe Jesu und als der niederländische Satz: „Jesus was van Johannes gedoopt“.“ über seine Lippen kam, konnte Ansgar sich nur noch unter größter Anstrengung ein Lachen verkneifen. Evangelium ungültig, Jesus war gedopt, Täter Johannes erhält Höchststrafe: Enthauptung; Betrüger Jesus ebenfalls: Kreuzigung. Ansgar biss sich weiterhin angestrengt auf die Lippen, denn niemand in diesen Reihen machte den Eindruck auf ihn, als wenn er Humor hätte.
Zum Mittagessen war er diesmal bei der Familie des Küsters eingeladen, der die Aufgabe wie in so vielen deutschen Gemeinden auch, überwiegend ehrenamtlich und nebenberuflich wahrnahm. Das Essen war etwas entspannter als im Pfarrhaus, weil es hier vor allem um niederschwellige und nicht theologische Themen ging.
Als er am Nachmittag im Ort und etwas außerhalb spazieren ging, wurde ihm aber klar, dass die Menschen, die eng mit der Gemeinde verbunden waren, sich deutlich von den anderen Bewohnern unterschieden, die ein ähnlich gemischtes Bild boten wie jedes deutsche Dorf an der Peripherie einer Großstadt.
Am Montag wurde er vom einen zum anderen gereicht, so dass er am Abend gar nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Am Dienstag Nachmittag hatte er zum ersten Mal das Gefühl, ein wenig hinter die Kulissen zu blicken, denn nach einem Tratsch, den er am Rande mitbekommen und zur Hälfte verstanden hatte, klärte Willem, ein Gemeinderatsmitglied ihn auf, dass es wieder Ärger mit der anderen protestantischen Gemeinde im Ort gegeben hatte, die sich von der Gerefomeerde Kerk abgespalten hatten, weil ihnen hier alles zu flatterhaft-liberal und nicht im Sinne des wahren Christentums war. Sie nannten sich Herstelde Hervormde Kerk, was soviel hieß wie Restauriert Reformierte Kirche. Ihr Gottesdienst- und Gemeinde-Zentrum war in einer alten Scheune untergebracht und nannte sich De Levensbronn – der Lebensbrunnen. Diese Bewegung hatte wohl die ganzen Niederlande vor gar nicht allzu langer Zeit überrollt und auch vor Goedereede nicht halt gemacht.
„Protestantse Taliban“, unkte Willem. Ansgar konnte sich gar nicht vorstellen, dass es tatsächlich heute noch evangelische Christen gab, denen diese calvinistisch-lustfeindlich anmutenden Protestanten nicht fromm genug waren.
Als er zu seiner vorübergehenden Dienstwohnung kam, blickte er konsterniert ins Wohnzimmerfenster: Ein überdimensionales Aquarell auf einer wuchtigen Holzstaffelei stand plötzlich zwischen Fenster und Esstisch. Es handelte sich um unspektakuläre Landschaftsmalerei wie aus einem VHS-Kurs, aber daneben lag ein Schild mit einer stolzen Preisvorstellung: 800 €. Stand er vor der falschen Tür oder war gar in die falsche Straße abgebogen? Wie zum Hohn klimperten die Carillons den Entertainer. Er drehte sich um, aber da war die Bäckerei, er war also richtig. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und stellte verblüfft fest, dass er nicht abgeschlossen hatte. Plötzlich stand ein langhaariger Weißbart vor ihm und grinste. „Hi“, sagte er. „Ik ben Harry. Bist du de Pasteur van Duitsland?“
Die wilde Mischung aus Englisch, Niederländisch, Deutsch und Französisch verwirrte Ansgar vollends.
„Ansgar Heidenreich. Ja, ich mache hier ein Gemeindepraktikum, aber Pastor bin ich noch nicht.“
„Ah, Student?“
„Ja, genau.“
Nun erwies sich Harry als des Deutschen ziemlich mächtig, denn er erklärte: „Ich hab nur das Bild gebracht, wegen die Kunstdagen. Bleibt eine Woche hier.“
„Ach so, ja gut, kein Problem.“
Harry verabschiedete sich, er müsse weiter, sagte er, noch mehr Bilder verteilen.
Der Abend war kühl, windig und regnerisch.Ansgar streifte einen dicken Wollpullover über und machte es sich in dem über dreihundert Jahre alten, frisch renovierten Häuschen gemütlich. Er begann sich schon an das ständige Schlagen der Turmuhr zu gewöhnen und schlief zum ersten Mal tief und fest.
Am Mittwoch bekam er eine Führung über zwei Friedhöfe auf der anderen Seite des stillgelegten Kanals: Es gab einen großen Gemeinde-Friedhof, auf dem sich auch das Grab eines kanadischen Soldaten sowie ein Gedenkstein für einen amerikanischen Soldaten befand, dessen sterbliche Überreste lange nach dem Krieg exhumiert und in die USA überführt worden waren. Außerdem gab es einen kleinen jüdischen Friedhof, der nur noch aus der mit Gras bewachsenen Fläche, auf der sich einmal unzählige Gräber befunden hatten, bestand. Umgeben war er von weißen Beton-Pfählen und nur der Torbogen mit einer hebräischen Inschrift sowie eine Gedenktafel mit Fotos vom Friedhof, auf dem noch die dicht gedrängten Grabsteine standen, erinnerten daran, dass es hier im Dorf einmal jüdisches Leben gegeben hatte, wenn auch ausgegrenzt und auf wenige Quadratmeter verbannt, wie überall in Europa.
Am Donnerstag wurde er zur Besichtigung des Turmmuseums eingeladen und durfte dem Künstler, der die Carillons von Hand bediente, beim Musizieren zusehen. Diesmal gab er ein Konzert von Barock bis Rock beziehungsweise von Bach bis zu den Beatles. Normalerweise, so erklärte er, würden die Glocken von einem Computerprogramm bedient, aber an vielen Samstagen und während der Kunsttage auch donnerstags, gab er ein Konzert. Er schlug mit Händen und Füßen auf die hölzernen Hebel ein in einer Geschwindigkeit, die Ansgar schier fassungslos machte.
Ganz oben auf der Plattform des Turms konnte man bis zum Meer blicken, sah die offene See, Rotterdam und das Binnenmeer, das zwischen Goeree und der nächsten ehemaligen Insel Flakee lag, die schon an Zeeland grenzte. Er machte auch das kleine, graue Haus in der Pieterstraat ausfindig und als er steil nach unten blickte, stellte er sich vor, wie es sich wohl anfühlen mochte, über die Brüstung zu springen, zwei Sekunden durch die Luft zu segeln und dann zersplitternd und zerberstend den Boden zu erreichen. Ob wohl schon einmal jemand gesprungen war?
Am Abend musste er zur Bibelstunde im Gemeindesaal eine Andacht halten. Er hatte etwas Unverfängliches gewählt, die Seligpreisungen. Das freute die Gemeinde ganz besonders, weil sie zur Zeit unter anderem zu diesem Text Textilbilder in Mosaik-Optik und Stepptechnik in der Kirche ausstellten. Ansgar fand, dass sie aussahen wie Tagesdecken Russland-deutscher Großmütter. Ein sprachbegabtes Gemeindeglied übersetzte die Andacht und gab auch gewissenhaft jeden Diskussionsbeitrag an Ansgar weiter.
Freitag und Samstag gab man ihm frei. Er sollte Zeit haben, ein Fürbittengebet und einen Gruß aus seiner Heimatgemeinde für den Gottesdienst am Sonntag vorzubereiten und auch einmal ans Meer zu kommen, sowie das Spektakel um die Kunsttage nicht zu verpassen, die ein örtlicher Galerist namens Harry jährlich organisierte.
Ansgar liebte das Meer nicht besonders, aber da man ihm extra ein Fahrrad zur Verfügung gestellt hatte, radelte er pflichtschuldig an den nächsten Strand, ging mit den Füßen ins Wasser und sammelte ein paar Muscheln zum Beweis, dass er dort gewesen war.
Er gönnte sich ein kleines, regionales Weißbier direkt am Marktplatz, wo heute Live-Musik spielte und machte dann nach Einbruch der Dunkelheit einen kurzen Gang zur Windmühle, deren Flügel mit künstlerisch gestaltetem Segeltuch bespannt waren und die sich zügig im Wind drehten. Das Bauwerk wurde beleuchtet, was die vermeintlichen Kunstwerke noch grotesker erscheinen ließ als bei Tageslicht. „Eine einzige Action-Painting-Orgie“, dachte Ansgar. „Demnächst kacken sie auf Tücher und sagen, es sei Kunst.“
Die Mühle war geöffnet und Ansgar trat ein. Man hörte das Knarren der uralten, hölzernen Zahnräder, die vom kräftigen Wind in Bewegung gebracht wurden. Auch hier standen ein paar Gemälde auf Staffeleien herum. In den Fenstern waren ihm heute einige interessante Tusche- und Bleistift-Zeichnungen aufgefallen, auch ein, zwei farbenprächtige, abstrakte Gemälde, die ihn angesprochen hatten, sowie bearbeitete Fotografien. Aber hier in der Mühle stand nur das gleiche Zeug herum, was in Deutschland ständig in Banken, Sparkassen und Seniorenheimen ausgestellt wurde.

UND HIER KOMMT IHR INS SPIEL: WAS WIRD PASSIEREN? ICH BIN GESPANNT AUF EURE WENDUNGEN. MEIN SCHLUSS KOMMT NÄCHSTE WOCHE.

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Donnerstag, 18. August 2016
TEN SING-Seifenoper – fast abgeschlossener Kurzkrimi, Auflösung
„Mimen Sie jetzt den weiblichen Hercule Poirot?“, fragte Keller seine junge Kollegin.
„Vielleicht.“, erwiderte sie grinsend und warf keck ihre blonde Lockenmähne nach hinten. „Warten Sie's ab. Ich werde jetzt noch einmal mit Jennifer Pieper sprechen.“
„Welche war das noch mal?“
„Diejenige, die über eine noch üppigere Lockenpracht verfügt als ich.“
„Ach, der barocke Rauschgoldengel. Na, da bin ich aber mal gespannt. Ich hole sie rein.“
Jennifer saß der jungen Polizistin direkt gegenüber, während Keller sie still von der Seite beobachtete.
„Also Jennifer“, sprach Kerkenbrock sie an. Erzähl uns doch bitte noch einmal haarklein, wann und wo du in der Pause gewesen bist.“
„Ich war zuerst kurz in der Garderobe und habe mein Theater-Kostüm abgelegt, weil ich vor der nächsten Szene ein Solo gesungen hätte, zu dem das Kostüm nicht passt.“
„War Aileen zu diesem Zeitpunkt auch in der Garderobe?“
„Ja, sie musste sogar das Make-up wechseln, sie war auch noch da, als ich schon wieder ging.“
„Und wann war das genau?“
„Keine Ahnung, vielleicht nach fünf Minuten.“
„War außer Dir und Aileen noch jemand im Klassenraum?“
„Ja, klar, mehrere sogar.“
„Wer zum Beispiel?“
„Polly, Leonie, Leon und Damian, glaube ich.“
„Und was hast du dann getan?“
„Ich hab' mit den anderen auf dem Schulhof abgehangen und bin dann kurz bevor es weiterging noch aufs Klo gegangen.“
„Wie lange bevor es weiterging?“
„Keine Ahnung, so fünf oder zehn Minuten. Jedenfalls war ich rechtzeitig wieder auf der Bühne.“
„Kann jemand deinen Toilettengang bezeugen?“
„Nein, da war niemand.“
„Jennifer, welches sind deine Sachen?“
Jennifer wurde unruhig und wies auf einen Tisch in der äußersten Ecke des Raums. Kerkenbrock stand auf und holte einen weiß-himmelblau geblümten Segeltuch-Rucksack zu ihnen an den Tisch, den sie vor Jennifer aufbaute.
„Ist das hier deiner?“
„Ja.“, hauchte Jennifer mit großen, runden Augen.
„Würdest du ihn bitte für uns auspacken?“
„Warum?“
„Weil ich es sage.“
„Eingeschüchtert durch den bestimmten Tonfall der Beamtin begann das Mädchen ein Teil nach dem anderen ihrem Rucksack zu entnehmen: eine Trinkflasche, einen Schal, ein Portemonnaie, eine Packung Kaugummi, Papiertaschentücher, ein Schlüsselbund, einen halb vollen Flachmann mit Korn und ein Schnapsglas.“
„Wozu der Schnaps?“, fragte Kerkenbrock.
„Als Glücksbringer.“, erklärte Jennifer. „Bei der Generalprobe muss jeder einen nehmen.“
„Du auch?“
„Klar.“
„Dann macht es dir sicher nichts aus, noch einen zu trinken.“
„Ich mag eigentlich keinen Schnaps.“
„Na, einen halben wirst du jawohl noch verdrücken können.“
„Aber dann werde ich betrunken.“
„Das glaube ich nicht.“
„Doch, ich werde ganz leicht betrunken!“
Jennifer konnte ihre Aufregung nun überhaupt nicht mehr verbergen. Sie atmete flach und ihre zarten Porzellan-Wangen röteten sich wie ein Sonnenaufgang bei Frühnebel. Keller sah sogar, wie ihre Locken zitterten.
„Du würdest nicht betrunken werden.“, erklärte Kerkenbrock. „Du würdest sterben. Habe ich recht?“
„Wieso sterben?“, stammelte Jennifer hilflos.
„Weil die Flüssigkeit in der Schnapsflasche kein Korn ist, sondern Seifenstein, eine chemische Substanz, die man zum Seife Kochen verwendet.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“
„Weil das die Substanz ist, mit der Aileen vergiftet wurde. Wir werden dein Fläschchen im Labor untersuchen und meine Vermutung wird sich bestätigen. Welchen Teil der Show wolltest du dir mit Aileens Tod zurückerobern? War es eine Theaterrolle?“
„Was? Wie? Nein, so ein Quatsch. Ich bin die Theaterleitung und spiele außerdem die Hauptrolle!“
„War es dann vielleicht ein Solo?“
„Ich singe auch ein Solo!“
„Welches Solo hätte Aileen denn gesungen?“
„ „Diamonds“ von Rihanna. Aber sie machte das nicht besonders gut.“
„Hättest du es besser hinbekommen?“
„Allerdings! Aileen hat das Solo nur gekriegt, weil sie immer alle anbaggert und so aussieht wie die Frauen auf den Zeitschriften. Ihre Stimme ist nicht schlecht, aber sie passt überhaupt nicht zu diesem Song. Ich hatte mich zuerst auf das Lied beworben und auch viel besser und sicherer gesungen, das hat Ariane auch gesagt, aber die Mehrheit war mal wieder für Aileen. Die hat überall mitgemischt und immer die erste Geige gespielt.“
„Wie hast du es gemacht?“, fragte Kerkenbrock unvermittelt.
„Was gemacht?“
„Na, Aileen den Seifenstein als Schnaps untergejubelt, ohne dass die anderen etwas davon mitbekamen und ohne selber mitzutrinken?“
„Das war einfach.“, gab Jennifer plötzlich zu, nachdem sie endlich erkannt hatte, dass sie ohnehin entlarvt war. Da wollte sie sich lieber gleich alles von der Seele reden.
„Ich habe den anderen gesagt, dass ich aufs Klo gehe und bin in die Garderobe, meinen Rucksack hatte ich die ganze Zeit dabei, und bevor ich den Raum betreten habe, hab' ich das Schnapsglas rausgeholt und ein bisschen was reingetröpfelt, damit es benutzt aussah. Dann bin ich auf sie zu und habe gesagt: 'Los, Aileen, alle haben schon den Good-Luck-Schluck genommen, nur du fehlst noch.' und hab' ihr einen eingeschenkt. Sie hat gefragt, was das ist und ich hab 'Korn' gesagt, dann wollte sie wissen, ob Ariane das wüsste, und ich hab' gesagt, dass wir es vor der natürlich geheim halten müssten. Als sie fragte, wie der Schnaps schmeckt, hab' ich gesagt, eklig, am besten, man schluckt ihn ganz schnell runter. Das hat sie dann auch gemacht, und dann kriegte sie plötzlich keine Luft mehr, hat geröchelt, gesabbert und ist umgefallen. Ich dachte, ihr würde nur schlecht davon, dann wäre sie morgen krank gewesen, und andere hätten auch mal eine Cance gehabt, zu zeigen, was sie können. Ich wusste ja nicht, dass sie davon stirbt.“
„Doch, Jennifer, das wusstest du ganz sicher.“, erwiderte Kerkenbrock eiskalt. Sie ließen die Täterin festnehmen und ins Polizeipräsidium bringen. Als sie einen Augenblick allein waren, fragte Keller seine junge Kollegin: „Jetzt sagen Sie mal, Kerkenbrock, wie sind Sie dem Satansbraten auf die Schliche gekommen? Und was macht Sie so sicher, dass sie in voller Tötungsabsicht gehandelt hat?“
„Dass sie ein Motiv hatte, ist mir sofort aufgefallen.“, erwiderte Kerkenbrock. „Da war sie natürlich nicht die Einzige, aber schon eine, der man ansieht, dass unter der Kruste aus Zuckerguss ein Vulkan aus Hass und Missgunst brodelt. Als dann Konstanze die Theorie mit dem Seifenstein ausbreitete, fiel mir wieder ein, woher ich das Mädchen kenne. Ihre Großmutter verkauft handgesiedete Seifen auf dem Siggi. Manchmal steht sie Samstags dabei und hilft beim Verkaufen. Erst vor ein paar Wochen habe ich mitbekommen, wie ihre Oma ihr einen Vortrag über die Gefahren des Seifensteins hielt und ihr eine Horrorgeschichte von einer Verwechslung mit Schnaps erzählte, bei der das Opfer einen sehr schnellen, aber äußerst qualvollen Tod ereilte und dass es in einem solchen Fall keine Rettung gebe. Sie wusste, was sie tat. Ich habe ein bisschen hoch gepokert, aber ich wusste auch, dass meine Chancen gut standen.“
„Ja.“, erwiderte Keller. „Hoch gepokert und haushoch gewonnen. Herzlichen Glückwunsch, Kerkenbrock. Wenn Sie so weitermachen, leiten Sie demnächst die Ermittlungen und ich fahre schon mal den Wagen vor.“
ENDE

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Donnerstag, 11. August 2016
TEN SING-Seifenoper – fast abgeschlossener Kurzkrimi, diesmal als Rätsel
Ganz entspannt und mit einem breiten Grinsen stand Lucas vor der PA und drehte heimlich den Regler für die Bassgitarre hoch. Bis Leon, der eitle Lead-Gitarrist das merken würde, wäre „Guns In My Head“ schon runtergespielt. Plötzlich spürte er eine Hand auf der Schulter und in freudiger Erwartung eines vor Ärger verzerrten Leon-Gesichts drehte er sich langsam um, blickte aber in die verschmitzten, grauen Augen von Keyboarder Damian.
„Na?“, fragte der schelmisch, „Mal wieder den Frentrup auf die Palme bringen?“
„Welche Palme?“, fragte Lucas. „Ich seh hier keine Palme.“
„Na, ich habe jedenfalls auch nichts gesehen und bin auf die Üerraschung gespannt.“, feixte Damian und schlenderte lässig in Richtung Bühne. „Wieder Mega-Pupillen, der Irre.“, nuschelte er vor sich hin. „Hoffentlich verteilt der morgen nix.“
Ariane bürstete auf die Bühne und krakeelte: „Habt ihr alle 'n Ei am wandern? Wir wollen endlich anfangen, also kommt in die Puschen!“
Arianes Funktion war eigentlich alles und nichts. Sie war die Einzige, die für den ganzen Rummel bezahlt wurde und offiziell die Gesamtleitung der TEN SING-Gruppe innehatte, aber sie spielte weder ein Instrument, noch konnte sie tanzen, singen oder nennenswert Theater spielen. Das Organisieren lag ihr ebenso wenig wie das Entwickeln oder Umsetzen kreativer Ideen, aber sie hatte nun einmal diese berufliche Rolle und versuchte, sie so gut es eben ging auszufüllen. Dass ihre allmählich aus der Form geratene Figur in einer pinken Latzhose steckte und dass das von tiefen Nasolabialfalten, Krähenfüßen und Tränensäcken zerfurchte Gesicht von einer wasserstoffblonden, mit dem Messer geschnittenen und Stylingschaum geboosterten In-Frisur gerahmt war, verlieh ihrer Gestalt etwas besonders Groteskes.
„Du musst heute keinem was beweisen, Aileen.“, zischte sie ein einnehmend hübsches Mädchen mit endlos langen, braunen Haaren an. „Wir wissen alle, dass du seit gestern fieberfrei bist und morgen auf die Bühne kannst. Also übernimm dich nicht gleich.“
„Mit geht’s wieder total gut.“, erwiderte Aileen, zuckte mit den Schultern und nahm betont langsam ihren Platz auf der Chortreppe ein. Der Leadgitarrist Leon verfolgte jeden ihrer Schritte mit Argusaugen.
Polly, eine aparte aber unsichtbare Blondine trat an den Mikrofon-Ständer. Die Band spielte „Guns In My Head“ an, der Chor brandete auf, und dann entpuppte sich Polly als wahre Rockröhre.
„Die singt, als würde sie 'n Amoklauf planen.“, dachte Damian und ahnte gar nicht, dass er nicht vollkommen falsch damit lag.
Für das nächste Solo - „Diamonds“ von Rihanna – trat Aileen ans Mikrofon. Mit ihrer facettenreichen Stimme, die mal rein und klar, mal rauchig daher kam, schien sie alle zu verzaubern. Nur Ariane, die Leiterin, verdrehte genervt die Augen. Sie fand, dieses Zuckerpüppchen wurde völlig überschätzt. Es war nur so, dass die Jungen ihre Zungen gern zwischen ihren fleischigen Lippen versenkt hätten und die Mädchen sie um ihr Fotomodell-taugliches Äußeres beneideten. Zwischen den Ohren hatte Aileen nur Stroh, fand Ariane. Sie fing Jennifers verhaltenes Grinsen auf, die ihre Mimik beobachtet hatte. Jennifer war wirklich hübsch mit ihren blonden Korkenzieherlocken, den himmelblauen Augen und dem Porzellanteint, ein bisschen üppig vielleicht, aber der Babyspeck würde sich später verziehen.
Bei der Tanznummer stand Ariane im Mittelpunkt. Sie selbst hatte diese choreografische Eingebung gehabt, ging damit allen auf die Nerven, hatte sich aber aufgrund ihrer Machtposition durchgesetzt.
„Du solltest dich bei der Startaufstellung nicht direkt vor mich stellen!“, zischte sie Aileen an, die auch im Tanzworkshop mitmischte.
„Wo soll ich denn stehen, wenn Leonie immer so weit rüber kommt?“, fauchte Aileen zurück und wandte sich dann an ihre Mittänzerin: „Leonie!“, fuhr sie sie an, „Wenn du dir die Choreo nicht merken kannst, solltest du echt besser im Chor bleiben, wo du hingehörst.“
„Gestern war der Frosch noch krank, jetzt qualmt er wieder, Gott sei Dank!“, ging Ariane dazwischen. Dann lief die Musik aus der Konserve, zu dem der Tanzworkshop eine wilde Mischung aus klassischen Jazz-Dance-Elementen, Hiphop-Moves und Thai Chi-Übungen hinlegte. Es folgte eine Theater-Szene, in der Jennifer, das blond gelockte Moppelchen, eine Jugendliche spielte, die überlegte, sich bei „DSDS“ zu bewerben. Die aparte Aileen spielte ihre große Schwester, die sich über die Träume der Jüngeren lustig machte.
„Wieso hat Jennifer eigentlich die Hauptrolle?“, flüsterte der pfiffige Damian der farblosen Polly ins Ohr. „Die spielt wie'n Stück Holz.“
„Ganz einfach.“, wisperte Polly zurück. „Sie leitet den Theater-Workshop. Noch Fragen?“
Noch zwei Lieder, eine Spielszene und zwei weitere Lieder, dann wurde die Generalprobe an der Stelle unterbrochen, an der auch am kommenden Tag die Pause anstand. Nur wenige Akteure zogen sich in den zur Garderobe umfunktionierten Klassenraum zurück. Als sich nach dreißig Minuten wieder alle auf der Bühne einfanden, fehlte Aileen. Das fiel sofort auf, weil sie beim ersten Stück nach der Pause Akustikgitarre spielen musste.
Die Diva und ihre Star-Allüren!“, stöhnte Ariane, die Fachkraft. „Kann mal einer unsere Superpüppi aus der Garderobe holen?“
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, spurtete Leon, der Leadgitarrist los, kam aber nicht zurück.
„Wenn man hier nicht alles selber macht!“, ärgerte sich Ariane und rannte hinter die Bühne. In der Garderobe fand sie Leon, der sich verzweifelt über die bewusstlose Aileen beugte und versuchte, sie zu wecken.
Aus dem Mund des Mädchens schien etwas heraus gelaufen zu sein, die Augen waren geöffnet, aber wie erstarrt. Ariane kniete sich neben Aileen und tastete nach ihrem Puls. Sie fühlte nichts. Danach kontrollierte sie die Atmung, auch hier konnte sie nichts feststellen. „Ruf sofort einen Krankenwagen!“, sagte sie zu Leon und begann mit der Wiederbelebung. Nachdem Leon den Notruf abgesetzt hatte, kamen fast alle in den Klassenraum und Damian unterstützte Ariane bei der Reanimation bis der Rettungswagen eintraf. Doch der Versuch blieb erfolglos. In dem Moment, als allen klar wurde, dass Aileen tatsächlich verstorben war, schien die Zeit stehen zu bleiben. In mehreren Köpfen lief ein ähnliches Programm: „Und die Show? Und wer singt jetzt „Diamonds“? Kann die Show überhaupt noch stattfinden? Wie bin ich eigentlich drauf? Wie kann ich jetzt noch an die Show denken?“
Niemand hatte es zugegeben, aber gleich nach dem Schock über diesen furchtbar tragischen, plötzlichen und unvorstellbaren Tod breitete sich Enttäuschung aus,dass ein ganzes Jahr voller kreativer Prozesse, bis zum I-Tüpfelchen ausgeklügelter Organisation, Training, Übung, gemeinsamen Proben, Hämmern, Sägen, Pinsel Schwingen umsonst gewesen sein sollte, weil es eine von ihnen aus ihrer Mitte gerissen hatte.
Das Rettungsteam stellte klar, dass hier dringend die Kriminalpolizei eingeschaltet werden musste, denn sie hielten es für unwahrscheinlich, dass ein so junger, gesunder Mensch von einer Minute auf die andere einfach tot umfiel.
Nachdem als erstes die Spurensicherung eingetroffen war und den Tatort gesichert hatte, kam bald ein Ermittlerduo dazu: Kriminalhauptkommissar Stefan Keller und seine Kollegin Sabine Kerkenbrock von der Bielefelder Mordkommission. Weil es für erste Hypothesen bezüglich der Todesursache noch zu früh war, beschlossen sie, zunächst alle 25 Gruppenmitglieder einzeln zu vernehmen. Allerdings winkte Konstanze Flegel Kerkenbrock kurz vor der Befragung noch einmal zu sich heran und meinte: „Ich kann das erst nach gründlicher Untersuchung abschließend bestätigen, aber alles deutet darauf hin, dass das Opfer Seifenstein getrunken hat.“
„Was ist das denn?“
„Ein Gemisch aus Natriumhydroxid und Soda, eine hoch ätzende Chemikalie zur traditionellen Herstellung von Seife. Verätzt alles und kann je nach Menge und Konzentration innerhalb weniger Minuten zum Tod führen.“
„Danke, Konstanze.“, erwiderte Kerkenbrock und schloss sich wieder ihrem Kollegen zwecks Befragung an.
Die meisten hatten zu Aileen – zumindest nach eigener Aussage – so gut wie keinen Kontakt gehabt und wussten auch sonst nichts über sie zu sagen, außer dass sie eine Säule der Show gewesen sei, weil sie in jedem Workshop mitwirkte und dies auch auf der Bühne sichtbar werden sollte.
Leonie war nicht so gut auf Aileen zu sprechen. „Bevor Sie es von jemand Anderem erfahren“, erklärte sie, „sage ich es Ihnen lieber selbst. Aileen hat mich nach Strich und Faden gedisst. Ich habe ihr nichts getan, aber vielleicht nimmt sie es mit übel, dass ich den Ausbildungsplatz bekommen habe, auf den sie sich auch beworben hat.“
„Was für eine Ausbildung machen Sie?“, fragte Kerkenbrock.
„Pharmazeutisch technische Assistentin. Ich arbeite in der Apotheke bei uns vor Ort.“
Auch Polly, eine auf unspektakuläre Weise hübsche Siebzehnjährige erklärte, sie müsse zugeben, dass sich ihre Trauer in Grenzen halte, weil Aileen ihr vor drei Monaten den Freund ausgespannt habe.
Jennifer - „Welch barocker Rauschgoldengel“, dachte Keller – gab ihrem Bedauern darüber Ausdruck, dass Aileen nun nie wieder ihr Solo singen könne: „Ich meine, ich kann „Diamonds“ von Rihanna auch ziemlich gut singen, aber bei Aileen klang das noch mal ganz anders. Es gibt ja so vieles, das sie in der Show gemacht hätte, das muss jetzt alles umbesetzt werden.“
Leon, der sie gefunden hatte, war immer noch völlig aufgelöst. Er zitterte am ganzen Körper und er redete und weinte abwechselnd, beides wie ein Wasserfall. Es war nicht zu übersehen, dass er etwas Besonderes für das Mädchen empfunden hatte.
„War Aileen deine Freundin?“, fragte Kerkenbrock einfühlsam.
„Ja, schon irgendwie.“, antwortete Leon, sah dann verstört vom einen zum anderen und stellte das Missverständnis richtig: „Also, wir sind nicht zusammen, nur Freunde. Aileen ist mit Noah zusammen, aber der ist nicht bei TEN SING.“
Die Hauptamtliche erklärte, Aileen sei ein ziemliches Früchtchen gewesen. „Wenn sie nicht everybodys Darling war, wurde sie schnell zur Furie, aber meistens konnte sie ihre Altersgenossen ganz gut um den Finger wickeln. Ich glaube ja, dass ihr der Ehrgeiz, von dem sie getrieben war, zum Verhängnis geworden ist. Sie hat bis vorgestern mit einer schweren Grippe mit hohem Fieber flachgelegen, und heute sprang sie hier herum, als wäre nichts gewesen. Ich wette, sie hat sich eine Herzmuskelentzündung zugezogen.“
Damian, der Keyboarder, erwies sich als stiller Beobachter, der viel mitbekam von dem, was zwischen einzelnen Jugendlichen untereinander ablief. So erklärte er: „Ariane kann Aileen nicht ausstehen, weil sie ihr vor Augen führt, wie man aussehen kann, wenn man nicht nur flippig, sondern auch noch jung und hübsch ist. Obwohl sie schon recht hat, dass Aileen nie genug bekam von Bewunderung und Anerkennung; dafür hat sie sich echt abgestrampelt. Leon ist total scharf auf sie, hat keine Chance, hört aber nicht auf zu probieren.“
Soweit Damians Beobachtungen, allerdings hatte auch er nicht den Hauch einer Ahnung, ob jemand in der Pause mit Aileen allein in der Garderobe gewesen war.
Ein Blick in Lucas Augen und die Polizeibeamten wussten, dass sie dieser Junge heute Abend noch aufs Revier begleiten würde. Als sie mit ihm fertig waren, sagte Kerkenbrock: „Also, Herr Keller, wir müssen ja noch abwarten, was bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung heraus kommt, aber ich glaube, ich weiß, wie es passiert ist, wer es war und eventuell auch warum.“

Und jetzt frage ich Euch, liebe Leserinnen und Leser: Habt Ihr eine Hypothese bezüglich Täter, Motiv und Tathergang? Ich bin schon sehr gespannt. In etwa einer Woche löse ich das Rätsel an dieser Stelle auf. Alternativ-Fragen (also solche, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können) – und natürlich nicht solche wie „Ist XXX der Täter?“ - kann ich schon vorher in den Kommentaren beantworten.
VIEL SPASS BEIM RÄTSELN!!!

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