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Freitag, 22. Juli 2016
Konfi-Camp – abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 22:24h
Voller Tatendrang und Vorfreude huschte Ruben leichtfüßig durch die Zeile der Bettenhäuser des Camp-Geländes. Seine Bedenken bezüglich des Platzes hatten sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden in Luft aufgelöst. Auch wenn der Platz am Frauensee in der Nähe von Berlin wie das Camp in einem amerikanischen Horrorfilm aussah, gemischt mit nostalgischem Ost-Charme, so trug doch die Weitläufigkeit des Geländes sehr zur allgemeinen Entspannung bei. Aber hier in Heino, wo auf Niederländisch platzsparend, praktische Weise alle Konfis und Mitarbeiter zusammenrücken mussten, kam es zu so viel mehr besonderen Begegnungen, und jetzt hatte er sich mit einer Gruppe von Teamern aus den verschiedenen Kirchengemeinden zum nächtlichen Bad im See verabredet. Das war zwar eigentlich vollkommen verboten, weil keine Badeaufsicht anwesend war, aber wer nie gegen irgendeine Regel verstieß, an dem ging das wahre Leben vorbei.
Er joggte an den Bahnschienen entlang, bis er schließlich an der Schranke ankam, die gerade dabei war, sich zu schließen.
„Scheiß der Hund drauf.“, dachte er, „Züge kommen frühestens eine Minute, nachdem die Schranke unten ist.“
Er legte eine passable Hockwende über die Schranke hin, hatte die nächste in Gedanken auch schon übersprungen, als ihn plötzlich etwas zu Boden riss. Er schlug hart mit dem Kopf auf und wie durch dichten Nebel nahm er in seiner Benommenheit wahr, wie der Zug sich unaufhaltsam näherte. Mit letzter Kraft rappelte er sich auf und warf sich über die Schranke, wenn auch nicht so elegant wie beim ersten Sprung. Schneidend und ratternd rauschte die Bahn an ihm vorbei und er musste sich einen Augenblick sammeln, bevor er wieder einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Er blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, dabei hätte er schwören können, dass ihn jemand gestoßen hatte. „Wahrscheinlich bin ich doch nur dumm gestolpert.“, murmelte er. Und weil er sich nicht ernsthaft verletzt fühlte, ging er weiter seinem ursprünglichen Ziel entgegen.
Er hörte sie schon planschen und kreischen: Vanessas unverkennbares Gekicher, die überlauten Aufprall- und Verdrängungsgeräusche, wenn Jan-Eric sich von der schwimmenden Insel ins Wasser plumpsen ließ und viele weitere fröhliche Stimmen, die er nicht eindeutig zuordnen konnte. Es waren vor allem die jungen, erwachsenen Mitarbeiter, die zum nächtlichen Badegaudi zusammenkamen, nichts wirklich Verbotenes, aber trotzdem geschah es im Geheimen, weil es von der Camp-Leitung nicht gern gesehen wurde.
Die Nacht war lau und das Wasser im See von der Hitze des Tages fast so warm wie in der Badewanne. Ruben stieß in der Dunkelheit mit jemandem zusammen. Im ersten Moment erschrak er, doch dann stellte er fest, dass es sich um Lilly handelte, die erst ein atemloses Sorry hauchte und dann verlegen kicherte. Er hatte das beflügelnde Gefühl, dass sie sich in den letzten Tagen tatsächlich nähergekommen waren, immer wenn sie sich auf dem Gelände begegneten, hielten sie ein belangloses Schwätzchen, scherzten und neckten sich gegenseitig. Und bei jedem Blick glänzten ihre Augen ein bisschen mehr, manchmal glaubte er sogar, eine zarte Rötung ihrer Wangen zu bemerken. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihre fast nackten Körper sich unter Wasser berührten, hatten sie doch täglich eine Gelegenheit gefunden, wenigstens eine Viertelstunde im See zu toben, aber das war im Tageslicht gewesen, zwischen lauter Konfis, unter den Blicken von Pfarrern und Jugendreferenten und im unschuldigen Licht der Sonne. In der Dunkelheit und der Exklusivität ihrer vertrauten Clique hatte dieser Moment eine ganz andere Qualität und er fühlte trotz des kühlen Wassers Hitze in sich aufsteigen. Allerdings wurde die Romanze bereits im Keim erstickt, als Marvin sich brüllend auf Lilly stürzte und sie wie ein Seeungeheuer umklammerte. Lilly kreischte und kicherte abwechselnd und plötzlich war Ruben sich seiner Sache gar nicht mehr so sicher. Immer, wenn Marvin auftauchte, schien sie nur noch Augen für ihn zu haben.
„Esst mehr Erbsen!“, rief Jan-Eric, „Dann könnt ihr nachts im Bio-Whirlpool baden.“
„Oh, Jan-Eric, du bist so eklig!“, keifte Vanessa. „Ich halte ab sofort zehn Meter Abstand. Deine Faulgase sind definitiv schlimmer als die Fenjala-Wolke der Haubentaucher im Hallendbad.“
Nach einer halben Stunde hatte das nächtliche Bad alle Beteiligten erheblich ausgekühlt. Sie zogen sich schlotternd an und liefen eilig zum Platz zurück, um sich wieder aufzuwärmen. Erst auf halben Weg des Viertelstündlichen Fußmarsches stellten sie fest, dass jemand fehlte.
„Wo ist eigentlich Marvin?“, japste Lilly.
„Brauchte vielleicht einen Moment Ruhe.“, beruhigte Ruben sie und hoffte, die Erklärung würde ausreichen. Doch Lilly wurde unruhig.
„Wir müssen zurück und Marvin suchen, vielleicht ist ihm was passiert.“
„Was soll dem denn in dem Planschbecken passiert sein?“, fragte Jan-Eric in rauem Ton. „Keiner kann ihm auf den Kopf gesprungen sein, er ist nicht besoffen und wilde Ungeheuer gibt es in dem See auch nicht.“
„Aber er hätte bestimmt gesagt, dass er noch bleiben will.“, beharrte Lilly auf ihrem Standpunkt. „Ich kann mich auch nicht erinnern, dass er beim Anziehen dabei war.“
„Bestimmt war er dabei.“, meinte Jan-Eric im Brustton der Überzeugung.
„Also ich gehe jetzt zurück und suche ihn.“, erklärte Lilly entschlossen.
„Ich komme mit.“, sagte Ruben und legte schützend seine Hand um Lillys Schultern, deren Körper sich augenblicklich anspannte. War das nun, weil sie die unerwartete Nähe erregte und verlegen machte oder weil sie sich vor ihm ekelte? Er wurde unsicher, ließ seinen Arm wie zufällig wieder herunter gleiten und ging mit angemessenem Abstand neben ihr zurück zum See. Diesmal war die Schranke oben, aber er wäre das Risiko von eben nicht noch einmal eingegangen, schon gar nicht gemeinsam mit Lilly. Ruben zog sich aus, um den See abzusuchen, Lilly erklärte: „Ich glaube nicht, dass wir ihn finden, wenn er irgendwo am Grund liegt, aber vielleicht hat er sich ans Ufer geschleppt. Ich laufe einmal um den See rum.“
Das tat sie, während Ruben trotz aller Sinnlosigkeit verzweifelt nach Marvin tauchte. Plötzlich hörte er seinen Namen über den See hallen. Er ortete Lillys Ruf und schwamm zu der Insel, auf der sich der Hochseilgarten befand. Er musste nicht lange suchen, folgte nur Lillys Wimmern, die am Ufer saß und den nassen, ausgekühlten und ohnmächtigen Marvin in den Armen hielt und ihn schüttelte, damit er aufwachte.
„Hast du ihn gerade aus dem Wasser gezogen?“, rief Ruben erschrocken.
„Nein“, antwortete Lilly weinend. „Er lag hier einfach, aber er wacht nicht auf. Ich fühle seinen Puls nicht.“
„Hast du die Atmung kontrolliert?“
„Nein. Aber ich habe auch nicht das Gefühl, dass er atmet.“
Ruben bat Lilly, Marvin auf den Boden zu legen. Dann presste er seine Hände auf Brust und Rippen seines Freundes und nahm ein leichtes sich Heben und Senken des Brustkorbes wahr.
„Er atmet noch.“, erklärte Ruben erleichtert. „Wir müssen ihn aufwärmen, vielleicht wacht er dann auch wieder auf. Am besten wir rubbeln und massieren ihn gründlich durch. Dann hilft es auch wenn du ihn fest umarmst und was von deiner Körperwärme abgibst und ich laufe in der Zwischenzeit auf die andere Seite und hole seine Klamotten, damit wir ihm etwas anziehen können.“
Ruben rannte zu der Stelle, an der sie sich umgezogen hatten, doch er konnte Marvins Kleidung nirgendwo finden. Dann würde er ihm eben seine Sachen leihen. Es war zwar kühl, aber er blieb ja in Bewegung. Als er zurückkam, war Marvin tatsächlich aufgewacht.
„Ein Glück.“, stieß er erleichtert hervor. „Alter, was ist passiert?“
„Ich glaube, jemand hat versucht, mich umzubringen.“, stammelte Marvin.
„Wie das?“
„Ich bin ein Stück von euch weg geschwommen in Richtung Insel, weil ich Bock hatte, einmal kurz durch den Seilgarten zu turnen, also hier unten, nicht da, wo man abstürzen kann. Auf einmal hing ich mit dem Fuß irgendwo fest, so als wären da Schlingpflanzen. Ich hab gegengehalten und normalerweise reißen solche Pflanzen dann ab, aber das, was sich da um meinen Fuß klammerte, wurde immer fester und zog mich runter. Als ich fast schon dachte, jetzt ist es vorbei, hat es mich los gelassen und ich bin an die Oberfläche gekommen, aber dann hat mich was von hinten angesprungen und wieder unter Wasser gedrückt. Ich habe euch noch von weitem gehört, aber ich konnte ja nicht um Hilfe schreien. Irgendwann hab ich dann instinktiv dem Typen in die Eier getreten. Er hat laut geschrien, nach Luft geschnappt und sich verpisst. Ich bin mit letzter Kraft an Land geschwommen und auf die Insel geklettert, das war super anstrengend, weil hier ja kein flaches Ufer ist. Und als ich endlich an Land war, war ich plötzlich weg.“
„Scheiße, das müssen wir Sabrina erzählen.“, sagte Lilly.
„Bist du bescheuert?“, wies Ruben sie zurecht. „Die rasiert uns die Eier und wir dürfen nie wieder ins Konfi-Camp mitfahren.“
„Kapierst du denn nicht, was hier los ist?“, schrie Lilly ihn an. „Hier läuft ein Killer rum. Wer weiß, wen er sich als Nächstes vorknöpft.“
„Scheiße, ja.“, erwiderte Ruben. „Ich glaube, als ich eben gekommen bin, hat auch einer versucht, mir das Licht auszublasen. Ich dachte zwischendurch, dass ich nur dumm gestolpert bin, aber jetzt glaube ich, da hat mich einer geschubst.“
„Wo denn?“, keuchte Marvin.
„Auf den Bahnschienen, als gerade ein Zug kam. Ich bin über die Schranke geklettert, weil sie gerade erst runter gegangen war und da hat mich irgendwas umgehauen - oder eben irgendwer.“
Als die Jugendreferentin hörte, was passiert war, reagierte sie zuerst schockiert, danach erleichtert, dass alle noch gesund und am Leben waren und schließlich verärgert, dass sie sich mutwillig in solche Gefahr gebracht hatten.
„Weil ihr so ehrlich seid, würde ich euch künftig nicht von weiteren Camps ausschließen, aber wir müssen das gründlich aufarbeiten und ich muss mich in Zukunft darauf verlassen können, dass so etwas nie wieder vorkommt. Keine Mutproben, keine nächtlichen Bäder ohne DLRG-Aufsicht. Ist das klar?“
„Ja natürlich.“, nuschelte Ruben betreten.
„Ich setze mich jetzt mit dem Leitungsteam in Verbindung und ich denke, wir werden die Polizei einschalten. Achtet darauf, dass keiner irgendwo allein hingeht und verlasst das Gelände nicht.“
Wim war jetzt wieder warm und trocken. Er stand hinter seinem Baum und wartete. Er würde sie schon noch erwischen, all diese selbstbewussten Jungs, die voll im Saft standen und den Mädchen wie selbstverständlich an die Wäsche gingen und ihre vollendete Unschuld schamlos beschmutzten. Seit Tagen beobachtete er sie und hatte seine Wahl getroffen, und er würde sein Ziel erreichen, genau wie im letzten Jahr an der Nordsee. Er war ein Racheengel, der Engel der Reinheit, der die Welt säuberte von allem Übel, so dass die Unschuld und Reinheit weiter erstrahlen konnte, schon hier und jetzt und nicht erst im Paradies.
Er musste nicht lange warten. Der Koloss, der mit seinen Blähungen geprotzt hatte, kam den Weg entlang. Er trug etwas bei sich. „Ja“, raunte Wim fast lautlos. „Komm du nur und versuch mich zu jagen. Du wirst schneller zum Gejagten, als du einen Furz lassen kannst.“
Als die Schranke sich schloss, schoss Wim das Adrenalin ins Blut. Er setzte zum Sprung an. Wie er erwartet hatte, sprang der Koloss über die Schranke. Er sprang blitzschnell hinterher, doch diesmal war er zu langsam, der Koloss hatte schon die zweite Schranke erreicht, als er beim verzweifelten Versuch, ihn zurück zu zerren umknickte und stürzte. Das Letzte, was er sah, waren die Lichter, das Letzte, was er hörte, das Rauschen des Zuges und das Signal. Dann stürzte er in die Ewigkeit.
Wim van Geldern wurde in den frühen Morgenstunden von der Gerichtsmedizin identifiziert. Ein unauffälliger, einsamer Mann mittleren Alters, der in einem winzigen Apartment in Zwolle gelebt hatte. Ein Niemand, ohne Angehörige, mit einem Job in einer Reinigungsfirma. Eine Mordserie in einem Camp an der Nordsee im vergangenen Jahr hatte sich zeitgleich mit seinem Jahresurlaub ereignet. Die Polizei schloss den Fall ab. Das Konfi-Camp ging für die meisten fröhlich zu Ende, nur die, die miterlebt hatten, was in der furchtbaren Nacht geschehen war, waren sich nicht mehr so sicher, ob sie jemals wieder an einem Konfi-Camp teilnehmen wollten.
Er joggte an den Bahnschienen entlang, bis er schließlich an der Schranke ankam, die gerade dabei war, sich zu schließen.
„Scheiß der Hund drauf.“, dachte er, „Züge kommen frühestens eine Minute, nachdem die Schranke unten ist.“
Er legte eine passable Hockwende über die Schranke hin, hatte die nächste in Gedanken auch schon übersprungen, als ihn plötzlich etwas zu Boden riss. Er schlug hart mit dem Kopf auf und wie durch dichten Nebel nahm er in seiner Benommenheit wahr, wie der Zug sich unaufhaltsam näherte. Mit letzter Kraft rappelte er sich auf und warf sich über die Schranke, wenn auch nicht so elegant wie beim ersten Sprung. Schneidend und ratternd rauschte die Bahn an ihm vorbei und er musste sich einen Augenblick sammeln, bevor er wieder einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Er blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, dabei hätte er schwören können, dass ihn jemand gestoßen hatte. „Wahrscheinlich bin ich doch nur dumm gestolpert.“, murmelte er. Und weil er sich nicht ernsthaft verletzt fühlte, ging er weiter seinem ursprünglichen Ziel entgegen.
Er hörte sie schon planschen und kreischen: Vanessas unverkennbares Gekicher, die überlauten Aufprall- und Verdrängungsgeräusche, wenn Jan-Eric sich von der schwimmenden Insel ins Wasser plumpsen ließ und viele weitere fröhliche Stimmen, die er nicht eindeutig zuordnen konnte. Es waren vor allem die jungen, erwachsenen Mitarbeiter, die zum nächtlichen Badegaudi zusammenkamen, nichts wirklich Verbotenes, aber trotzdem geschah es im Geheimen, weil es von der Camp-Leitung nicht gern gesehen wurde.
Die Nacht war lau und das Wasser im See von der Hitze des Tages fast so warm wie in der Badewanne. Ruben stieß in der Dunkelheit mit jemandem zusammen. Im ersten Moment erschrak er, doch dann stellte er fest, dass es sich um Lilly handelte, die erst ein atemloses Sorry hauchte und dann verlegen kicherte. Er hatte das beflügelnde Gefühl, dass sie sich in den letzten Tagen tatsächlich nähergekommen waren, immer wenn sie sich auf dem Gelände begegneten, hielten sie ein belangloses Schwätzchen, scherzten und neckten sich gegenseitig. Und bei jedem Blick glänzten ihre Augen ein bisschen mehr, manchmal glaubte er sogar, eine zarte Rötung ihrer Wangen zu bemerken. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihre fast nackten Körper sich unter Wasser berührten, hatten sie doch täglich eine Gelegenheit gefunden, wenigstens eine Viertelstunde im See zu toben, aber das war im Tageslicht gewesen, zwischen lauter Konfis, unter den Blicken von Pfarrern und Jugendreferenten und im unschuldigen Licht der Sonne. In der Dunkelheit und der Exklusivität ihrer vertrauten Clique hatte dieser Moment eine ganz andere Qualität und er fühlte trotz des kühlen Wassers Hitze in sich aufsteigen. Allerdings wurde die Romanze bereits im Keim erstickt, als Marvin sich brüllend auf Lilly stürzte und sie wie ein Seeungeheuer umklammerte. Lilly kreischte und kicherte abwechselnd und plötzlich war Ruben sich seiner Sache gar nicht mehr so sicher. Immer, wenn Marvin auftauchte, schien sie nur noch Augen für ihn zu haben.
„Esst mehr Erbsen!“, rief Jan-Eric, „Dann könnt ihr nachts im Bio-Whirlpool baden.“
„Oh, Jan-Eric, du bist so eklig!“, keifte Vanessa. „Ich halte ab sofort zehn Meter Abstand. Deine Faulgase sind definitiv schlimmer als die Fenjala-Wolke der Haubentaucher im Hallendbad.“
Nach einer halben Stunde hatte das nächtliche Bad alle Beteiligten erheblich ausgekühlt. Sie zogen sich schlotternd an und liefen eilig zum Platz zurück, um sich wieder aufzuwärmen. Erst auf halben Weg des Viertelstündlichen Fußmarsches stellten sie fest, dass jemand fehlte.
„Wo ist eigentlich Marvin?“, japste Lilly.
„Brauchte vielleicht einen Moment Ruhe.“, beruhigte Ruben sie und hoffte, die Erklärung würde ausreichen. Doch Lilly wurde unruhig.
„Wir müssen zurück und Marvin suchen, vielleicht ist ihm was passiert.“
„Was soll dem denn in dem Planschbecken passiert sein?“, fragte Jan-Eric in rauem Ton. „Keiner kann ihm auf den Kopf gesprungen sein, er ist nicht besoffen und wilde Ungeheuer gibt es in dem See auch nicht.“
„Aber er hätte bestimmt gesagt, dass er noch bleiben will.“, beharrte Lilly auf ihrem Standpunkt. „Ich kann mich auch nicht erinnern, dass er beim Anziehen dabei war.“
„Bestimmt war er dabei.“, meinte Jan-Eric im Brustton der Überzeugung.
„Also ich gehe jetzt zurück und suche ihn.“, erklärte Lilly entschlossen.
„Ich komme mit.“, sagte Ruben und legte schützend seine Hand um Lillys Schultern, deren Körper sich augenblicklich anspannte. War das nun, weil sie die unerwartete Nähe erregte und verlegen machte oder weil sie sich vor ihm ekelte? Er wurde unsicher, ließ seinen Arm wie zufällig wieder herunter gleiten und ging mit angemessenem Abstand neben ihr zurück zum See. Diesmal war die Schranke oben, aber er wäre das Risiko von eben nicht noch einmal eingegangen, schon gar nicht gemeinsam mit Lilly. Ruben zog sich aus, um den See abzusuchen, Lilly erklärte: „Ich glaube nicht, dass wir ihn finden, wenn er irgendwo am Grund liegt, aber vielleicht hat er sich ans Ufer geschleppt. Ich laufe einmal um den See rum.“
Das tat sie, während Ruben trotz aller Sinnlosigkeit verzweifelt nach Marvin tauchte. Plötzlich hörte er seinen Namen über den See hallen. Er ortete Lillys Ruf und schwamm zu der Insel, auf der sich der Hochseilgarten befand. Er musste nicht lange suchen, folgte nur Lillys Wimmern, die am Ufer saß und den nassen, ausgekühlten und ohnmächtigen Marvin in den Armen hielt und ihn schüttelte, damit er aufwachte.
„Hast du ihn gerade aus dem Wasser gezogen?“, rief Ruben erschrocken.
„Nein“, antwortete Lilly weinend. „Er lag hier einfach, aber er wacht nicht auf. Ich fühle seinen Puls nicht.“
„Hast du die Atmung kontrolliert?“
„Nein. Aber ich habe auch nicht das Gefühl, dass er atmet.“
Ruben bat Lilly, Marvin auf den Boden zu legen. Dann presste er seine Hände auf Brust und Rippen seines Freundes und nahm ein leichtes sich Heben und Senken des Brustkorbes wahr.
„Er atmet noch.“, erklärte Ruben erleichtert. „Wir müssen ihn aufwärmen, vielleicht wacht er dann auch wieder auf. Am besten wir rubbeln und massieren ihn gründlich durch. Dann hilft es auch wenn du ihn fest umarmst und was von deiner Körperwärme abgibst und ich laufe in der Zwischenzeit auf die andere Seite und hole seine Klamotten, damit wir ihm etwas anziehen können.“
Ruben rannte zu der Stelle, an der sie sich umgezogen hatten, doch er konnte Marvins Kleidung nirgendwo finden. Dann würde er ihm eben seine Sachen leihen. Es war zwar kühl, aber er blieb ja in Bewegung. Als er zurückkam, war Marvin tatsächlich aufgewacht.
„Ein Glück.“, stieß er erleichtert hervor. „Alter, was ist passiert?“
„Ich glaube, jemand hat versucht, mich umzubringen.“, stammelte Marvin.
„Wie das?“
„Ich bin ein Stück von euch weg geschwommen in Richtung Insel, weil ich Bock hatte, einmal kurz durch den Seilgarten zu turnen, also hier unten, nicht da, wo man abstürzen kann. Auf einmal hing ich mit dem Fuß irgendwo fest, so als wären da Schlingpflanzen. Ich hab gegengehalten und normalerweise reißen solche Pflanzen dann ab, aber das, was sich da um meinen Fuß klammerte, wurde immer fester und zog mich runter. Als ich fast schon dachte, jetzt ist es vorbei, hat es mich los gelassen und ich bin an die Oberfläche gekommen, aber dann hat mich was von hinten angesprungen und wieder unter Wasser gedrückt. Ich habe euch noch von weitem gehört, aber ich konnte ja nicht um Hilfe schreien. Irgendwann hab ich dann instinktiv dem Typen in die Eier getreten. Er hat laut geschrien, nach Luft geschnappt und sich verpisst. Ich bin mit letzter Kraft an Land geschwommen und auf die Insel geklettert, das war super anstrengend, weil hier ja kein flaches Ufer ist. Und als ich endlich an Land war, war ich plötzlich weg.“
„Scheiße, das müssen wir Sabrina erzählen.“, sagte Lilly.
„Bist du bescheuert?“, wies Ruben sie zurecht. „Die rasiert uns die Eier und wir dürfen nie wieder ins Konfi-Camp mitfahren.“
„Kapierst du denn nicht, was hier los ist?“, schrie Lilly ihn an. „Hier läuft ein Killer rum. Wer weiß, wen er sich als Nächstes vorknöpft.“
„Scheiße, ja.“, erwiderte Ruben. „Ich glaube, als ich eben gekommen bin, hat auch einer versucht, mir das Licht auszublasen. Ich dachte zwischendurch, dass ich nur dumm gestolpert bin, aber jetzt glaube ich, da hat mich einer geschubst.“
„Wo denn?“, keuchte Marvin.
„Auf den Bahnschienen, als gerade ein Zug kam. Ich bin über die Schranke geklettert, weil sie gerade erst runter gegangen war und da hat mich irgendwas umgehauen - oder eben irgendwer.“
Als die Jugendreferentin hörte, was passiert war, reagierte sie zuerst schockiert, danach erleichtert, dass alle noch gesund und am Leben waren und schließlich verärgert, dass sie sich mutwillig in solche Gefahr gebracht hatten.
„Weil ihr so ehrlich seid, würde ich euch künftig nicht von weiteren Camps ausschließen, aber wir müssen das gründlich aufarbeiten und ich muss mich in Zukunft darauf verlassen können, dass so etwas nie wieder vorkommt. Keine Mutproben, keine nächtlichen Bäder ohne DLRG-Aufsicht. Ist das klar?“
„Ja natürlich.“, nuschelte Ruben betreten.
„Ich setze mich jetzt mit dem Leitungsteam in Verbindung und ich denke, wir werden die Polizei einschalten. Achtet darauf, dass keiner irgendwo allein hingeht und verlasst das Gelände nicht.“
Wim war jetzt wieder warm und trocken. Er stand hinter seinem Baum und wartete. Er würde sie schon noch erwischen, all diese selbstbewussten Jungs, die voll im Saft standen und den Mädchen wie selbstverständlich an die Wäsche gingen und ihre vollendete Unschuld schamlos beschmutzten. Seit Tagen beobachtete er sie und hatte seine Wahl getroffen, und er würde sein Ziel erreichen, genau wie im letzten Jahr an der Nordsee. Er war ein Racheengel, der Engel der Reinheit, der die Welt säuberte von allem Übel, so dass die Unschuld und Reinheit weiter erstrahlen konnte, schon hier und jetzt und nicht erst im Paradies.
Er musste nicht lange warten. Der Koloss, der mit seinen Blähungen geprotzt hatte, kam den Weg entlang. Er trug etwas bei sich. „Ja“, raunte Wim fast lautlos. „Komm du nur und versuch mich zu jagen. Du wirst schneller zum Gejagten, als du einen Furz lassen kannst.“
Als die Schranke sich schloss, schoss Wim das Adrenalin ins Blut. Er setzte zum Sprung an. Wie er erwartet hatte, sprang der Koloss über die Schranke. Er sprang blitzschnell hinterher, doch diesmal war er zu langsam, der Koloss hatte schon die zweite Schranke erreicht, als er beim verzweifelten Versuch, ihn zurück zu zerren umknickte und stürzte. Das Letzte, was er sah, waren die Lichter, das Letzte, was er hörte, das Rauschen des Zuges und das Signal. Dann stürzte er in die Ewigkeit.
Wim van Geldern wurde in den frühen Morgenstunden von der Gerichtsmedizin identifiziert. Ein unauffälliger, einsamer Mann mittleren Alters, der in einem winzigen Apartment in Zwolle gelebt hatte. Ein Niemand, ohne Angehörige, mit einem Job in einer Reinigungsfirma. Eine Mordserie in einem Camp an der Nordsee im vergangenen Jahr hatte sich zeitgleich mit seinem Jahresurlaub ereignet. Die Polizei schloss den Fall ab. Das Konfi-Camp ging für die meisten fröhlich zu Ende, nur die, die miterlebt hatten, was in der furchtbaren Nacht geschehen war, waren sich nicht mehr so sicher, ob sie jemals wieder an einem Konfi-Camp teilnehmen wollten.
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Freitag, 15. Juli 2016
Erntedankfest – abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 22:04h
„...Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.“
Gemessenen Schrittes verließ der Lektor das Lesepult und steuerte seinen Sitzplatz in der ersten Bankreihe an. Wie ein magisches Rad leuchtete die gewaltige Erntekrone über ihm, als er in die Vierung trat. In drei Wochen mühevoller Handarbeit hatten acht Landfrauen dieses groteske Kunstwerk aus Stroh, Draht,Trockenblumen und Schleifen hergestellt und nur mit Hilfe der freiwilligen Feuerwehr konnte das drei Meter hohe Schmuckstück von zwei Meter Durchmesser an dem stabilen Haken im Dachfirst aufgehängt werden. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Lektor Johann Witte einen Heiligenschein und manch einer glaubte sogar, das Flügelrauschen himmlischer Heerscharen zu vernehmen. Als die Sekunde vorüber war, stand die Erntekrone auf dem Boden und zierte Johann Wittes Kopf ganz unmittelbar, nur dass er selbst dieses Phänomen nicht wahrzunehmen schien, weil er bewusstlos am Boden lag.
„Genickbruch“, stellte die Gerichtsmedizinerin fest. „Die Kollegen von der KTU untersuchen gerade die Aufhängung. Vielleicht hat da jemand dran manipuliert.“
„Dann wäre es wohl Mord.“, bemerkte Kriminalhauptkommissar Stefan Keller.
„Oder fahrlässige Tötung.“, überlegte seine junge Kollegin Sabine Kerkenbrock. „Wie wahrscheinlich ist es, dass so ein Gerät genau im richtigen Moment im richtigen Winkel abstürzt? Es könnte doch auch sein, dass jemand nur mit einem Knalleffekt im Gottesdienst rumschocken wollte und gar nicht damit gerechnet hat, dass die Vierung durchquert wird.“
„Die was?“
„Ich verstehe Ihre Frage nicht.“
„Wie heißt das, von dem der Täter nicht vermutet hat, dass es durchquert wird?“
„Ach so. Die Vierung.“
„Und was ist das?“
„Der Knotenpunkt, sozusagen der Kreuzungsbereich zwischen Längsschiff und Querschiff. Der Grundriss der Kirche hat ja eine Kreuzform und das Rechteck, in dem die beiden imaginären Balken sich überlagern, nennt man Vierung.“
„Woher wissen Sie so etwas?“
„Keine Ahnung. Woher wissen Sie, dass die Erde um die Sonne kreist?“
„Tut sie das?“
„Ach, Herr Keller, lassen wir das. Da vorn ist der Pfarrer. Vielleicht kann der uns weiterhelfen.“
Kerkenbrock ging auf ihn zu. „Entschuldigen Sie, ich bin Sabine Kerkenbrock von der Kriminalpolizei Bielefeld. Hätten Sie einen Moment Zeit für ein paar Fragen?“
Der Pfarrer, ein unscheinbarer Typ der offensichtlich den Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu seinem Lebensthema auserkoren hatte, sah sie nur kurz unwillig an und ließ den Blick dann hektisch in der Kirche umher schweifen.
„Tut mir leid, aber ich muss mich hier jetzt erst einmal um einiges kümmern. Ich suche unseren Küster und einen Verantwortlichen der freiwilligen Feuerwehr, denn irgendjemand hat hier offenbar schlampig gearbeitet.“
Dann rauschte er ohne eine Reaktion abzuwarten von dannen, weil er offenkundig jemanden von denen, die er suchte in der aufgeregten Menge entdeckt hatte.
Eine Dame zwischen fünfzig und sechzig Jahren, mit großen, übertrieben wachen Augen trat an Kerkenbrock heran. Sie war etwas voll um die Hüften und trug daher über einer schmal geschnittenen, petrolfarbenen Kordhose eine weit schwingende weiße Bluse. In ihrem Nacken lag locker ein bunter Seidenschal mit Farbverlauf überwiegend in Grün- und Blautönen, die perfekt mit der Farbe der Hose harmonierten. Sie öffnete die runden, zartrosa pomadierten Lippen die vom dichten Flaum des Klimakteriumsdamenbartes gesäumt waren. „Vielleicht kann ich Ihnen weiter helfen.“, erklärte sie, „der Pfarrer ist ja viel zu beschäftigt. Mir ist da nämlich etwas aufgefallen. Wissen Sie, Johann Witte hat mit mir im Gospelchor gesungen, darum kenne ich ihn ganz gut. Er war ein äußerst vermögender Holzhändler, der auch wohl deshalb finanziell so weit gekommen ist, weil er laxer Zahlungsmoral von Kunden immer aufs entschiedenste entgegengetreten ist. Nun hat er ja ausgerechnet heute den Text vom reichen Kornbauer gelesen. Wer sich mit Gottesdienst und Kirchenjahr einigermaßen auskennt, wusste das schon vorher, auch wer lesen würde, denn das steht ja im Lektorenplan und der hängt im Gemeindehaus. Also in dem Text ging es um einen reichen Bauern, der sich immer Sorgen machte, ob er auch eine reiche Ernte einfahren könnte. Und dann hat er so viel Ertrag, dass er gar nicht weiß, wohin damit. Aber statt die Überschüsse an die Armen zu verschenken, lässt er riesige Scheunen bauen, um große Vorräte anzulegen. Als alles fertig ist, geht er am Abend zufrieden schlafen und ist beruhigt und gut gelaunt. Und da sagt Gott zu ihm, dass er ein Narr ist, weil er noch in dieser Nacht sterben wird und dass ihm dort, wo er dann sein wird, diese ganzen Reichtümer gar nichts nützen werden.“
„Und Sie meinen Herr Witte hat sich so verhalten wie dieser reiche Bauer?“
„Allerdings. Wissen Sie, bei uns im Gospelchor singt auch Marco Steinkämper und der hat einen kleinen Betrieb, eine Tischlerei. Er ist Meister und hat drei Angestellte. Vor ein paar Monaten hat er eine umfangreiche Holzlieferung von Witte bekommen, weil er einen großen Auftrag an Land gezogen hatte, einen kompletten Innenausbau mit Treppen, Türen, Rigips und Fußböden. Das war toll für seine Firma, nur hat der Kunde noch nicht bezahlt und die vielen kleinen Kunden sind teilweise abgesprungen, weil er über längere Zeit keine Aufträge annehmen konnte. Ihm steht das Wasser bis zum Hals, aber Witte bestand auf fristgerechter Zahlung und wenn seine Frau in dem Stil weitermacht, ist Marco Steinkämper in ein paar Wochen pleite. Es könnte doch sein, dass da irgendwem der Kragen geplatzt ist. Und wenn es nicht Marco war, dann vielleicht ein guter Freund, der meinte, ihm das schuldig zu sein oder einer seiner Gesellen.“
„Das wäre nicht undenkbar.“, gab Kerkenbrock ihr Recht. „Aber bitte, tun Sie mir den Gefallen und behalten Ihre Beobachtungen und Schlussfolgerungen vorerst für sich, auch in ihrem eigenen Interesse. Denn wenn der Mörder spitzkriegt, dass Sie über derartig umfangreiche Erkenntnisse verfügen, könnten Sie das nächste Opfer sein. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, Ihre Anschrift und Telefonnummer?“
„Aber selbstverständlich. Annerose Hecht.“
Die eifrige Zeugin reichte Kerkenbrock eine Visitenkarte und verließ würdig schreitend das Gebäude.
„Ich weiß ja nicht, was dieser üppige Paradiesvogel Ihnen verraten hat“, raunte Keller seiner jungen Kollegin ins Ohr, „aber ich habe gerade von der Spusi erfahren, dass an der Aufhängung auf ganz absonderliche Weise manipuliert worden ist.“
„Absonderlich inwiefern?“, fragte Kerkenbrock.
„Nun, der Täter oder die Täterin hat den den Haken im First, an dem das Nylonseil mit einem Bulinknoten eingehängt war unter Strom gesetzt. Die Hitze hat das Seil durchschmoren lassen, bis es zu schwach war, die schwergewichtige Krone zu halten. Den Zeitpunkt für den Absturz kann man berechnen, wenn man Ahnung davon hat und wenn nicht, kann man das sicherlich im Internet herausfinden..“
„Wie hat er denn den Haken unter Strom gesetzt?“
„Er hat an den Lichtleitungen manipuliert. Einen Draht an den Haken geführt und im passenden Moment den Lichtschalter betätigt.“
„Gibt das keinen Kurzschluss?“
„Kann man alles austricksen. Es ist ja auch kein Fi-Schutzschalter rausgeflogen. Es sollte wohl jemand zu Werke gegangen sein, der sich mit Elektrik gut auskennt – oder eben jemand, der sich lang und schmutzig in das Thema eingelesen hat. Vor allem aber jemand, der nach Anbringung der Krone Zugang zur Kirche hatte, über eine hohe Leiter verfügte und Gelegenheit hatte, lang und schmutzig an den Kabeln herumzubasteln.“
Inzwischen hatte Der Pfarrer endlich den Küster ausfindig gemacht, den er ebenso zur Rede stellen wollte, wie die Verantwortlichen der Feuerwehr. Die Information bezüglich der manipulierten Stromleitungen war noch nicht zu ihm durchgedrungen, er glaubte weiterhin an schlichte Schlamperei. Neben der Sakristei sprach er seinen Angestellten nun an.
„Hab ich Sie endlich Gefunden, Herr Kleemann.“, fauchte der Pfarrer. „Zuerst mähen Sie den Rasen nicht, weil Sie angeblich zu viel mit der Erntekrone zu tun haben und dann machen Sie das auch noch nicht einmal richtig! Und jetzt gibt es einen Toten. Ihnen ist ja wohl klar, dass die Kündigung damit jetzt endgültig fällig ist.“
„Wieso geben Sie mir die Schuld?“, zischte der Küster zurück. „Ich habe die Krone nicht aufgehängt, ich musste die Handwerker nur unterstützten: Licht an , Licht aus, Werkzeug holen, Leiter hier, Leiter da.“
„Sie sollten die Arbeiten überwachen. Für die Schlampereien sind Sie persönlich verantwortlich. Sie müssen gar nicht versuchen, sich herauszureden.“
„Für mich sah alles ganz normal aus, so wie im letzten Jahr. Vielleicht hat da jemand heimlich und absichtlich einen Fehler gemacht, weil er es auf Herrn Witte abgesehen hatte. Aber ich hatte nichts gegen Herrn Witte, der hat mich immer anständig behandelt.“
In den Augen des Küsters glitzerten Tränen. In seinem Kopf lief ein Film im Zeitraffer: Sein hoffnungsvoller Dienstantritt in der Gemeinde vor 14 Jahren, die Freude nicht nur Hausmeister zu sein, sondern auch ein geistliches Amt auszuüben, das hohes Ansehen genoss. Dann die ersten Demütigungen: Wie man selbstverständlich von ihm erwartet hatte, dass er jedes Problem ohne Unterstützung löste, er könne doch seine Familie mit einspannen, wenn er Hundebesitzer bat, ihre Tiere nicht auf die Wiese kacken zu lassen und von denen als Lakai beschimpft wurde, den man schließlich dafür bezahle, dass er die Scheiße wegräume, durfte er sich nicht wehren, sollte alles herunter schlucken und freundlich bleiben. Niemand setzte sich für ihn ein, man verlangte nur, dass alles funktionierte und das mit immer weniger Stunden, immer weniger ehrenamtlichen Helfern und immer geringeren Finanzmitteln für Werkzeug, Putzutensilien und so weiter. Zwei Mal war ihm in den vergangenen drei Jahren der Kragen geplatzt:er hatte sich einmal ermächtigt, ein Gemeindefest vorzeitig zu verlassen, ein anderes Mal Mitglieder des Presbyteriums mit einer Schimpftirade übergossen. Jedes Mal hatte er eine Abmahnung erhalten. Als er gestern klipp und klar gesagt hatte, dass er den Rasen erst am Montag mähen könne, weil er dafür am Samstag keine Zeit mehr habe, hatte der Pfarrer angedeutet, dass dies wohl der dritte Vorfall auf dem Weg zur Kündigung sei und einer solchen nun nichts mehr im Wege stehe. Jetzt stand der erbarmungslose Vorgesetzte ihm gegenüber und blaffte ihn an.
„Natürlich hat Herr Witte Sie anständig behandelt, wie im übrigen jeder hier in der Gemeinde. Der Einzige, der seine Mitmenschen hier nicht anständig behandelt, sind Sie!“
Wütend wandte der Pfarrer sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um: „Und glauben Sie nicht, dass irgendeine Mitarbeitervertretung Sie noch einmal retten kann. Diesmal haben Sie einen Fehler gemacht, den Sie nicht mehr ausbügeln können.“
Der Pfarrer verschwand in der Sakristei. Der Küster blickte ihm nach und murmelte: „Ja, da ist mir wirklich ein schwerwiegender Fehler unterlaufen. Es hat leider den Falschen getroffen.“
Gemessenen Schrittes verließ der Lektor das Lesepult und steuerte seinen Sitzplatz in der ersten Bankreihe an. Wie ein magisches Rad leuchtete die gewaltige Erntekrone über ihm, als er in die Vierung trat. In drei Wochen mühevoller Handarbeit hatten acht Landfrauen dieses groteske Kunstwerk aus Stroh, Draht,Trockenblumen und Schleifen hergestellt und nur mit Hilfe der freiwilligen Feuerwehr konnte das drei Meter hohe Schmuckstück von zwei Meter Durchmesser an dem stabilen Haken im Dachfirst aufgehängt werden. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Lektor Johann Witte einen Heiligenschein und manch einer glaubte sogar, das Flügelrauschen himmlischer Heerscharen zu vernehmen. Als die Sekunde vorüber war, stand die Erntekrone auf dem Boden und zierte Johann Wittes Kopf ganz unmittelbar, nur dass er selbst dieses Phänomen nicht wahrzunehmen schien, weil er bewusstlos am Boden lag.
„Genickbruch“, stellte die Gerichtsmedizinerin fest. „Die Kollegen von der KTU untersuchen gerade die Aufhängung. Vielleicht hat da jemand dran manipuliert.“
„Dann wäre es wohl Mord.“, bemerkte Kriminalhauptkommissar Stefan Keller.
„Oder fahrlässige Tötung.“, überlegte seine junge Kollegin Sabine Kerkenbrock. „Wie wahrscheinlich ist es, dass so ein Gerät genau im richtigen Moment im richtigen Winkel abstürzt? Es könnte doch auch sein, dass jemand nur mit einem Knalleffekt im Gottesdienst rumschocken wollte und gar nicht damit gerechnet hat, dass die Vierung durchquert wird.“
„Die was?“
„Ich verstehe Ihre Frage nicht.“
„Wie heißt das, von dem der Täter nicht vermutet hat, dass es durchquert wird?“
„Ach so. Die Vierung.“
„Und was ist das?“
„Der Knotenpunkt, sozusagen der Kreuzungsbereich zwischen Längsschiff und Querschiff. Der Grundriss der Kirche hat ja eine Kreuzform und das Rechteck, in dem die beiden imaginären Balken sich überlagern, nennt man Vierung.“
„Woher wissen Sie so etwas?“
„Keine Ahnung. Woher wissen Sie, dass die Erde um die Sonne kreist?“
„Tut sie das?“
„Ach, Herr Keller, lassen wir das. Da vorn ist der Pfarrer. Vielleicht kann der uns weiterhelfen.“
Kerkenbrock ging auf ihn zu. „Entschuldigen Sie, ich bin Sabine Kerkenbrock von der Kriminalpolizei Bielefeld. Hätten Sie einen Moment Zeit für ein paar Fragen?“
Der Pfarrer, ein unscheinbarer Typ der offensichtlich den Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu seinem Lebensthema auserkoren hatte, sah sie nur kurz unwillig an und ließ den Blick dann hektisch in der Kirche umher schweifen.
„Tut mir leid, aber ich muss mich hier jetzt erst einmal um einiges kümmern. Ich suche unseren Küster und einen Verantwortlichen der freiwilligen Feuerwehr, denn irgendjemand hat hier offenbar schlampig gearbeitet.“
Dann rauschte er ohne eine Reaktion abzuwarten von dannen, weil er offenkundig jemanden von denen, die er suchte in der aufgeregten Menge entdeckt hatte.
Eine Dame zwischen fünfzig und sechzig Jahren, mit großen, übertrieben wachen Augen trat an Kerkenbrock heran. Sie war etwas voll um die Hüften und trug daher über einer schmal geschnittenen, petrolfarbenen Kordhose eine weit schwingende weiße Bluse. In ihrem Nacken lag locker ein bunter Seidenschal mit Farbverlauf überwiegend in Grün- und Blautönen, die perfekt mit der Farbe der Hose harmonierten. Sie öffnete die runden, zartrosa pomadierten Lippen die vom dichten Flaum des Klimakteriumsdamenbartes gesäumt waren. „Vielleicht kann ich Ihnen weiter helfen.“, erklärte sie, „der Pfarrer ist ja viel zu beschäftigt. Mir ist da nämlich etwas aufgefallen. Wissen Sie, Johann Witte hat mit mir im Gospelchor gesungen, darum kenne ich ihn ganz gut. Er war ein äußerst vermögender Holzhändler, der auch wohl deshalb finanziell so weit gekommen ist, weil er laxer Zahlungsmoral von Kunden immer aufs entschiedenste entgegengetreten ist. Nun hat er ja ausgerechnet heute den Text vom reichen Kornbauer gelesen. Wer sich mit Gottesdienst und Kirchenjahr einigermaßen auskennt, wusste das schon vorher, auch wer lesen würde, denn das steht ja im Lektorenplan und der hängt im Gemeindehaus. Also in dem Text ging es um einen reichen Bauern, der sich immer Sorgen machte, ob er auch eine reiche Ernte einfahren könnte. Und dann hat er so viel Ertrag, dass er gar nicht weiß, wohin damit. Aber statt die Überschüsse an die Armen zu verschenken, lässt er riesige Scheunen bauen, um große Vorräte anzulegen. Als alles fertig ist, geht er am Abend zufrieden schlafen und ist beruhigt und gut gelaunt. Und da sagt Gott zu ihm, dass er ein Narr ist, weil er noch in dieser Nacht sterben wird und dass ihm dort, wo er dann sein wird, diese ganzen Reichtümer gar nichts nützen werden.“
„Und Sie meinen Herr Witte hat sich so verhalten wie dieser reiche Bauer?“
„Allerdings. Wissen Sie, bei uns im Gospelchor singt auch Marco Steinkämper und der hat einen kleinen Betrieb, eine Tischlerei. Er ist Meister und hat drei Angestellte. Vor ein paar Monaten hat er eine umfangreiche Holzlieferung von Witte bekommen, weil er einen großen Auftrag an Land gezogen hatte, einen kompletten Innenausbau mit Treppen, Türen, Rigips und Fußböden. Das war toll für seine Firma, nur hat der Kunde noch nicht bezahlt und die vielen kleinen Kunden sind teilweise abgesprungen, weil er über längere Zeit keine Aufträge annehmen konnte. Ihm steht das Wasser bis zum Hals, aber Witte bestand auf fristgerechter Zahlung und wenn seine Frau in dem Stil weitermacht, ist Marco Steinkämper in ein paar Wochen pleite. Es könnte doch sein, dass da irgendwem der Kragen geplatzt ist. Und wenn es nicht Marco war, dann vielleicht ein guter Freund, der meinte, ihm das schuldig zu sein oder einer seiner Gesellen.“
„Das wäre nicht undenkbar.“, gab Kerkenbrock ihr Recht. „Aber bitte, tun Sie mir den Gefallen und behalten Ihre Beobachtungen und Schlussfolgerungen vorerst für sich, auch in ihrem eigenen Interesse. Denn wenn der Mörder spitzkriegt, dass Sie über derartig umfangreiche Erkenntnisse verfügen, könnten Sie das nächste Opfer sein. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, Ihre Anschrift und Telefonnummer?“
„Aber selbstverständlich. Annerose Hecht.“
Die eifrige Zeugin reichte Kerkenbrock eine Visitenkarte und verließ würdig schreitend das Gebäude.
„Ich weiß ja nicht, was dieser üppige Paradiesvogel Ihnen verraten hat“, raunte Keller seiner jungen Kollegin ins Ohr, „aber ich habe gerade von der Spusi erfahren, dass an der Aufhängung auf ganz absonderliche Weise manipuliert worden ist.“
„Absonderlich inwiefern?“, fragte Kerkenbrock.
„Nun, der Täter oder die Täterin hat den den Haken im First, an dem das Nylonseil mit einem Bulinknoten eingehängt war unter Strom gesetzt. Die Hitze hat das Seil durchschmoren lassen, bis es zu schwach war, die schwergewichtige Krone zu halten. Den Zeitpunkt für den Absturz kann man berechnen, wenn man Ahnung davon hat und wenn nicht, kann man das sicherlich im Internet herausfinden..“
„Wie hat er denn den Haken unter Strom gesetzt?“
„Er hat an den Lichtleitungen manipuliert. Einen Draht an den Haken geführt und im passenden Moment den Lichtschalter betätigt.“
„Gibt das keinen Kurzschluss?“
„Kann man alles austricksen. Es ist ja auch kein Fi-Schutzschalter rausgeflogen. Es sollte wohl jemand zu Werke gegangen sein, der sich mit Elektrik gut auskennt – oder eben jemand, der sich lang und schmutzig in das Thema eingelesen hat. Vor allem aber jemand, der nach Anbringung der Krone Zugang zur Kirche hatte, über eine hohe Leiter verfügte und Gelegenheit hatte, lang und schmutzig an den Kabeln herumzubasteln.“
Inzwischen hatte Der Pfarrer endlich den Küster ausfindig gemacht, den er ebenso zur Rede stellen wollte, wie die Verantwortlichen der Feuerwehr. Die Information bezüglich der manipulierten Stromleitungen war noch nicht zu ihm durchgedrungen, er glaubte weiterhin an schlichte Schlamperei. Neben der Sakristei sprach er seinen Angestellten nun an.
„Hab ich Sie endlich Gefunden, Herr Kleemann.“, fauchte der Pfarrer. „Zuerst mähen Sie den Rasen nicht, weil Sie angeblich zu viel mit der Erntekrone zu tun haben und dann machen Sie das auch noch nicht einmal richtig! Und jetzt gibt es einen Toten. Ihnen ist ja wohl klar, dass die Kündigung damit jetzt endgültig fällig ist.“
„Wieso geben Sie mir die Schuld?“, zischte der Küster zurück. „Ich habe die Krone nicht aufgehängt, ich musste die Handwerker nur unterstützten: Licht an , Licht aus, Werkzeug holen, Leiter hier, Leiter da.“
„Sie sollten die Arbeiten überwachen. Für die Schlampereien sind Sie persönlich verantwortlich. Sie müssen gar nicht versuchen, sich herauszureden.“
„Für mich sah alles ganz normal aus, so wie im letzten Jahr. Vielleicht hat da jemand heimlich und absichtlich einen Fehler gemacht, weil er es auf Herrn Witte abgesehen hatte. Aber ich hatte nichts gegen Herrn Witte, der hat mich immer anständig behandelt.“
In den Augen des Küsters glitzerten Tränen. In seinem Kopf lief ein Film im Zeitraffer: Sein hoffnungsvoller Dienstantritt in der Gemeinde vor 14 Jahren, die Freude nicht nur Hausmeister zu sein, sondern auch ein geistliches Amt auszuüben, das hohes Ansehen genoss. Dann die ersten Demütigungen: Wie man selbstverständlich von ihm erwartet hatte, dass er jedes Problem ohne Unterstützung löste, er könne doch seine Familie mit einspannen, wenn er Hundebesitzer bat, ihre Tiere nicht auf die Wiese kacken zu lassen und von denen als Lakai beschimpft wurde, den man schließlich dafür bezahle, dass er die Scheiße wegräume, durfte er sich nicht wehren, sollte alles herunter schlucken und freundlich bleiben. Niemand setzte sich für ihn ein, man verlangte nur, dass alles funktionierte und das mit immer weniger Stunden, immer weniger ehrenamtlichen Helfern und immer geringeren Finanzmitteln für Werkzeug, Putzutensilien und so weiter. Zwei Mal war ihm in den vergangenen drei Jahren der Kragen geplatzt:er hatte sich einmal ermächtigt, ein Gemeindefest vorzeitig zu verlassen, ein anderes Mal Mitglieder des Presbyteriums mit einer Schimpftirade übergossen. Jedes Mal hatte er eine Abmahnung erhalten. Als er gestern klipp und klar gesagt hatte, dass er den Rasen erst am Montag mähen könne, weil er dafür am Samstag keine Zeit mehr habe, hatte der Pfarrer angedeutet, dass dies wohl der dritte Vorfall auf dem Weg zur Kündigung sei und einer solchen nun nichts mehr im Wege stehe. Jetzt stand der erbarmungslose Vorgesetzte ihm gegenüber und blaffte ihn an.
„Natürlich hat Herr Witte Sie anständig behandelt, wie im übrigen jeder hier in der Gemeinde. Der Einzige, der seine Mitmenschen hier nicht anständig behandelt, sind Sie!“
Wütend wandte der Pfarrer sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um: „Und glauben Sie nicht, dass irgendeine Mitarbeitervertretung Sie noch einmal retten kann. Diesmal haben Sie einen Fehler gemacht, den Sie nicht mehr ausbügeln können.“
Der Pfarrer verschwand in der Sakristei. Der Küster blickte ihm nach und murmelte: „Ja, da ist mir wirklich ein schwerwiegender Fehler unterlaufen. Es hat leider den Falschen getroffen.“
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Freitag, 8. Juli 2016
Erbarmungslos - zweiteiliger Kurzkrimi – Teil II
c. fabry, 12:07h
Die Polizistin blickte irritiert von dem Lebenslauf auf und stellte fest: „Hier steht 2005 – 2010 Leitung der evangelischen Kita Kunterbunt.“
„Ja“, mischte die Leiterin der städtischen Kita sich ein. „So eine junge Erzieherin als Leitung finde ich auch unverantwortlich. Sicherlich hat sie daher ihren Größenwahn gehabt.“
Charlotte Schweppe war von der Nachricht, dass es nun die dritte Kollegin aus ihrer Einrichtung – wenn auch diesmal eine ehemalige – getroffen hatte, mehr als beunruhigt. „Schließlich war sie meine Vorgängerin:“, sagte sie zitternd. „Vielleicht läuft da irgendjemand mit einem Wahn herum, dass dieser Ort vom Teufel besessen ist. Wie kann ich meine Kolleginnen und mich denn vor weiteren Anschlägen schützen?“
„Sie müssen äußerst wachsam sein.“, erklärte Keller. „Und so gut es Ihnen möglich ist, mit uns zusammenarbeiten. Gibt es alte Geschichten? Themen, wo plötzlich alle betreten den Blick senken oder den Raum verlassen?“
„Na ja, Gerüchte gibt es in einem Laden, in dem praktisch nur Frauen arbeiten immer.“, seufzte die Leiterin. „Ich kann mich ja mal umhören, ob vor meiner Zeit etwas Besonderes vorgefallen ist.“
Es klopfte an der Tür. Eine junge Mitarbeiterin trat ein, eine aparte Erscheinung, die allerdings noch nicht ganz realisiert hatte, dass mit dem Eintritt in die dritte Lebensdekade das Girlie-Dasein endgültig beendet ist.
„Ist es wirklich wahr, dass jetzt auch noch Nicole Potthoff ermordet wurde?“, fragte sie mit großen angstvollen Augen und entsetzlich gekünstelter Piepsstimme.
„Ja.“, erwiderte Charlotte Schweppe betroffen. Und wandte sich dann an die Polizeibeamten. „Das ist meine Kollegin Denise Reuter. Komm doch rein Denise. Kannst du dich an irgendeine Geschichte aus der Vergangenheit erinnern, die uns jetzt einholt? Irgendeine Idee, wer hinter diesen gemeinen Morden stecken könnte?“
„Nein.“, piepste Denise Reuter, „Woher soll ich das wissen? Ich bin ja schließlich auch erst seit sieben Jahren hier.“
„Dann können Sie sich also noch an die Amtszeit von Frau Potthoff erinnern?“, fragte Keller.
„Ja, natürlich. Wir haben ein Jahr lang zusammengearbeitet.“
„Und warum ist sie gegangen?“
Denise Reuter zuckte mit den Schultern und blickte betont unschuldig drein. „Das weiß ich nicht mehr.“, sagte sie. „Ich schätze sie wollte einfach woanders Erfahrungen sammeln, um sich beruflich weiter zu entwickeln.“
„Aber wenn Sie gar keine Ahnung haben, was dahinter stecken könnte, warum haben Sie dann so große Angst, Frau Reuter?“, fragte Kerkenbrock.
Denise Reuter errötete Feuermelder-artig. „Ich weiß nicht, vielleicht, weil alle getöteten Frauen hier arbeiten oder gearbeitet haben. Ich verstehe es ja auch nicht. Die einzige, die etwas gegen uns haben könnte, ist Susanne Schnarre. Aber ich kann mir irgendwie weder vorstellen, dass die den Mut hat, Leute zu ermorden noch dass sie es sich leisten kann, jemanden dafür zu bezahlen.“
„Wer bitte ist Susanne Schnarre?“, fragte Keller.
„Eine ehemalige Kollegin.“, erklärte die Erzieherin. „Sie ist ein halbes Jahr vor Nicole gegangen.“
„Und warum?“
„Sie war krank.“
„Woran war sie erkrankt?“
„Irgendwas psychisches. So genau weiß ich das auch nicht mehr. Auf jeden Fall konnte man nicht mehr mit ihr arbeiten, es wurde immer schlimmer und irgendwann ist sie in der Psychiatrie gelandet.“
„Gab es einen Zusammenhang zwischen ihrer psychischen Erkrankung und Konflikten am Arbeitsplatz?“
„Kann sein.“, erklärte Denise Reuter. „Wir hatten ja alle Schwierigkeiten mit ihr, niemand wollte gern mit ihr zusammenarbeiten. Sie ging allen auf die Nerven, weil sie nichts geregelt kriegte, einen merkwürdigen Umgang mit den Kindern hatte, denn sie war oft viel zu ungeduldig und bei ihren Vorschlägen in den Team-Sitzungen stellten sich uns regelmäßig die Nackenhaare auf. Wir waren schon froh, als sie endlich weg war, es ging einfach nicht mit ihr.“
Die Beamten ließen sich von Charlotte Schweppe die Personalakte von Susanne Schnarre geben. Nachdem auch andere ältere Kolleginnen die Eindrücke von Frau Reuter bestätigt hatten, machten sie sich zu der angegebenen Adresse der verdächtigen Person auf.
Susanne Schnarre bewohnte mit ihrem Mann und ihrem Sohn eine großzügige Wohnung im gleichen Innenstadtviertel, in dem auch Stefan Keller lebte. Die Frau war ihm in der Vergangenheit schon häufiger aufgefallen, wenn er gelegentlich an freien Vormittagen auf dem Wochenmarkt eingekauft hatte. Sie war stark übergewichtig und ihr zusätzlich wie von Medikamenten aufgedunsenes Gesicht wurde von einer unvorteilhaften Frisur in einem extrem künstlichen Dunkelblond-Ton eingerahmt. Sie trug legere Kleidung in schreienden Farben und blickte, nachdem die Beamten sich vorgestellt hatten, unruhig von einem zum anderen. Ihre Festnahme gestaltete sich hochdramatisch, weil sie sich berechtigterweise um ihr Kind sorgte, dessen Vater noch bei der Arbeit war. Sie durfte den Jungen mitnehmen, der Vater könne ihn ja später abholen, versicherte Kerkenbrock.
Sie warteten mit dem Verhör, bis der Vater das Kind abholen konnte und begannen schon einmal mit der Dokumentation ihrer bisherigen Vorgehensweise – zu der Befragung sollte es nicht mehr kommen.
Die letzten aufgeregten Kinderstimmen waren verklungen in der Kita Kunterbunt und Charlotte Schweppe war beim Spätdienst von Denise Reuter unterstützt worden. Die verließ nun die Einrichtung und steuerte auf ihren Libido-roten Austin Mini zu. Sie wunderte sich, dass beim Drücken der ferngesteuerten Türentriegelung kein Schnappen zu vernehmen war. „Oh“, dachte sie. „Hab ich vergessen abzuschließen oder ist die Fernsteuerung kaputt?“ , doch die Fahrertür ließ sich problemlos öffnen.
Sie warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz, legte den Sicherheitsgurt an und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Plötzlich war da Bewegung im Auto und alles geschah blitzschnell. Etwas Dünnes, Hartes drückte gegen ihre Kehle und schnürte ihr langsam die Luft ab. Sie griff danach, doch es war ihr unmöglich mit den Fingern zwischen den dünnen Draht und ihre Hals zu gelangen. Panisch versuchte sie um Hilfe zu schreien, als plötzlich ein ohrenbetäubendes, berstendes Geräusch hinter ihr ertönte und der Druck auf ihren Hals sich lockerte. Eine Tür wurde aufgerissen und jemand lief weg. Dann wurde die Fahrertür geöffnet. Es war Charlotte, die sich über sie beugte und den Sicherheitsgurt löste. „Komm da raus, Denise.“, sagte sie. „Sie können dir nichts mehr tun. Wir gehen rein und ich rufe einen Krankenwagen.“
Im Augenwinkel nahm die junge Frau wahr, dass jemand auf dem Rücksitz saß. Sie fuhr herum: Es war eine alte Frau, die mit leerem Blick unter das Autodach starrte. Aus ihrer Schläfe sickerte Blut und neben ihr lag ein Ziegelstein. Und dann schrie sie und glaubte, sie würde nie wieder damit aufhören.
Bereits eine Stunde später hatte die Polizei den zweiten Attentäter ausfindig gemacht, es handelte sich um den Ehemann der Frau, die versucht hatte, Denise Reuter mit einer Gitarrensaite zu garrottieren. Die Frau hatte Charlotte Schweppes Maßnahme zur Rettung ihrer Kollegin nicht überlebt. Der in das hintere Seitenfenster geworfene Ziegelstein sollte nur den Mord verhindern, nicht die Täterin töten, aber das war nicht zu vermeiden gewesen. Der Ehemann, der in Panik geflüchtet war, hatte sich kurz darauf der Polizei gestellt. Sein Name war Erwin Bruns, er war der Vater von Susanne Schnarre. Er legte ein umfassendes Geständnis ab:
„Meine Frau und ich konnten nicht länger hinnehmen, dass unsere Tochter von diesen Hyänen systematisch zugrunde gerichtet worden ist und die einfach so weitermachten, als wäre nichts passiert.“
„Was ist denn damals passiert?“, fragte Keller.
„Meine Tochter hat 1999 angefangen in dem Kindergarten zu arbeiten. Damals gehörte er noch zur Kirchengemeinde, wurde von einem Pastor und einer Presbyterin begleitet, die Leiterin war eine nette, erfahrene, ältere Dame und im Kindergarten mussten sie sich damals ja auch noch nicht so überschlagen mit Aufbewahrung von 7-16 Uhr, für Kinder ab 3 Monaten und den ganzen Anforderungen, dass die Kinder schon ganz viel lernen müssen, damit man später in der Schule noch mehr in sie rein stopfen kann. Dann ging 2005 Frau Nolte in Ruhestand und die Potthoff kam und das war der Anfang vom Ende. Sie war jünger als meine Tochter und machte sich immer über sie lustig, so als wäre sie vollkommen von gestern, weil sie nicht mit durch die Kneipen und Diskotheken zog, sich am Wochenende nicht betrinken wollte und nicht wie die Potthoff durch sämtliche Betten rutschte, obwohl ich persönlich ja glaube, dass ihre Liebhaber sich diese Trulla regelmäßig schön trinken mussten. Jedenfalls hat diese Leiterin meine Tochter auch bei den Kolleginnen immer wieder schlecht gemacht, bis sie alle gegen sich hatte. Am schlimmsten waren die ganz jungen Mädels, also die Reuter und die Dünker. Das waren fast noch Backfische und dazu dumm wie Brot und furchtbar eingebildet. Aber auch die Depenbrock hat fleißig mit gemobbt, obwohl die damals auch schon fast vierzig war und verantwortlich für zwei kleine Kinder. Am Ende ist meine Tochter zusammengebrochen und sie hat sich bis heute nicht davon erholt. Sie muss immer noch hohe Dosen Antidepressiva einnehmen, davon ist sie auseinandergegangen wie ein Hefekloß, regelmäßige Klinikaufenthalte bringen ihr Familienleben durcheinander und gefährden ihre Ehe. Sie war eine liebenswerte, fleißige Familienmutter, ein anständiges funktionierendes Glied der Gesellschaft und da fallen so ein paar nichtsnutzige Hyänen über sie her und fressen ihre Seele, und niemand kommt auf die Idee, sie zu bestrafen. Zu der Zeit, als die Potthoff anfing, hatten sie die Kindergärten alle zentralisiert, der Pfarrer kümmerte sich nicht mehr so wie vorher und die Leitung dieser ganzen vielen Einrichtungen bekam überhaupt nichts mit von dem, was da lief. Ich bin da mal im Büro aufgelaufen, aber da hätte ich genauso gut eine Parkuhr voll quatschen können. Da haben meine Frau und ich den Entschluss gefasst, unsere Tochter zu rächen. Wir wollten ein Exempel statuieren, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Leider ist die Letzte davon gekommen und stattdessen hat es mein Frau erwischt. Das bedaure ich aus tiefster Seele. Und dass ich meinen Enkel nicht aufwachsen sehen werde, das tut mir auch Leid. Aber sonst bedaure ich nichts.“
Kerkenbrock bezweifelte, dass Susanne Schnarres Eltern ihrer Tochter oder auch der Menschheit einen Gefallen getan hatten. Die Tochter würde durch den gewaltsamen und unehrenhaften Verlust der Mutter und die Straffälligkeit ihres Vaters nur zusätzlich belastet, das hatten die Eltern in ihrer grenzenlosen Verzweiflung nicht bedacht. „So viel Leid.“, dachte sie, „und nur weil niemand rechtzeitig eingegriffen hat.“
Keller vermied es in der folgenden Zeit, auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Er wollte Susanne Schnarre nicht in die Augen sehen müssen, auch wenn er keine Schuld an ihrem Elend trug. Für sie zählte er zu denen, die ihr wehgetan hatten.
ENDE
„Ja“, mischte die Leiterin der städtischen Kita sich ein. „So eine junge Erzieherin als Leitung finde ich auch unverantwortlich. Sicherlich hat sie daher ihren Größenwahn gehabt.“
Charlotte Schweppe war von der Nachricht, dass es nun die dritte Kollegin aus ihrer Einrichtung – wenn auch diesmal eine ehemalige – getroffen hatte, mehr als beunruhigt. „Schließlich war sie meine Vorgängerin:“, sagte sie zitternd. „Vielleicht läuft da irgendjemand mit einem Wahn herum, dass dieser Ort vom Teufel besessen ist. Wie kann ich meine Kolleginnen und mich denn vor weiteren Anschlägen schützen?“
„Sie müssen äußerst wachsam sein.“, erklärte Keller. „Und so gut es Ihnen möglich ist, mit uns zusammenarbeiten. Gibt es alte Geschichten? Themen, wo plötzlich alle betreten den Blick senken oder den Raum verlassen?“
„Na ja, Gerüchte gibt es in einem Laden, in dem praktisch nur Frauen arbeiten immer.“, seufzte die Leiterin. „Ich kann mich ja mal umhören, ob vor meiner Zeit etwas Besonderes vorgefallen ist.“
Es klopfte an der Tür. Eine junge Mitarbeiterin trat ein, eine aparte Erscheinung, die allerdings noch nicht ganz realisiert hatte, dass mit dem Eintritt in die dritte Lebensdekade das Girlie-Dasein endgültig beendet ist.
„Ist es wirklich wahr, dass jetzt auch noch Nicole Potthoff ermordet wurde?“, fragte sie mit großen angstvollen Augen und entsetzlich gekünstelter Piepsstimme.
„Ja.“, erwiderte Charlotte Schweppe betroffen. Und wandte sich dann an die Polizeibeamten. „Das ist meine Kollegin Denise Reuter. Komm doch rein Denise. Kannst du dich an irgendeine Geschichte aus der Vergangenheit erinnern, die uns jetzt einholt? Irgendeine Idee, wer hinter diesen gemeinen Morden stecken könnte?“
„Nein.“, piepste Denise Reuter, „Woher soll ich das wissen? Ich bin ja schließlich auch erst seit sieben Jahren hier.“
„Dann können Sie sich also noch an die Amtszeit von Frau Potthoff erinnern?“, fragte Keller.
„Ja, natürlich. Wir haben ein Jahr lang zusammengearbeitet.“
„Und warum ist sie gegangen?“
Denise Reuter zuckte mit den Schultern und blickte betont unschuldig drein. „Das weiß ich nicht mehr.“, sagte sie. „Ich schätze sie wollte einfach woanders Erfahrungen sammeln, um sich beruflich weiter zu entwickeln.“
„Aber wenn Sie gar keine Ahnung haben, was dahinter stecken könnte, warum haben Sie dann so große Angst, Frau Reuter?“, fragte Kerkenbrock.
Denise Reuter errötete Feuermelder-artig. „Ich weiß nicht, vielleicht, weil alle getöteten Frauen hier arbeiten oder gearbeitet haben. Ich verstehe es ja auch nicht. Die einzige, die etwas gegen uns haben könnte, ist Susanne Schnarre. Aber ich kann mir irgendwie weder vorstellen, dass die den Mut hat, Leute zu ermorden noch dass sie es sich leisten kann, jemanden dafür zu bezahlen.“
„Wer bitte ist Susanne Schnarre?“, fragte Keller.
„Eine ehemalige Kollegin.“, erklärte die Erzieherin. „Sie ist ein halbes Jahr vor Nicole gegangen.“
„Und warum?“
„Sie war krank.“
„Woran war sie erkrankt?“
„Irgendwas psychisches. So genau weiß ich das auch nicht mehr. Auf jeden Fall konnte man nicht mehr mit ihr arbeiten, es wurde immer schlimmer und irgendwann ist sie in der Psychiatrie gelandet.“
„Gab es einen Zusammenhang zwischen ihrer psychischen Erkrankung und Konflikten am Arbeitsplatz?“
„Kann sein.“, erklärte Denise Reuter. „Wir hatten ja alle Schwierigkeiten mit ihr, niemand wollte gern mit ihr zusammenarbeiten. Sie ging allen auf die Nerven, weil sie nichts geregelt kriegte, einen merkwürdigen Umgang mit den Kindern hatte, denn sie war oft viel zu ungeduldig und bei ihren Vorschlägen in den Team-Sitzungen stellten sich uns regelmäßig die Nackenhaare auf. Wir waren schon froh, als sie endlich weg war, es ging einfach nicht mit ihr.“
Die Beamten ließen sich von Charlotte Schweppe die Personalakte von Susanne Schnarre geben. Nachdem auch andere ältere Kolleginnen die Eindrücke von Frau Reuter bestätigt hatten, machten sie sich zu der angegebenen Adresse der verdächtigen Person auf.
Susanne Schnarre bewohnte mit ihrem Mann und ihrem Sohn eine großzügige Wohnung im gleichen Innenstadtviertel, in dem auch Stefan Keller lebte. Die Frau war ihm in der Vergangenheit schon häufiger aufgefallen, wenn er gelegentlich an freien Vormittagen auf dem Wochenmarkt eingekauft hatte. Sie war stark übergewichtig und ihr zusätzlich wie von Medikamenten aufgedunsenes Gesicht wurde von einer unvorteilhaften Frisur in einem extrem künstlichen Dunkelblond-Ton eingerahmt. Sie trug legere Kleidung in schreienden Farben und blickte, nachdem die Beamten sich vorgestellt hatten, unruhig von einem zum anderen. Ihre Festnahme gestaltete sich hochdramatisch, weil sie sich berechtigterweise um ihr Kind sorgte, dessen Vater noch bei der Arbeit war. Sie durfte den Jungen mitnehmen, der Vater könne ihn ja später abholen, versicherte Kerkenbrock.
Sie warteten mit dem Verhör, bis der Vater das Kind abholen konnte und begannen schon einmal mit der Dokumentation ihrer bisherigen Vorgehensweise – zu der Befragung sollte es nicht mehr kommen.
Die letzten aufgeregten Kinderstimmen waren verklungen in der Kita Kunterbunt und Charlotte Schweppe war beim Spätdienst von Denise Reuter unterstützt worden. Die verließ nun die Einrichtung und steuerte auf ihren Libido-roten Austin Mini zu. Sie wunderte sich, dass beim Drücken der ferngesteuerten Türentriegelung kein Schnappen zu vernehmen war. „Oh“, dachte sie. „Hab ich vergessen abzuschließen oder ist die Fernsteuerung kaputt?“ , doch die Fahrertür ließ sich problemlos öffnen.
Sie warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz, legte den Sicherheitsgurt an und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Plötzlich war da Bewegung im Auto und alles geschah blitzschnell. Etwas Dünnes, Hartes drückte gegen ihre Kehle und schnürte ihr langsam die Luft ab. Sie griff danach, doch es war ihr unmöglich mit den Fingern zwischen den dünnen Draht und ihre Hals zu gelangen. Panisch versuchte sie um Hilfe zu schreien, als plötzlich ein ohrenbetäubendes, berstendes Geräusch hinter ihr ertönte und der Druck auf ihren Hals sich lockerte. Eine Tür wurde aufgerissen und jemand lief weg. Dann wurde die Fahrertür geöffnet. Es war Charlotte, die sich über sie beugte und den Sicherheitsgurt löste. „Komm da raus, Denise.“, sagte sie. „Sie können dir nichts mehr tun. Wir gehen rein und ich rufe einen Krankenwagen.“
Im Augenwinkel nahm die junge Frau wahr, dass jemand auf dem Rücksitz saß. Sie fuhr herum: Es war eine alte Frau, die mit leerem Blick unter das Autodach starrte. Aus ihrer Schläfe sickerte Blut und neben ihr lag ein Ziegelstein. Und dann schrie sie und glaubte, sie würde nie wieder damit aufhören.
Bereits eine Stunde später hatte die Polizei den zweiten Attentäter ausfindig gemacht, es handelte sich um den Ehemann der Frau, die versucht hatte, Denise Reuter mit einer Gitarrensaite zu garrottieren. Die Frau hatte Charlotte Schweppes Maßnahme zur Rettung ihrer Kollegin nicht überlebt. Der in das hintere Seitenfenster geworfene Ziegelstein sollte nur den Mord verhindern, nicht die Täterin töten, aber das war nicht zu vermeiden gewesen. Der Ehemann, der in Panik geflüchtet war, hatte sich kurz darauf der Polizei gestellt. Sein Name war Erwin Bruns, er war der Vater von Susanne Schnarre. Er legte ein umfassendes Geständnis ab:
„Meine Frau und ich konnten nicht länger hinnehmen, dass unsere Tochter von diesen Hyänen systematisch zugrunde gerichtet worden ist und die einfach so weitermachten, als wäre nichts passiert.“
„Was ist denn damals passiert?“, fragte Keller.
„Meine Tochter hat 1999 angefangen in dem Kindergarten zu arbeiten. Damals gehörte er noch zur Kirchengemeinde, wurde von einem Pastor und einer Presbyterin begleitet, die Leiterin war eine nette, erfahrene, ältere Dame und im Kindergarten mussten sie sich damals ja auch noch nicht so überschlagen mit Aufbewahrung von 7-16 Uhr, für Kinder ab 3 Monaten und den ganzen Anforderungen, dass die Kinder schon ganz viel lernen müssen, damit man später in der Schule noch mehr in sie rein stopfen kann. Dann ging 2005 Frau Nolte in Ruhestand und die Potthoff kam und das war der Anfang vom Ende. Sie war jünger als meine Tochter und machte sich immer über sie lustig, so als wäre sie vollkommen von gestern, weil sie nicht mit durch die Kneipen und Diskotheken zog, sich am Wochenende nicht betrinken wollte und nicht wie die Potthoff durch sämtliche Betten rutschte, obwohl ich persönlich ja glaube, dass ihre Liebhaber sich diese Trulla regelmäßig schön trinken mussten. Jedenfalls hat diese Leiterin meine Tochter auch bei den Kolleginnen immer wieder schlecht gemacht, bis sie alle gegen sich hatte. Am schlimmsten waren die ganz jungen Mädels, also die Reuter und die Dünker. Das waren fast noch Backfische und dazu dumm wie Brot und furchtbar eingebildet. Aber auch die Depenbrock hat fleißig mit gemobbt, obwohl die damals auch schon fast vierzig war und verantwortlich für zwei kleine Kinder. Am Ende ist meine Tochter zusammengebrochen und sie hat sich bis heute nicht davon erholt. Sie muss immer noch hohe Dosen Antidepressiva einnehmen, davon ist sie auseinandergegangen wie ein Hefekloß, regelmäßige Klinikaufenthalte bringen ihr Familienleben durcheinander und gefährden ihre Ehe. Sie war eine liebenswerte, fleißige Familienmutter, ein anständiges funktionierendes Glied der Gesellschaft und da fallen so ein paar nichtsnutzige Hyänen über sie her und fressen ihre Seele, und niemand kommt auf die Idee, sie zu bestrafen. Zu der Zeit, als die Potthoff anfing, hatten sie die Kindergärten alle zentralisiert, der Pfarrer kümmerte sich nicht mehr so wie vorher und die Leitung dieser ganzen vielen Einrichtungen bekam überhaupt nichts mit von dem, was da lief. Ich bin da mal im Büro aufgelaufen, aber da hätte ich genauso gut eine Parkuhr voll quatschen können. Da haben meine Frau und ich den Entschluss gefasst, unsere Tochter zu rächen. Wir wollten ein Exempel statuieren, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Leider ist die Letzte davon gekommen und stattdessen hat es mein Frau erwischt. Das bedaure ich aus tiefster Seele. Und dass ich meinen Enkel nicht aufwachsen sehen werde, das tut mir auch Leid. Aber sonst bedaure ich nichts.“
Kerkenbrock bezweifelte, dass Susanne Schnarres Eltern ihrer Tochter oder auch der Menschheit einen Gefallen getan hatten. Die Tochter würde durch den gewaltsamen und unehrenhaften Verlust der Mutter und die Straffälligkeit ihres Vaters nur zusätzlich belastet, das hatten die Eltern in ihrer grenzenlosen Verzweiflung nicht bedacht. „So viel Leid.“, dachte sie, „und nur weil niemand rechtzeitig eingegriffen hat.“
Keller vermied es in der folgenden Zeit, auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Er wollte Susanne Schnarre nicht in die Augen sehen müssen, auch wenn er keine Schuld an ihrem Elend trug. Für sie zählte er zu denen, die ihr wehgetan hatten.
ENDE
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Freitag, 1. Juli 2016
Erbarmungslos - zweiteiliger Kurzkrimi – Teil I
c. fabry, 18:37h
Der Geruch war so entsetzlich, wie es in einem derartigen, anonymen Wohnsilo bei der gegenwärtigen sommerlichen Schwüle zu erwarten war. Hier fühlte sich niemand für irgendetwas oder irgendwen außerhalb seiner eigenen, privaten Wohnräume verantwortlich. Es stank nach Urin, saurer Milch und geronnenem Blut, von dem sich eine gewaltige Pfütze auf dem Boden ausgebreitet hatte. Die Leiche der jungen Frau lag zwar in der halb geöffneten Wohnungstür, aber ihre Mitbewohner hatten sie entweder beim Verlassen der eigenen Wohnungen oder bei der Rückkehr in dieselben nicht bemerkt oder – was wahrscheinlicher war – ignoriert, weil Hilfestellung Ärger mit sich bringen konnte oder zumindest den persönlichen Zeitplan durcheinander brachte.
In einem weißen Overall trat Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock aus der Wohnung und sah ihren ranghöheren Kollegen herausfordernd an. „Na, Herr, Keller? Auch schon am Tatort?“, fragte sie keck.
„Ich hatte noch einen Arzttermin“, entschuldigte Stefan Keller sich. „Aber Sie haben in der Zwischenzeit doch sicherlich schon alle wesentlichen Spuren zusammengetragen und mir eine Menge zu erzählen.“
„In der Tat.“, erwiderte die junge Polizistin. „Das Opfer heißt Nadine Dünker, 28 Jahre alt, alleinstehend, Erzieherin in einer Kindertageseinrichtung. Die Einrichtungsleitung hat ihr heute Morgen auf den AB gesprochen, weil sie nicht zur Arbeit erschienen ist. Wir können gleich dorthin fahren und erste Gespräche führen, denn von der Familie, deren Nummern im Adressbuch stehen, haben wir noch niemanden erreicht. Ach ja, Konstanze Flegel meint, sie muss gestern Abend, etwa gegen 23 Uhr mit mehreren Messerstichen getötet worden sein. Sie hat dem Täter selbst die Tür geöffnet und ist dann hier im Eingangsbereich niedergestochen worden. Von den Nachbarn hat niemand etwas gemerkt, nur ein früher Paketbote, der ein Stockwerk höher etwas abgeben wollte, hat die Tote gefunden.“
In der KiTa herrschte blankes Entsetzen. Alle beschrieben Nadine Dünker als eine lebenslustige junge Frau, bei den Kindern und den Kolleginnen gleichermaßen beliebt, attraktiv und sympathisch, aber auch keine leichtsinnige Partylöwin, die an jedem Wochenende eine andere Zufallsbekanntschaft aus der Disco abgeschleppt hätte. Niemand hatte den Hauch einer Ahnung, wer einen Grund gehabt hätte, ihr das anzutun.
Sie hatten nach zwei Tagen noch keinen nennenswerten Ermittlungsansatz, da wurde die nächste Frauenleiche aufgefunden: Anja Depenbrock, 45 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, war beim abendlichen Joggen mit einem Stein erschlagen worden. Normalerweise hätten die ermittelnden Beamten keinen Zusammenhang hergestellt: der erste Mord geschah im Stadtgebiet, der zweite im ländlichen Umfeld. Das erste Opfer war jung und alleinstehend gewesen, das zweite eine gestandene Familienfrau. Der erste Mord geschah in den eigenen vier Wänden, der zweite in der Öffentlichkeit; das erste Opfer war niedergestochen worden, das zweite erschlagen. Doch es gab zwei wesentliche Gemeinsamkeiten: erstens grenzenlose Brutalität, die auf ungezügelte Wut deutete und zweitens der gemeinsame Arbeitsplatz der beiden Frauen: Die Kita Kunterbunt des Evangelischen Trägerverbundes im Stadtgebiet.
Die Einrichtungsleiterin Charlotte Schweppe fühlte sich sichtlich unbehaglich, als die Beamten zum zweiten Mal bei ihr vorstellig wurden.
„Ich habe absolut keine Idee, was hier vor sich geht.“, erklärte sie. „Offen gestanden sind wir neben der Trauer und dem Entsetzen im Moment auch viel zu sehr damit beschäftigt, die Ausfälle zu kompensieren. Beide Kolleginnen sind voll eingeplant und zwei weitere befinden sich zur Zeit im Jahresurlaub, die kann ich auch nicht zurückholen, die eine ist ohne Handy auf Wandertour in Schottland unterwegs, die andere liegt in Thailand am Strand.“
„Seit wann können Hungerlohn-gebeutelte Erzieherinnen sich so kostspielige Ferien leisten?“, fragte Keller hellhörig.
„Gute Frage.“, antwortete Charlotte Schweppe. Unsere Schottland-Expertin lebt so reduziert, dass sie praktisch nur die Anreise finanzieren muss: wandern, zelten, einkaufen im Supermarkt und selbst kochen. Die andere Kollegin ist mit einem Pfarrer verheiratet. Noch Fragen?“
„Ja.“, erklärte Keller, „aber keine die das Urlaubsverhalten ihrer Mitarbeiterinnen betreffen. Gibt es in ihrem Team vielleicht eine Kollegin, die die beiden im Visier hatte? Oder gab es in der letzten Zeit auffällige Helikopter-Eltern, die ihre Kolleginnen möglicherweise für eine Fehlentwicklung bei ihrem Kind verantwortlich machten?“
Die Leiterin überlegte kurz, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. „Nein, solche Geschichten hört man ja immer wieder, sowohl von Zickenkrieg unter Kolleginnen als auch von besagten Übereltern, die überall mitbestimmen wollen und immer etwas zu nörgeln haben und die Defizite ihrer selbst verzogenen Kinder der Kita ankreiden. Aber ich bin jetzt schon einige Jahre hier und habe so etwas noch nicht erleben müssen.“
„Wie sieht denn der Stellenplan aus?“, fragte Kerkenbrock. „Vollzeit, Teilzeit, befristet, unbefristet und so weiter.“
„Also bis auf unsere Jahrespraktikantin und eine Berufseinsteigerin sind alle unbefristet beschäftigt. Anja hatte eine halbe Stelle, genauso wie Karin – die ist gerade in Thailand – und Janine, die ist vor einem Jahr nach der zweiten Schwangerschaft wieder eingestiegen.“
„Das heißt, niemand mit Teilzeitbeschäftigung sehnt sich nach einer vollen Stelle?“
„Doch, Franziska, das habe ich vergessen. Sie ist erst seit kurzem bei diesem Träger und im Sozialplan ganz unten. Als im letzten Herbst mehr Kinder gingen als dazu kamen, mussten wir eine viertel Stelle abgeben und da war Franziska dran. Normalerweise einigen wir uns im Team, wer vorübergehend mal ein paar Stunden abgeben möchte, manchmal passt das ja ganz gut in die Lebensplanung, aber diesmal wollte keine verzichten, da hat es eben Franziska getroffen. Wenn die Anmeldezahlen wieder steigen, kann sie aber wieder aufstocken. Sie hätte auch ein paar Stunden in einer anderen Kita dazunehmen können, aber dazu hatte sie keine Lust.“
„In welcher anderen Kita?“, fragte Keller.
„Das weiß ich nicht mehr.“, erwiderte die Erzieherin. „Da ist ja ständig alles in Bewegung. Wir sind alle zentral angestellt und werden nach Bedarf auf die Einrichtungen verteilt oder lösen das Problem mit flexiblen Stundenkontingenten. Es gibt immer welche, die sich gelegentliche Reduzierungen leisten können.“
„Da kommt eine Menge Arbeit auf uns zu.“, erklärte Keller im Auto. „Wir müssen etwa zweihundert Beschäftigte überprüfen, von denen vermutlich ein Drittel in Teilzeit arbeitet und im Detail herauszukriegen, wer von denen das wirklich freiwillig tut, erfordert ein wenig Fingerspitzengefühl.“
„Glauben Sie wirklich, eine Erzieherin mordet, um ihr Stundenkontingent aufzustocken? Wer braucht denn bitte schön eine Aufstockung von eineinhalb Stellen?“
Die systematische Überprüfung der Erzieherinnen des Evangelischen Trägers stellten sie hintenan, als zwei Tage später die dritte Frauenleiche auftauchte, die mit Benzin übergossen und angezündet worden war. Es handelte sich auch bei dieser um eine Erzieherin, allerdings um eine, die zurzeit ohne Beschäftigung war. Sie lebte allein, war siebenunddreißig Jahre alt und hatte stapelweise Bewerbungen geschrieben, nachdem sie vor drei Monaten ihr Arbeitsverhältnis auf eigenen Wunsch beendet hatte. Keller und Kerkenbrock suchten die städtische Kita am Rosengarten auf und sprachen mit der Leiterin. Die erklärte: „Frau Potthoff ist es in den zweieinhalb Jahren, die sie bei uns war, nicht gelungen, sich in das Team einzufinden. Ich habe mittlerweile mit der Einrichtung telefoniert, bei der sie vor ihrer mehrmonatigen Arbeitslosigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis bei uns angestellt war. Sie hatte es mal in der ostwestfälischen Provinz versucht, ist da aber wohl überall angeeckt, weil ihr immer alles nicht professionell genug war, aber niemand auf ihre Verbesserungsvorschläge eingehen wollte. So ähnlich hat sie damals ihren Wechsel zu uns auch erklärt, aber auch damit, dass es sie zurück in die Großstadt zog. Doch das Problem, das sie bei den von ihr so bezeichneten Landpomeranzen hatte, hatte sie offensichtlich auch bei uns.“
„Haben Sie ihre Bewerbungsunterlagen noch da?“
„Ja, selbstverständlich.“, antwortete die Leiterin und stellte sie den Beamten zur Verfügung. Beim Lesen der Unterlagen riss Kerkenbrock plötzlich die Augen auf.
ENDE TEIL I – Fortsetzung folgt am 08.07.
In einem weißen Overall trat Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock aus der Wohnung und sah ihren ranghöheren Kollegen herausfordernd an. „Na, Herr, Keller? Auch schon am Tatort?“, fragte sie keck.
„Ich hatte noch einen Arzttermin“, entschuldigte Stefan Keller sich. „Aber Sie haben in der Zwischenzeit doch sicherlich schon alle wesentlichen Spuren zusammengetragen und mir eine Menge zu erzählen.“
„In der Tat.“, erwiderte die junge Polizistin. „Das Opfer heißt Nadine Dünker, 28 Jahre alt, alleinstehend, Erzieherin in einer Kindertageseinrichtung. Die Einrichtungsleitung hat ihr heute Morgen auf den AB gesprochen, weil sie nicht zur Arbeit erschienen ist. Wir können gleich dorthin fahren und erste Gespräche führen, denn von der Familie, deren Nummern im Adressbuch stehen, haben wir noch niemanden erreicht. Ach ja, Konstanze Flegel meint, sie muss gestern Abend, etwa gegen 23 Uhr mit mehreren Messerstichen getötet worden sein. Sie hat dem Täter selbst die Tür geöffnet und ist dann hier im Eingangsbereich niedergestochen worden. Von den Nachbarn hat niemand etwas gemerkt, nur ein früher Paketbote, der ein Stockwerk höher etwas abgeben wollte, hat die Tote gefunden.“
In der KiTa herrschte blankes Entsetzen. Alle beschrieben Nadine Dünker als eine lebenslustige junge Frau, bei den Kindern und den Kolleginnen gleichermaßen beliebt, attraktiv und sympathisch, aber auch keine leichtsinnige Partylöwin, die an jedem Wochenende eine andere Zufallsbekanntschaft aus der Disco abgeschleppt hätte. Niemand hatte den Hauch einer Ahnung, wer einen Grund gehabt hätte, ihr das anzutun.
Sie hatten nach zwei Tagen noch keinen nennenswerten Ermittlungsansatz, da wurde die nächste Frauenleiche aufgefunden: Anja Depenbrock, 45 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, war beim abendlichen Joggen mit einem Stein erschlagen worden. Normalerweise hätten die ermittelnden Beamten keinen Zusammenhang hergestellt: der erste Mord geschah im Stadtgebiet, der zweite im ländlichen Umfeld. Das erste Opfer war jung und alleinstehend gewesen, das zweite eine gestandene Familienfrau. Der erste Mord geschah in den eigenen vier Wänden, der zweite in der Öffentlichkeit; das erste Opfer war niedergestochen worden, das zweite erschlagen. Doch es gab zwei wesentliche Gemeinsamkeiten: erstens grenzenlose Brutalität, die auf ungezügelte Wut deutete und zweitens der gemeinsame Arbeitsplatz der beiden Frauen: Die Kita Kunterbunt des Evangelischen Trägerverbundes im Stadtgebiet.
Die Einrichtungsleiterin Charlotte Schweppe fühlte sich sichtlich unbehaglich, als die Beamten zum zweiten Mal bei ihr vorstellig wurden.
„Ich habe absolut keine Idee, was hier vor sich geht.“, erklärte sie. „Offen gestanden sind wir neben der Trauer und dem Entsetzen im Moment auch viel zu sehr damit beschäftigt, die Ausfälle zu kompensieren. Beide Kolleginnen sind voll eingeplant und zwei weitere befinden sich zur Zeit im Jahresurlaub, die kann ich auch nicht zurückholen, die eine ist ohne Handy auf Wandertour in Schottland unterwegs, die andere liegt in Thailand am Strand.“
„Seit wann können Hungerlohn-gebeutelte Erzieherinnen sich so kostspielige Ferien leisten?“, fragte Keller hellhörig.
„Gute Frage.“, antwortete Charlotte Schweppe. Unsere Schottland-Expertin lebt so reduziert, dass sie praktisch nur die Anreise finanzieren muss: wandern, zelten, einkaufen im Supermarkt und selbst kochen. Die andere Kollegin ist mit einem Pfarrer verheiratet. Noch Fragen?“
„Ja.“, erklärte Keller, „aber keine die das Urlaubsverhalten ihrer Mitarbeiterinnen betreffen. Gibt es in ihrem Team vielleicht eine Kollegin, die die beiden im Visier hatte? Oder gab es in der letzten Zeit auffällige Helikopter-Eltern, die ihre Kolleginnen möglicherweise für eine Fehlentwicklung bei ihrem Kind verantwortlich machten?“
Die Leiterin überlegte kurz, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. „Nein, solche Geschichten hört man ja immer wieder, sowohl von Zickenkrieg unter Kolleginnen als auch von besagten Übereltern, die überall mitbestimmen wollen und immer etwas zu nörgeln haben und die Defizite ihrer selbst verzogenen Kinder der Kita ankreiden. Aber ich bin jetzt schon einige Jahre hier und habe so etwas noch nicht erleben müssen.“
„Wie sieht denn der Stellenplan aus?“, fragte Kerkenbrock. „Vollzeit, Teilzeit, befristet, unbefristet und so weiter.“
„Also bis auf unsere Jahrespraktikantin und eine Berufseinsteigerin sind alle unbefristet beschäftigt. Anja hatte eine halbe Stelle, genauso wie Karin – die ist gerade in Thailand – und Janine, die ist vor einem Jahr nach der zweiten Schwangerschaft wieder eingestiegen.“
„Das heißt, niemand mit Teilzeitbeschäftigung sehnt sich nach einer vollen Stelle?“
„Doch, Franziska, das habe ich vergessen. Sie ist erst seit kurzem bei diesem Träger und im Sozialplan ganz unten. Als im letzten Herbst mehr Kinder gingen als dazu kamen, mussten wir eine viertel Stelle abgeben und da war Franziska dran. Normalerweise einigen wir uns im Team, wer vorübergehend mal ein paar Stunden abgeben möchte, manchmal passt das ja ganz gut in die Lebensplanung, aber diesmal wollte keine verzichten, da hat es eben Franziska getroffen. Wenn die Anmeldezahlen wieder steigen, kann sie aber wieder aufstocken. Sie hätte auch ein paar Stunden in einer anderen Kita dazunehmen können, aber dazu hatte sie keine Lust.“
„In welcher anderen Kita?“, fragte Keller.
„Das weiß ich nicht mehr.“, erwiderte die Erzieherin. „Da ist ja ständig alles in Bewegung. Wir sind alle zentral angestellt und werden nach Bedarf auf die Einrichtungen verteilt oder lösen das Problem mit flexiblen Stundenkontingenten. Es gibt immer welche, die sich gelegentliche Reduzierungen leisten können.“
„Da kommt eine Menge Arbeit auf uns zu.“, erklärte Keller im Auto. „Wir müssen etwa zweihundert Beschäftigte überprüfen, von denen vermutlich ein Drittel in Teilzeit arbeitet und im Detail herauszukriegen, wer von denen das wirklich freiwillig tut, erfordert ein wenig Fingerspitzengefühl.“
„Glauben Sie wirklich, eine Erzieherin mordet, um ihr Stundenkontingent aufzustocken? Wer braucht denn bitte schön eine Aufstockung von eineinhalb Stellen?“
Die systematische Überprüfung der Erzieherinnen des Evangelischen Trägers stellten sie hintenan, als zwei Tage später die dritte Frauenleiche auftauchte, die mit Benzin übergossen und angezündet worden war. Es handelte sich auch bei dieser um eine Erzieherin, allerdings um eine, die zurzeit ohne Beschäftigung war. Sie lebte allein, war siebenunddreißig Jahre alt und hatte stapelweise Bewerbungen geschrieben, nachdem sie vor drei Monaten ihr Arbeitsverhältnis auf eigenen Wunsch beendet hatte. Keller und Kerkenbrock suchten die städtische Kita am Rosengarten auf und sprachen mit der Leiterin. Die erklärte: „Frau Potthoff ist es in den zweieinhalb Jahren, die sie bei uns war, nicht gelungen, sich in das Team einzufinden. Ich habe mittlerweile mit der Einrichtung telefoniert, bei der sie vor ihrer mehrmonatigen Arbeitslosigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis bei uns angestellt war. Sie hatte es mal in der ostwestfälischen Provinz versucht, ist da aber wohl überall angeeckt, weil ihr immer alles nicht professionell genug war, aber niemand auf ihre Verbesserungsvorschläge eingehen wollte. So ähnlich hat sie damals ihren Wechsel zu uns auch erklärt, aber auch damit, dass es sie zurück in die Großstadt zog. Doch das Problem, das sie bei den von ihr so bezeichneten Landpomeranzen hatte, hatte sie offensichtlich auch bei uns.“
„Haben Sie ihre Bewerbungsunterlagen noch da?“
„Ja, selbstverständlich.“, antwortete die Leiterin und stellte sie den Beamten zur Verfügung. Beim Lesen der Unterlagen riss Kerkenbrock plötzlich die Augen auf.
ENDE TEIL I – Fortsetzung folgt am 08.07.
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