Donnerstag, 11. August 2016
TEN SING-Seifenoper – fast abgeschlossener Kurzkrimi, diesmal als Rätsel
Ganz entspannt und mit einem breiten Grinsen stand Lucas vor der PA und drehte heimlich den Regler für die Bassgitarre hoch. Bis Leon, der eitle Lead-Gitarrist das merken würde, wäre „Guns In My Head“ schon runtergespielt. Plötzlich spürte er eine Hand auf der Schulter und in freudiger Erwartung eines vor Ärger verzerrten Leon-Gesichts drehte er sich langsam um, blickte aber in die verschmitzten, grauen Augen von Keyboarder Damian.
„Na?“, fragte der schelmisch, „Mal wieder den Frentrup auf die Palme bringen?“
„Welche Palme?“, fragte Lucas. „Ich seh hier keine Palme.“
„Na, ich habe jedenfalls auch nichts gesehen und bin auf die Üerraschung gespannt.“, feixte Damian und schlenderte lässig in Richtung Bühne. „Wieder Mega-Pupillen, der Irre.“, nuschelte er vor sich hin. „Hoffentlich verteilt der morgen nix.“
Ariane bürstete auf die Bühne und krakeelte: „Habt ihr alle 'n Ei am wandern? Wir wollen endlich anfangen, also kommt in die Puschen!“
Arianes Funktion war eigentlich alles und nichts. Sie war die Einzige, die für den ganzen Rummel bezahlt wurde und offiziell die Gesamtleitung der TEN SING-Gruppe innehatte, aber sie spielte weder ein Instrument, noch konnte sie tanzen, singen oder nennenswert Theater spielen. Das Organisieren lag ihr ebenso wenig wie das Entwickeln oder Umsetzen kreativer Ideen, aber sie hatte nun einmal diese berufliche Rolle und versuchte, sie so gut es eben ging auszufüllen. Dass ihre allmählich aus der Form geratene Figur in einer pinken Latzhose steckte und dass das von tiefen Nasolabialfalten, Krähenfüßen und Tränensäcken zerfurchte Gesicht von einer wasserstoffblonden, mit dem Messer geschnittenen und Stylingschaum geboosterten In-Frisur gerahmt war, verlieh ihrer Gestalt etwas besonders Groteskes.
„Du musst heute keinem was beweisen, Aileen.“, zischte sie ein einnehmend hübsches Mädchen mit endlos langen, braunen Haaren an. „Wir wissen alle, dass du seit gestern fieberfrei bist und morgen auf die Bühne kannst. Also übernimm dich nicht gleich.“
„Mit geht’s wieder total gut.“, erwiderte Aileen, zuckte mit den Schultern und nahm betont langsam ihren Platz auf der Chortreppe ein. Der Leadgitarrist Leon verfolgte jeden ihrer Schritte mit Argusaugen.
Polly, eine aparte aber unsichtbare Blondine trat an den Mikrofon-Ständer. Die Band spielte „Guns In My Head“ an, der Chor brandete auf, und dann entpuppte sich Polly als wahre Rockröhre.
„Die singt, als würde sie 'n Amoklauf planen.“, dachte Damian und ahnte gar nicht, dass er nicht vollkommen falsch damit lag.
Für das nächste Solo - „Diamonds“ von Rihanna – trat Aileen ans Mikrofon. Mit ihrer facettenreichen Stimme, die mal rein und klar, mal rauchig daher kam, schien sie alle zu verzaubern. Nur Ariane, die Leiterin, verdrehte genervt die Augen. Sie fand, dieses Zuckerpüppchen wurde völlig überschätzt. Es war nur so, dass die Jungen ihre Zungen gern zwischen ihren fleischigen Lippen versenkt hätten und die Mädchen sie um ihr Fotomodell-taugliches Äußeres beneideten. Zwischen den Ohren hatte Aileen nur Stroh, fand Ariane. Sie fing Jennifers verhaltenes Grinsen auf, die ihre Mimik beobachtet hatte. Jennifer war wirklich hübsch mit ihren blonden Korkenzieherlocken, den himmelblauen Augen und dem Porzellanteint, ein bisschen üppig vielleicht, aber der Babyspeck würde sich später verziehen.
Bei der Tanznummer stand Ariane im Mittelpunkt. Sie selbst hatte diese choreografische Eingebung gehabt, ging damit allen auf die Nerven, hatte sich aber aufgrund ihrer Machtposition durchgesetzt.
„Du solltest dich bei der Startaufstellung nicht direkt vor mich stellen!“, zischte sie Aileen an, die auch im Tanzworkshop mitmischte.
„Wo soll ich denn stehen, wenn Leonie immer so weit rüber kommt?“, fauchte Aileen zurück und wandte sich dann an ihre Mittänzerin: „Leonie!“, fuhr sie sie an, „Wenn du dir die Choreo nicht merken kannst, solltest du echt besser im Chor bleiben, wo du hingehörst.“
„Gestern war der Frosch noch krank, jetzt qualmt er wieder, Gott sei Dank!“, ging Ariane dazwischen. Dann lief die Musik aus der Konserve, zu dem der Tanzworkshop eine wilde Mischung aus klassischen Jazz-Dance-Elementen, Hiphop-Moves und Thai Chi-Übungen hinlegte. Es folgte eine Theater-Szene, in der Jennifer, das blond gelockte Moppelchen, eine Jugendliche spielte, die überlegte, sich bei „DSDS“ zu bewerben. Die aparte Aileen spielte ihre große Schwester, die sich über die Träume der Jüngeren lustig machte.
„Wieso hat Jennifer eigentlich die Hauptrolle?“, flüsterte der pfiffige Damian der farblosen Polly ins Ohr. „Die spielt wie'n Stück Holz.“
„Ganz einfach.“, wisperte Polly zurück. „Sie leitet den Theater-Workshop. Noch Fragen?“
Noch zwei Lieder, eine Spielszene und zwei weitere Lieder, dann wurde die Generalprobe an der Stelle unterbrochen, an der auch am kommenden Tag die Pause anstand. Nur wenige Akteure zogen sich in den zur Garderobe umfunktionierten Klassenraum zurück. Als sich nach dreißig Minuten wieder alle auf der Bühne einfanden, fehlte Aileen. Das fiel sofort auf, weil sie beim ersten Stück nach der Pause Akustikgitarre spielen musste.
Die Diva und ihre Star-Allüren!“, stöhnte Ariane, die Fachkraft. „Kann mal einer unsere Superpüppi aus der Garderobe holen?“
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, spurtete Leon, der Leadgitarrist los, kam aber nicht zurück.
„Wenn man hier nicht alles selber macht!“, ärgerte sich Ariane und rannte hinter die Bühne. In der Garderobe fand sie Leon, der sich verzweifelt über die bewusstlose Aileen beugte und versuchte, sie zu wecken.
Aus dem Mund des Mädchens schien etwas heraus gelaufen zu sein, die Augen waren geöffnet, aber wie erstarrt. Ariane kniete sich neben Aileen und tastete nach ihrem Puls. Sie fühlte nichts. Danach kontrollierte sie die Atmung, auch hier konnte sie nichts feststellen. „Ruf sofort einen Krankenwagen!“, sagte sie zu Leon und begann mit der Wiederbelebung. Nachdem Leon den Notruf abgesetzt hatte, kamen fast alle in den Klassenraum und Damian unterstützte Ariane bei der Reanimation bis der Rettungswagen eintraf. Doch der Versuch blieb erfolglos. In dem Moment, als allen klar wurde, dass Aileen tatsächlich verstorben war, schien die Zeit stehen zu bleiben. In mehreren Köpfen lief ein ähnliches Programm: „Und die Show? Und wer singt jetzt „Diamonds“? Kann die Show überhaupt noch stattfinden? Wie bin ich eigentlich drauf? Wie kann ich jetzt noch an die Show denken?“
Niemand hatte es zugegeben, aber gleich nach dem Schock über diesen furchtbar tragischen, plötzlichen und unvorstellbaren Tod breitete sich Enttäuschung aus,dass ein ganzes Jahr voller kreativer Prozesse, bis zum I-Tüpfelchen ausgeklügelter Organisation, Training, Übung, gemeinsamen Proben, Hämmern, Sägen, Pinsel Schwingen umsonst gewesen sein sollte, weil es eine von ihnen aus ihrer Mitte gerissen hatte.
Das Rettungsteam stellte klar, dass hier dringend die Kriminalpolizei eingeschaltet werden musste, denn sie hielten es für unwahrscheinlich, dass ein so junger, gesunder Mensch von einer Minute auf die andere einfach tot umfiel.
Nachdem als erstes die Spurensicherung eingetroffen war und den Tatort gesichert hatte, kam bald ein Ermittlerduo dazu: Kriminalhauptkommissar Stefan Keller und seine Kollegin Sabine Kerkenbrock von der Bielefelder Mordkommission. Weil es für erste Hypothesen bezüglich der Todesursache noch zu früh war, beschlossen sie, zunächst alle 25 Gruppenmitglieder einzeln zu vernehmen. Allerdings winkte Konstanze Flegel Kerkenbrock kurz vor der Befragung noch einmal zu sich heran und meinte: „Ich kann das erst nach gründlicher Untersuchung abschließend bestätigen, aber alles deutet darauf hin, dass das Opfer Seifenstein getrunken hat.“
„Was ist das denn?“
„Ein Gemisch aus Natriumhydroxid und Soda, eine hoch ätzende Chemikalie zur traditionellen Herstellung von Seife. Verätzt alles und kann je nach Menge und Konzentration innerhalb weniger Minuten zum Tod führen.“
„Danke, Konstanze.“, erwiderte Kerkenbrock und schloss sich wieder ihrem Kollegen zwecks Befragung an.
Die meisten hatten zu Aileen – zumindest nach eigener Aussage – so gut wie keinen Kontakt gehabt und wussten auch sonst nichts über sie zu sagen, außer dass sie eine Säule der Show gewesen sei, weil sie in jedem Workshop mitwirkte und dies auch auf der Bühne sichtbar werden sollte.
Leonie war nicht so gut auf Aileen zu sprechen. „Bevor Sie es von jemand Anderem erfahren“, erklärte sie, „sage ich es Ihnen lieber selbst. Aileen hat mich nach Strich und Faden gedisst. Ich habe ihr nichts getan, aber vielleicht nimmt sie es mit übel, dass ich den Ausbildungsplatz bekommen habe, auf den sie sich auch beworben hat.“
„Was für eine Ausbildung machen Sie?“, fragte Kerkenbrock.
„Pharmazeutisch technische Assistentin. Ich arbeite in der Apotheke bei uns vor Ort.“
Auch Polly, eine auf unspektakuläre Weise hübsche Siebzehnjährige erklärte, sie müsse zugeben, dass sich ihre Trauer in Grenzen halte, weil Aileen ihr vor drei Monaten den Freund ausgespannt habe.
Jennifer - „Welch barocker Rauschgoldengel“, dachte Keller – gab ihrem Bedauern darüber Ausdruck, dass Aileen nun nie wieder ihr Solo singen könne: „Ich meine, ich kann „Diamonds“ von Rihanna auch ziemlich gut singen, aber bei Aileen klang das noch mal ganz anders. Es gibt ja so vieles, das sie in der Show gemacht hätte, das muss jetzt alles umbesetzt werden.“
Leon, der sie gefunden hatte, war immer noch völlig aufgelöst. Er zitterte am ganzen Körper und er redete und weinte abwechselnd, beides wie ein Wasserfall. Es war nicht zu übersehen, dass er etwas Besonderes für das Mädchen empfunden hatte.
„War Aileen deine Freundin?“, fragte Kerkenbrock einfühlsam.
„Ja, schon irgendwie.“, antwortete Leon, sah dann verstört vom einen zum anderen und stellte das Missverständnis richtig: „Also, wir sind nicht zusammen, nur Freunde. Aileen ist mit Noah zusammen, aber der ist nicht bei TEN SING.“
Die Hauptamtliche erklärte, Aileen sei ein ziemliches Früchtchen gewesen. „Wenn sie nicht everybodys Darling war, wurde sie schnell zur Furie, aber meistens konnte sie ihre Altersgenossen ganz gut um den Finger wickeln. Ich glaube ja, dass ihr der Ehrgeiz, von dem sie getrieben war, zum Verhängnis geworden ist. Sie hat bis vorgestern mit einer schweren Grippe mit hohem Fieber flachgelegen, und heute sprang sie hier herum, als wäre nichts gewesen. Ich wette, sie hat sich eine Herzmuskelentzündung zugezogen.“
Damian, der Keyboarder, erwies sich als stiller Beobachter, der viel mitbekam von dem, was zwischen einzelnen Jugendlichen untereinander ablief. So erklärte er: „Ariane kann Aileen nicht ausstehen, weil sie ihr vor Augen führt, wie man aussehen kann, wenn man nicht nur flippig, sondern auch noch jung und hübsch ist. Obwohl sie schon recht hat, dass Aileen nie genug bekam von Bewunderung und Anerkennung; dafür hat sie sich echt abgestrampelt. Leon ist total scharf auf sie, hat keine Chance, hört aber nicht auf zu probieren.“
Soweit Damians Beobachtungen, allerdings hatte auch er nicht den Hauch einer Ahnung, ob jemand in der Pause mit Aileen allein in der Garderobe gewesen war.
Ein Blick in Lucas Augen und die Polizeibeamten wussten, dass sie dieser Junge heute Abend noch aufs Revier begleiten würde. Als sie mit ihm fertig waren, sagte Kerkenbrock: „Also, Herr Keller, wir müssen ja noch abwarten, was bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung heraus kommt, aber ich glaube, ich weiß, wie es passiert ist, wer es war und eventuell auch warum.“

Und jetzt frage ich Euch, liebe Leserinnen und Leser: Habt Ihr eine Hypothese bezüglich Täter, Motiv und Tathergang? Ich bin schon sehr gespannt. In etwa einer Woche löse ich das Rätsel an dieser Stelle auf. Alternativ-Fragen (also solche, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können) – und natürlich nicht solche wie „Ist XXX der Täter?“ - kann ich schon vorher in den Kommentaren beantworten.
VIEL SPASS BEIM RÄTSELN!!!

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Freitag, 29. Juli 2016
Regal 66 – abgeschlossener Kurzkrimi - bin übrigens die nächsten 10 Tage nicht online :-)
Etwas zerstreut schlenderte Judith durch die Regalreihen der Haushaltswaren-Abteilung eines schwedischen Möbelhauses. Sie hatte sich keinen Einkaufszettel gemacht, sondern entschieden, ihr falle schon ein, was sie alles besorgen wolle, wenn sie nur alle Regale abschritt. Ansonsten musste sie noch einen neuen Klapptisch für ihre Dunkelkammer kaufen, dann konnte sie dieser schrecklichen Fabrikhallenatmosphäre wieder entkommen.
Andererseits war sie froh, mal für zwei Stunden aus der Gemeinde rauszukommen. Die Beerdigung heute Vormittag war eine Horrorvorstellung gewesen. Die abgehalfterten Trauergäste hatten sie an die Daheim gebliebene bucklige Verwandtschaft erinnert, mit der sie nie wieder etwas zu tun haben wollte. Alle hatten so unbeholfen und wenig angemessen agiert, sie hatte schon lange keine so unwürdige Bestattung mehr erlebt.
Noch belastender hingegen waren die Erinnerungen an den Vortag: Morgens bei der Pfarrkonferenz hatte der Superintendent sie beiseite genommen und ihr erklärt, sie sei nicht ermächtigt, das Glaubensbekenntnis in einem Gottesdienst nur bei Bedarf einzusetzen. Ihre Erklärung, dass sie stattdessen ein entsprechendes Lied von der Gemeinde hatte singen lassen, hatte er nicht gelten lassen. Er fand immer etwas, das er anmahnen konnte und sie spürte deutlich, dass es niemals um die Sache selbst ging, sondern darum, sie mürbe zu machen, um sie los zu werden. Was hatte sie ihm nur getan, dass er sie so entschieden ablehnte?
Am Nachmittag war sie mit dem Kirchmeister aneinandergeraten, weil der den Haushaltsansatz für Konfirmandenarbeit nicht erhöhen wollte und sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, dies im Presbyterium zu diskutieren. Sie hatte am Ende gesiegt, der Punkt kam auf die Tagesordnung und sie war guten Mutes, die Mehrheit auf ihrer Seite zu haben und bei der Orgelrestaurierung auf die Luxus-Variante zu verzichten, doch die vergiftete Atmosphäre zwischen ihr und ihrem Finanzchef würde ihr das Leben dauerhaft schwer machen.
Abends wurde es dann noch einmal heikel: Steffen, der Jugendreferent hatte sie in dem ihm eigenen, schnarrenden Ton darauf hingewiesen, dass die Teilnehmerlisten fürs Konfi-Camp fertig werden mussten.
„Ja, ich weiß“, hatte sie geantwortet. „Sabine hat im Moment alle Hände voll zu tun mit den Einladungen für die Konfirmationsjubiläen, da ist ihr das wohl durch die Lappen gegangen. Ich erinnere sie morgen noch mal daran. Die werden uns schon nicht zu Hause lassen, nur weil die Teilnehmerlisten drei Tage zu spät kommen.“
„Wenn Sabine das nicht gebacken kriegt, dann musst du dich darum kümmern.“, hatte Steffen sie angeschnauzt. „Konfirmandenarbeit ist vor allem dein Arbeitsgebiet, ich habe danach noch ‘ne Jugendfreizeit und Ferienspiele auf dem Programm, ich kann mich wirklich nicht um alles kümmern, aber bei mir kommen dann die Beschwerden vom Kirchenkreis an. Du machst das doch nicht zum ersten Mal. Kann doch nicht so schwer sein, das einmal gebacken zu kriegen.“
„Ich muss auch eine Menge auf die Reihe kriegen, womit du dich nicht befassen musst.“, hatte sich Judith gerechtfertigt. „Du findest ja auch immer noch Zeit, mit den Jugendlichen zu schäkern.“
Sie hätte es auch schärfer formulieren können, denn ihr war am Freitagabend nicht zum ersten Mal aufgefallen, dass Steffen sich den Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren in ganz besonderer Weise körperlich zuwandte, allerdings nur den Hübschen und Wohlproportionierten und auch seelsorgerlich war er hier viel engagierter als bei denen, die es am nötigsten hatten.
Wie durch Zauberhand hatten sich in ihrem Einkaufswagen Müslischalen, eine Salatschüssel eine Auflaufform und ein Dutzend Trinkgläser eingefunden. Nun brauchte sie nur noch den Klapptisch. Sie ermittelte im Kundencomputer den Standort des Möbels, das sie sich bereits im Katalog ausgesucht hatte. Der Bausatz befand sich in Regal Nr. 66. Langsam schritt sie den breiten Gang in Richtung Kasse, konnte das Regal aber nirgends entdecken, ebenso wenig wie fachkundiges Personal, außer den Angestellten, die dauergestresst an der Kasse Waren einscannten. Schließlich fragte sie eine sympathisch aussehende, junge Frau: „Haben Sie eine Ahnung, wo hier das Real 66 sein könnte?“
„Ja, das kenne ich.“, kicherte die junge Frau. „Wir haben hier mal eine Rally gemacht, das ist ganz weit hinten, in der Nähe der Fundgrube.“
„Ach so, vielen Dank.“
Judith wurde bald fündig und stand schließlich unschlüssig vor den Paketen, was genau sie auf ihren Wagen packen musste. Es war so wunderbar still hier, nicht so ein Gesumme und Gedränge wie in der restlichen Markthalle. Umso schneller richteten sich ihre Nackenhaare auf, als sie plötzlich ein seltsames Klicken hinter sich wahrnahm. Sie wollte sich gerade umdrehen, da war er schon bei ihr. Sein linker Arm umschloss ihre Taille, sein rechter Unterarm tauchte vor ihrem Oberkörper auf. Ein sportlicher Herrenduft stieg ihr in die Nase, dann spürte sie etwas Hartes, Kaltes an ihrem Hals, dann ein seltsames Reißen und Brennen, dann nichts mehr.
Als das Möbelhaus um 21.00 Uhr schließen wollte, entdeckte ein Mitarbeiter die Leiche einer Frau mittleren Alters vor dem Regal 66. Sie lag in einer gigantischen Blutlache, jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten. Gegen 21.15 Uhr war die Spurensicherung vor Ort, gegen 21.30 Uhr die ermittelnden Kommissare. Die Identität des Opfers stand zu diesem Zeitpunkt bereits fest, es handelte sich um die evangelische Gemeindepfarrerin Judith van der Groeben. Von den Schultern der hellblonden Frau wurden brünette Kopfhaare sichergestellt, die der Täter vermutlich beim engen Körperkontakt verloren hatte. Das waren alle Spuren – keine Fußabdrücke, keine Tatwaffe, keine Zeugen.
Was dem Täter am Ende das Genick brach, war das Tagebuch der Pfarrerin, in dem sie noch am Morgen ihres Todestages folgendes eingetragen hatte:
„Meine Güte, warum kann ich nicht einfach mal in einer normalen Gemeinde mit psychisch gesunden, anständigen Mitarbeitern unterkommen? Am Samstag hat Irmgard mir erzählt, dass Steffen häufig mit der 16-jährigen Vanessa im Auto unterwegs ist und angeblich hat auch jemand beobachtet, dass das Mädchen an einem Freitagabend zusammen mit Steffen dessen Wohnung in der Innenstadt aufgesucht hat, ohne jeden weiteren Jugendlichen. Vorgestern habe ich selbst ihn dabei erwischt, wie er in einem unbeobachtet geglaubten Moment im Jugendbüro das Mädchen auf höchst unangemessen distanzlose Weise umarmt hat: als ich die Tür öffnete, zuckte gerade seine Hand von Vanessas Po. Ich habe betont neutral reagiert, auch um das Mädchen nicht zusätzlich zu verunsichern, aber in dem Moment als meine Augen denen von Steffen begegneten, war klar, dass er wusste, dass er aufgeflogen war. Doch gestern versuchte er noch immer so zu tun, als habe er sich gar nichts zuschulden kommen lassen und sei in der Situation, andere zurechtweisen zu müssen.
„Wollen wir jetzt die Vorwurfsspirale ankurbeln?“, hat er mich schnippisch gefragt, keine weiteren Angriffe duldend, als ich seine Vorwürfe wegen der nicht fristgerecht abgelieferten Adresslisten fürs Konfi-Camp mit einem Hinweis auf seine Unzulänglichkeit in Bezug auf seine Distanzlosigkeiten gegenüber den Jugendlichen erwidert habe.
„Du hast mit Vorwürfen angefangen.“, habe ich gekontert. “Ich regele das schon mit den Adresslisten. Aber bekomm du deine Männlichkeit in den Griff, sonst muss ich da demnächst auch noch was regeln!“
Dann habe ich auf dem Absatz kehrt gemacht und ihn mit offenem Mund stehen lassen. Ich bin vor meinem eigenen Mut erschrocken und jetzt wünschte ich, ich hätte einfach nichts bemerkt. Das ist alles so unangenehm und auch riskant, denn vielleicht gibt es ja doch für alles eine plausible Erklärung und am Ende wäre Steffen rehabilitiert und ich hätte eine Verleumdungsklage am Hals. Andererseits ist mir klar, dass ich einschreiten muss und nicht tatenlos zusehen kann, wie der alternde Berufsjugendliche eine Minderjährige nach der anderen flachlegt und in seinem rücksichtlosen Bedürfnis nach bedingungsloser Hingabe und Bewunderung ihre Seele auffrisst.“
Der Jugendreferent hatte brünettes Haar und auf den aufwändigen DNA-Test konnte die Polizei verzichten, weil der Täter längst erkannt hatte, dass er überführt worden war. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt – und verloren. Als leidenschaftlicher Motorradfahrer, attraktiver Frauenverschlinger und vielseitiger Freizeitsportler hatte er sich immer auf der Route 66 gesehen. Nun endete es beim jämmerlichen Regal 66 in einem bekannten schwedischen Möbelhaus.

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Freitag, 22. Juli 2016
Konfi-Camp – abgeschlossener Kurzkrimi
Voller Tatendrang und Vorfreude huschte Ruben leichtfüßig durch die Zeile der Bettenhäuser des Camp-Geländes. Seine Bedenken bezüglich des Platzes hatten sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden in Luft aufgelöst. Auch wenn der Platz am Frauensee in der Nähe von Berlin wie das Camp in einem amerikanischen Horrorfilm aussah, gemischt mit nostalgischem Ost-Charme, so trug doch die Weitläufigkeit des Geländes sehr zur allgemeinen Entspannung bei. Aber hier in Heino, wo auf Niederländisch platzsparend, praktische Weise alle Konfis und Mitarbeiter zusammenrücken mussten, kam es zu so viel mehr besonderen Begegnungen, und jetzt hatte er sich mit einer Gruppe von Teamern aus den verschiedenen Kirchengemeinden zum nächtlichen Bad im See verabredet. Das war zwar eigentlich vollkommen verboten, weil keine Badeaufsicht anwesend war, aber wer nie gegen irgendeine Regel verstieß, an dem ging das wahre Leben vorbei.
Er joggte an den Bahnschienen entlang, bis er schließlich an der Schranke ankam, die gerade dabei war, sich zu schließen.
„Scheiß der Hund drauf.“, dachte er, „Züge kommen frühestens eine Minute, nachdem die Schranke unten ist.“
Er legte eine passable Hockwende über die Schranke hin, hatte die nächste in Gedanken auch schon übersprungen, als ihn plötzlich etwas zu Boden riss. Er schlug hart mit dem Kopf auf und wie durch dichten Nebel nahm er in seiner Benommenheit wahr, wie der Zug sich unaufhaltsam näherte. Mit letzter Kraft rappelte er sich auf und warf sich über die Schranke, wenn auch nicht so elegant wie beim ersten Sprung. Schneidend und ratternd rauschte die Bahn an ihm vorbei und er musste sich einen Augenblick sammeln, bevor er wieder einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Er blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, dabei hätte er schwören können, dass ihn jemand gestoßen hatte. „Wahrscheinlich bin ich doch nur dumm gestolpert.“, murmelte er. Und weil er sich nicht ernsthaft verletzt fühlte, ging er weiter seinem ursprünglichen Ziel entgegen.
Er hörte sie schon planschen und kreischen: Vanessas unverkennbares Gekicher, die überlauten Aufprall- und Verdrängungsgeräusche, wenn Jan-Eric sich von der schwimmenden Insel ins Wasser plumpsen ließ und viele weitere fröhliche Stimmen, die er nicht eindeutig zuordnen konnte. Es waren vor allem die jungen, erwachsenen Mitarbeiter, die zum nächtlichen Badegaudi zusammenkamen, nichts wirklich Verbotenes, aber trotzdem geschah es im Geheimen, weil es von der Camp-Leitung nicht gern gesehen wurde.
Die Nacht war lau und das Wasser im See von der Hitze des Tages fast so warm wie in der Badewanne. Ruben stieß in der Dunkelheit mit jemandem zusammen. Im ersten Moment erschrak er, doch dann stellte er fest, dass es sich um Lilly handelte, die erst ein atemloses Sorry hauchte und dann verlegen kicherte. Er hatte das beflügelnde Gefühl, dass sie sich in den letzten Tagen tatsächlich nähergekommen waren, immer wenn sie sich auf dem Gelände begegneten, hielten sie ein belangloses Schwätzchen, scherzten und neckten sich gegenseitig. Und bei jedem Blick glänzten ihre Augen ein bisschen mehr, manchmal glaubte er sogar, eine zarte Rötung ihrer Wangen zu bemerken. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihre fast nackten Körper sich unter Wasser berührten, hatten sie doch täglich eine Gelegenheit gefunden, wenigstens eine Viertelstunde im See zu toben, aber das war im Tageslicht gewesen, zwischen lauter Konfis, unter den Blicken von Pfarrern und Jugendreferenten und im unschuldigen Licht der Sonne. In der Dunkelheit und der Exklusivität ihrer vertrauten Clique hatte dieser Moment eine ganz andere Qualität und er fühlte trotz des kühlen Wassers Hitze in sich aufsteigen. Allerdings wurde die Romanze bereits im Keim erstickt, als Marvin sich brüllend auf Lilly stürzte und sie wie ein Seeungeheuer umklammerte. Lilly kreischte und kicherte abwechselnd und plötzlich war Ruben sich seiner Sache gar nicht mehr so sicher. Immer, wenn Marvin auftauchte, schien sie nur noch Augen für ihn zu haben.
„Esst mehr Erbsen!“, rief Jan-Eric, „Dann könnt ihr nachts im Bio-Whirlpool baden.“
„Oh, Jan-Eric, du bist so eklig!“, keifte Vanessa. „Ich halte ab sofort zehn Meter Abstand. Deine Faulgase sind definitiv schlimmer als die Fenjala-Wolke der Haubentaucher im Hallendbad.“
Nach einer halben Stunde hatte das nächtliche Bad alle Beteiligten erheblich ausgekühlt. Sie zogen sich schlotternd an und liefen eilig zum Platz zurück, um sich wieder aufzuwärmen. Erst auf halben Weg des Viertelstündlichen Fußmarsches stellten sie fest, dass jemand fehlte.
„Wo ist eigentlich Marvin?“, japste Lilly.
„Brauchte vielleicht einen Moment Ruhe.“, beruhigte Ruben sie und hoffte, die Erklärung würde ausreichen. Doch Lilly wurde unruhig.
„Wir müssen zurück und Marvin suchen, vielleicht ist ihm was passiert.“
„Was soll dem denn in dem Planschbecken passiert sein?“, fragte Jan-Eric in rauem Ton. „Keiner kann ihm auf den Kopf gesprungen sein, er ist nicht besoffen und wilde Ungeheuer gibt es in dem See auch nicht.“
„Aber er hätte bestimmt gesagt, dass er noch bleiben will.“, beharrte Lilly auf ihrem Standpunkt. „Ich kann mich auch nicht erinnern, dass er beim Anziehen dabei war.“
„Bestimmt war er dabei.“, meinte Jan-Eric im Brustton der Überzeugung.
„Also ich gehe jetzt zurück und suche ihn.“, erklärte Lilly entschlossen.
„Ich komme mit.“, sagte Ruben und legte schützend seine Hand um Lillys Schultern, deren Körper sich augenblicklich anspannte. War das nun, weil sie die unerwartete Nähe erregte und verlegen machte oder weil sie sich vor ihm ekelte? Er wurde unsicher, ließ seinen Arm wie zufällig wieder herunter gleiten und ging mit angemessenem Abstand neben ihr zurück zum See. Diesmal war die Schranke oben, aber er wäre das Risiko von eben nicht noch einmal eingegangen, schon gar nicht gemeinsam mit Lilly. Ruben zog sich aus, um den See abzusuchen, Lilly erklärte: „Ich glaube nicht, dass wir ihn finden, wenn er irgendwo am Grund liegt, aber vielleicht hat er sich ans Ufer geschleppt. Ich laufe einmal um den See rum.“
Das tat sie, während Ruben trotz aller Sinnlosigkeit verzweifelt nach Marvin tauchte. Plötzlich hörte er seinen Namen über den See hallen. Er ortete Lillys Ruf und schwamm zu der Insel, auf der sich der Hochseilgarten befand. Er musste nicht lange suchen, folgte nur Lillys Wimmern, die am Ufer saß und den nassen, ausgekühlten und ohnmächtigen Marvin in den Armen hielt und ihn schüttelte, damit er aufwachte.
„Hast du ihn gerade aus dem Wasser gezogen?“, rief Ruben erschrocken.
„Nein“, antwortete Lilly weinend. „Er lag hier einfach, aber er wacht nicht auf. Ich fühle seinen Puls nicht.“
„Hast du die Atmung kontrolliert?“
„Nein. Aber ich habe auch nicht das Gefühl, dass er atmet.“
Ruben bat Lilly, Marvin auf den Boden zu legen. Dann presste er seine Hände auf Brust und Rippen seines Freundes und nahm ein leichtes sich Heben und Senken des Brustkorbes wahr.
„Er atmet noch.“, erklärte Ruben erleichtert. „Wir müssen ihn aufwärmen, vielleicht wacht er dann auch wieder auf. Am besten wir rubbeln und massieren ihn gründlich durch. Dann hilft es auch wenn du ihn fest umarmst und was von deiner Körperwärme abgibst und ich laufe in der Zwischenzeit auf die andere Seite und hole seine Klamotten, damit wir ihm etwas anziehen können.“
Ruben rannte zu der Stelle, an der sie sich umgezogen hatten, doch er konnte Marvins Kleidung nirgendwo finden. Dann würde er ihm eben seine Sachen leihen. Es war zwar kühl, aber er blieb ja in Bewegung. Als er zurückkam, war Marvin tatsächlich aufgewacht.
„Ein Glück.“, stieß er erleichtert hervor. „Alter, was ist passiert?“
„Ich glaube, jemand hat versucht, mich umzubringen.“, stammelte Marvin.
„Wie das?“
„Ich bin ein Stück von euch weg geschwommen in Richtung Insel, weil ich Bock hatte, einmal kurz durch den Seilgarten zu turnen, also hier unten, nicht da, wo man abstürzen kann. Auf einmal hing ich mit dem Fuß irgendwo fest, so als wären da Schlingpflanzen. Ich hab gegengehalten und normalerweise reißen solche Pflanzen dann ab, aber das, was sich da um meinen Fuß klammerte, wurde immer fester und zog mich runter. Als ich fast schon dachte, jetzt ist es vorbei, hat es mich los gelassen und ich bin an die Oberfläche gekommen, aber dann hat mich was von hinten angesprungen und wieder unter Wasser gedrückt. Ich habe euch noch von weitem gehört, aber ich konnte ja nicht um Hilfe schreien. Irgendwann hab ich dann instinktiv dem Typen in die Eier getreten. Er hat laut geschrien, nach Luft geschnappt und sich verpisst. Ich bin mit letzter Kraft an Land geschwommen und auf die Insel geklettert, das war super anstrengend, weil hier ja kein flaches Ufer ist. Und als ich endlich an Land war, war ich plötzlich weg.“
„Scheiße, das müssen wir Sabrina erzählen.“, sagte Lilly.
„Bist du bescheuert?“, wies Ruben sie zurecht. „Die rasiert uns die Eier und wir dürfen nie wieder ins Konfi-Camp mitfahren.“
„Kapierst du denn nicht, was hier los ist?“, schrie Lilly ihn an. „Hier läuft ein Killer rum. Wer weiß, wen er sich als Nächstes vorknöpft.“
„Scheiße, ja.“, erwiderte Ruben. „Ich glaube, als ich eben gekommen bin, hat auch einer versucht, mir das Licht auszublasen. Ich dachte zwischendurch, dass ich nur dumm gestolpert bin, aber jetzt glaube ich, da hat mich einer geschubst.“
„Wo denn?“, keuchte Marvin.
„Auf den Bahnschienen, als gerade ein Zug kam. Ich bin über die Schranke geklettert, weil sie gerade erst runter gegangen war und da hat mich irgendwas umgehauen - oder eben irgendwer.“
Als die Jugendreferentin hörte, was passiert war, reagierte sie zuerst schockiert, danach erleichtert, dass alle noch gesund und am Leben waren und schließlich verärgert, dass sie sich mutwillig in solche Gefahr gebracht hatten.
„Weil ihr so ehrlich seid, würde ich euch künftig nicht von weiteren Camps ausschließen, aber wir müssen das gründlich aufarbeiten und ich muss mich in Zukunft darauf verlassen können, dass so etwas nie wieder vorkommt. Keine Mutproben, keine nächtlichen Bäder ohne DLRG-Aufsicht. Ist das klar?“
„Ja natürlich.“, nuschelte Ruben betreten.
„Ich setze mich jetzt mit dem Leitungsteam in Verbindung und ich denke, wir werden die Polizei einschalten. Achtet darauf, dass keiner irgendwo allein hingeht und verlasst das Gelände nicht.“
Wim war jetzt wieder warm und trocken. Er stand hinter seinem Baum und wartete. Er würde sie schon noch erwischen, all diese selbstbewussten Jungs, die voll im Saft standen und den Mädchen wie selbstverständlich an die Wäsche gingen und ihre vollendete Unschuld schamlos beschmutzten. Seit Tagen beobachtete er sie und hatte seine Wahl getroffen, und er würde sein Ziel erreichen, genau wie im letzten Jahr an der Nordsee. Er war ein Racheengel, der Engel der Reinheit, der die Welt säuberte von allem Übel, so dass die Unschuld und Reinheit weiter erstrahlen konnte, schon hier und jetzt und nicht erst im Paradies.
Er musste nicht lange warten. Der Koloss, der mit seinen Blähungen geprotzt hatte, kam den Weg entlang. Er trug etwas bei sich. „Ja“, raunte Wim fast lautlos. „Komm du nur und versuch mich zu jagen. Du wirst schneller zum Gejagten, als du einen Furz lassen kannst.“
Als die Schranke sich schloss, schoss Wim das Adrenalin ins Blut. Er setzte zum Sprung an. Wie er erwartet hatte, sprang der Koloss über die Schranke. Er sprang blitzschnell hinterher, doch diesmal war er zu langsam, der Koloss hatte schon die zweite Schranke erreicht, als er beim verzweifelten Versuch, ihn zurück zu zerren umknickte und stürzte. Das Letzte, was er sah, waren die Lichter, das Letzte, was er hörte, das Rauschen des Zuges und das Signal. Dann stürzte er in die Ewigkeit.
Wim van Geldern wurde in den frühen Morgenstunden von der Gerichtsmedizin identifiziert. Ein unauffälliger, einsamer Mann mittleren Alters, der in einem winzigen Apartment in Zwolle gelebt hatte. Ein Niemand, ohne Angehörige, mit einem Job in einer Reinigungsfirma. Eine Mordserie in einem Camp an der Nordsee im vergangenen Jahr hatte sich zeitgleich mit seinem Jahresurlaub ereignet. Die Polizei schloss den Fall ab. Das Konfi-Camp ging für die meisten fröhlich zu Ende, nur die, die miterlebt hatten, was in der furchtbaren Nacht geschehen war, waren sich nicht mehr so sicher, ob sie jemals wieder an einem Konfi-Camp teilnehmen wollten.

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Freitag, 15. Juli 2016
Erntedankfest – abgeschlossener Kurzkrimi
„...Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.“
Gemessenen Schrittes verließ der Lektor das Lesepult und steuerte seinen Sitzplatz in der ersten Bankreihe an. Wie ein magisches Rad leuchtete die gewaltige Erntekrone über ihm, als er in die Vierung trat. In drei Wochen mühevoller Handarbeit hatten acht Landfrauen dieses groteske Kunstwerk aus Stroh, Draht,Trockenblumen und Schleifen hergestellt und nur mit Hilfe der freiwilligen Feuerwehr konnte das drei Meter hohe Schmuckstück von zwei Meter Durchmesser an dem stabilen Haken im Dachfirst aufgehängt werden. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Lektor Johann Witte einen Heiligenschein und manch einer glaubte sogar, das Flügelrauschen himmlischer Heerscharen zu vernehmen. Als die Sekunde vorüber war, stand die Erntekrone auf dem Boden und zierte Johann Wittes Kopf ganz unmittelbar, nur dass er selbst dieses Phänomen nicht wahrzunehmen schien, weil er bewusstlos am Boden lag.
„Genickbruch“, stellte die Gerichtsmedizinerin fest. „Die Kollegen von der KTU untersuchen gerade die Aufhängung. Vielleicht hat da jemand dran manipuliert.“
„Dann wäre es wohl Mord.“, bemerkte Kriminalhauptkommissar Stefan Keller.
„Oder fahrlässige Tötung.“, überlegte seine junge Kollegin Sabine Kerkenbrock. „Wie wahrscheinlich ist es, dass so ein Gerät genau im richtigen Moment im richtigen Winkel abstürzt? Es könnte doch auch sein, dass jemand nur mit einem Knalleffekt im Gottesdienst rumschocken wollte und gar nicht damit gerechnet hat, dass die Vierung durchquert wird.“
„Die was?“
„Ich verstehe Ihre Frage nicht.“
„Wie heißt das, von dem der Täter nicht vermutet hat, dass es durchquert wird?“
„Ach so. Die Vierung.“
„Und was ist das?“
„Der Knotenpunkt, sozusagen der Kreuzungsbereich zwischen Längsschiff und Querschiff. Der Grundriss der Kirche hat ja eine Kreuzform und das Rechteck, in dem die beiden imaginären Balken sich überlagern, nennt man Vierung.“
„Woher wissen Sie so etwas?“
„Keine Ahnung. Woher wissen Sie, dass die Erde um die Sonne kreist?“
„Tut sie das?“
„Ach, Herr Keller, lassen wir das. Da vorn ist der Pfarrer. Vielleicht kann der uns weiterhelfen.“
Kerkenbrock ging auf ihn zu. „Entschuldigen Sie, ich bin Sabine Kerkenbrock von der Kriminalpolizei Bielefeld. Hätten Sie einen Moment Zeit für ein paar Fragen?“
Der Pfarrer, ein unscheinbarer Typ der offensichtlich den Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu seinem Lebensthema auserkoren hatte, sah sie nur kurz unwillig an und ließ den Blick dann hektisch in der Kirche umher schweifen.
„Tut mir leid, aber ich muss mich hier jetzt erst einmal um einiges kümmern. Ich suche unseren Küster und einen Verantwortlichen der freiwilligen Feuerwehr, denn irgendjemand hat hier offenbar schlampig gearbeitet.“
Dann rauschte er ohne eine Reaktion abzuwarten von dannen, weil er offenkundig jemanden von denen, die er suchte in der aufgeregten Menge entdeckt hatte.
Eine Dame zwischen fünfzig und sechzig Jahren, mit großen, übertrieben wachen Augen trat an Kerkenbrock heran. Sie war etwas voll um die Hüften und trug daher über einer schmal geschnittenen, petrolfarbenen Kordhose eine weit schwingende weiße Bluse. In ihrem Nacken lag locker ein bunter Seidenschal mit Farbverlauf überwiegend in Grün- und Blautönen, die perfekt mit der Farbe der Hose harmonierten. Sie öffnete die runden, zartrosa pomadierten Lippen die vom dichten Flaum des Klimakteriumsdamenbartes gesäumt waren. „Vielleicht kann ich Ihnen weiter helfen.“, erklärte sie, „der Pfarrer ist ja viel zu beschäftigt. Mir ist da nämlich etwas aufgefallen. Wissen Sie, Johann Witte hat mit mir im Gospelchor gesungen, darum kenne ich ihn ganz gut. Er war ein äußerst vermögender Holzhändler, der auch wohl deshalb finanziell so weit gekommen ist, weil er laxer Zahlungsmoral von Kunden immer aufs entschiedenste entgegengetreten ist. Nun hat er ja ausgerechnet heute den Text vom reichen Kornbauer gelesen. Wer sich mit Gottesdienst und Kirchenjahr einigermaßen auskennt, wusste das schon vorher, auch wer lesen würde, denn das steht ja im Lektorenplan und der hängt im Gemeindehaus. Also in dem Text ging es um einen reichen Bauern, der sich immer Sorgen machte, ob er auch eine reiche Ernte einfahren könnte. Und dann hat er so viel Ertrag, dass er gar nicht weiß, wohin damit. Aber statt die Überschüsse an die Armen zu verschenken, lässt er riesige Scheunen bauen, um große Vorräte anzulegen. Als alles fertig ist, geht er am Abend zufrieden schlafen und ist beruhigt und gut gelaunt. Und da sagt Gott zu ihm, dass er ein Narr ist, weil er noch in dieser Nacht sterben wird und dass ihm dort, wo er dann sein wird, diese ganzen Reichtümer gar nichts nützen werden.“
„Und Sie meinen Herr Witte hat sich so verhalten wie dieser reiche Bauer?“
„Allerdings. Wissen Sie, bei uns im Gospelchor singt auch Marco Steinkämper und der hat einen kleinen Betrieb, eine Tischlerei. Er ist Meister und hat drei Angestellte. Vor ein paar Monaten hat er eine umfangreiche Holzlieferung von Witte bekommen, weil er einen großen Auftrag an Land gezogen hatte, einen kompletten Innenausbau mit Treppen, Türen, Rigips und Fußböden. Das war toll für seine Firma, nur hat der Kunde noch nicht bezahlt und die vielen kleinen Kunden sind teilweise abgesprungen, weil er über längere Zeit keine Aufträge annehmen konnte. Ihm steht das Wasser bis zum Hals, aber Witte bestand auf fristgerechter Zahlung und wenn seine Frau in dem Stil weitermacht, ist Marco Steinkämper in ein paar Wochen pleite. Es könnte doch sein, dass da irgendwem der Kragen geplatzt ist. Und wenn es nicht Marco war, dann vielleicht ein guter Freund, der meinte, ihm das schuldig zu sein oder einer seiner Gesellen.“
„Das wäre nicht undenkbar.“, gab Kerkenbrock ihr Recht. „Aber bitte, tun Sie mir den Gefallen und behalten Ihre Beobachtungen und Schlussfolgerungen vorerst für sich, auch in ihrem eigenen Interesse. Denn wenn der Mörder spitzkriegt, dass Sie über derartig umfangreiche Erkenntnisse verfügen, könnten Sie das nächste Opfer sein. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, Ihre Anschrift und Telefonnummer?“
„Aber selbstverständlich. Annerose Hecht.“
Die eifrige Zeugin reichte Kerkenbrock eine Visitenkarte und verließ würdig schreitend das Gebäude.
„Ich weiß ja nicht, was dieser üppige Paradiesvogel Ihnen verraten hat“, raunte Keller seiner jungen Kollegin ins Ohr, „aber ich habe gerade von der Spusi erfahren, dass an der Aufhängung auf ganz absonderliche Weise manipuliert worden ist.“
„Absonderlich inwiefern?“, fragte Kerkenbrock.
„Nun, der Täter oder die Täterin hat den den Haken im First, an dem das Nylonseil mit einem Bulinknoten eingehängt war unter Strom gesetzt. Die Hitze hat das Seil durchschmoren lassen, bis es zu schwach war, die schwergewichtige Krone zu halten. Den Zeitpunkt für den Absturz kann man berechnen, wenn man Ahnung davon hat und wenn nicht, kann man das sicherlich im Internet herausfinden..“
„Wie hat er denn den Haken unter Strom gesetzt?“
„Er hat an den Lichtleitungen manipuliert. Einen Draht an den Haken geführt und im passenden Moment den Lichtschalter betätigt.“
„Gibt das keinen Kurzschluss?“
„Kann man alles austricksen. Es ist ja auch kein Fi-Schutzschalter rausgeflogen. Es sollte wohl jemand zu Werke gegangen sein, der sich mit Elektrik gut auskennt – oder eben jemand, der sich lang und schmutzig in das Thema eingelesen hat. Vor allem aber jemand, der nach Anbringung der Krone Zugang zur Kirche hatte, über eine hohe Leiter verfügte und Gelegenheit hatte, lang und schmutzig an den Kabeln herumzubasteln.“
Inzwischen hatte Der Pfarrer endlich den Küster ausfindig gemacht, den er ebenso zur Rede stellen wollte, wie die Verantwortlichen der Feuerwehr. Die Information bezüglich der manipulierten Stromleitungen war noch nicht zu ihm durchgedrungen, er glaubte weiterhin an schlichte Schlamperei. Neben der Sakristei sprach er seinen Angestellten nun an.
„Hab ich Sie endlich Gefunden, Herr Kleemann.“, fauchte der Pfarrer. „Zuerst mähen Sie den Rasen nicht, weil Sie angeblich zu viel mit der Erntekrone zu tun haben und dann machen Sie das auch noch nicht einmal richtig! Und jetzt gibt es einen Toten. Ihnen ist ja wohl klar, dass die Kündigung damit jetzt endgültig fällig ist.“
„Wieso geben Sie mir die Schuld?“, zischte der Küster zurück. „Ich habe die Krone nicht aufgehängt, ich musste die Handwerker nur unterstützten: Licht an , Licht aus, Werkzeug holen, Leiter hier, Leiter da.“
„Sie sollten die Arbeiten überwachen. Für die Schlampereien sind Sie persönlich verantwortlich. Sie müssen gar nicht versuchen, sich herauszureden.“
„Für mich sah alles ganz normal aus, so wie im letzten Jahr. Vielleicht hat da jemand heimlich und absichtlich einen Fehler gemacht, weil er es auf Herrn Witte abgesehen hatte. Aber ich hatte nichts gegen Herrn Witte, der hat mich immer anständig behandelt.“
In den Augen des Küsters glitzerten Tränen. In seinem Kopf lief ein Film im Zeitraffer: Sein hoffnungsvoller Dienstantritt in der Gemeinde vor 14 Jahren, die Freude nicht nur Hausmeister zu sein, sondern auch ein geistliches Amt auszuüben, das hohes Ansehen genoss. Dann die ersten Demütigungen: Wie man selbstverständlich von ihm erwartet hatte, dass er jedes Problem ohne Unterstützung löste, er könne doch seine Familie mit einspannen, wenn er Hundebesitzer bat, ihre Tiere nicht auf die Wiese kacken zu lassen und von denen als Lakai beschimpft wurde, den man schließlich dafür bezahle, dass er die Scheiße wegräume, durfte er sich nicht wehren, sollte alles herunter schlucken und freundlich bleiben. Niemand setzte sich für ihn ein, man verlangte nur, dass alles funktionierte und das mit immer weniger Stunden, immer weniger ehrenamtlichen Helfern und immer geringeren Finanzmitteln für Werkzeug, Putzutensilien und so weiter. Zwei Mal war ihm in den vergangenen drei Jahren der Kragen geplatzt:er hatte sich einmal ermächtigt, ein Gemeindefest vorzeitig zu verlassen, ein anderes Mal Mitglieder des Presbyteriums mit einer Schimpftirade übergossen. Jedes Mal hatte er eine Abmahnung erhalten. Als er gestern klipp und klar gesagt hatte, dass er den Rasen erst am Montag mähen könne, weil er dafür am Samstag keine Zeit mehr habe, hatte der Pfarrer angedeutet, dass dies wohl der dritte Vorfall auf dem Weg zur Kündigung sei und einer solchen nun nichts mehr im Wege stehe. Jetzt stand der erbarmungslose Vorgesetzte ihm gegenüber und blaffte ihn an.
„Natürlich hat Herr Witte Sie anständig behandelt, wie im übrigen jeder hier in der Gemeinde. Der Einzige, der seine Mitmenschen hier nicht anständig behandelt, sind Sie!“
Wütend wandte der Pfarrer sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um: „Und glauben Sie nicht, dass irgendeine Mitarbeitervertretung Sie noch einmal retten kann. Diesmal haben Sie einen Fehler gemacht, den Sie nicht mehr ausbügeln können.“
Der Pfarrer verschwand in der Sakristei. Der Küster blickte ihm nach und murmelte: „Ja, da ist mir wirklich ein schwerwiegender Fehler unterlaufen. Es hat leider den Falschen getroffen.“

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