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Freitag, 8. Juli 2016
Erbarmungslos - zweiteiliger Kurzkrimi – Teil II
c. fabry, 12:07h
Die Polizistin blickte irritiert von dem Lebenslauf auf und stellte fest: „Hier steht 2005 – 2010 Leitung der evangelischen Kita Kunterbunt.“
„Ja“, mischte die Leiterin der städtischen Kita sich ein. „So eine junge Erzieherin als Leitung finde ich auch unverantwortlich. Sicherlich hat sie daher ihren Größenwahn gehabt.“
Charlotte Schweppe war von der Nachricht, dass es nun die dritte Kollegin aus ihrer Einrichtung – wenn auch diesmal eine ehemalige – getroffen hatte, mehr als beunruhigt. „Schließlich war sie meine Vorgängerin:“, sagte sie zitternd. „Vielleicht läuft da irgendjemand mit einem Wahn herum, dass dieser Ort vom Teufel besessen ist. Wie kann ich meine Kolleginnen und mich denn vor weiteren Anschlägen schützen?“
„Sie müssen äußerst wachsam sein.“, erklärte Keller. „Und so gut es Ihnen möglich ist, mit uns zusammenarbeiten. Gibt es alte Geschichten? Themen, wo plötzlich alle betreten den Blick senken oder den Raum verlassen?“
„Na ja, Gerüchte gibt es in einem Laden, in dem praktisch nur Frauen arbeiten immer.“, seufzte die Leiterin. „Ich kann mich ja mal umhören, ob vor meiner Zeit etwas Besonderes vorgefallen ist.“
Es klopfte an der Tür. Eine junge Mitarbeiterin trat ein, eine aparte Erscheinung, die allerdings noch nicht ganz realisiert hatte, dass mit dem Eintritt in die dritte Lebensdekade das Girlie-Dasein endgültig beendet ist.
„Ist es wirklich wahr, dass jetzt auch noch Nicole Potthoff ermordet wurde?“, fragte sie mit großen angstvollen Augen und entsetzlich gekünstelter Piepsstimme.
„Ja.“, erwiderte Charlotte Schweppe betroffen. Und wandte sich dann an die Polizeibeamten. „Das ist meine Kollegin Denise Reuter. Komm doch rein Denise. Kannst du dich an irgendeine Geschichte aus der Vergangenheit erinnern, die uns jetzt einholt? Irgendeine Idee, wer hinter diesen gemeinen Morden stecken könnte?“
„Nein.“, piepste Denise Reuter, „Woher soll ich das wissen? Ich bin ja schließlich auch erst seit sieben Jahren hier.“
„Dann können Sie sich also noch an die Amtszeit von Frau Potthoff erinnern?“, fragte Keller.
„Ja, natürlich. Wir haben ein Jahr lang zusammengearbeitet.“
„Und warum ist sie gegangen?“
Denise Reuter zuckte mit den Schultern und blickte betont unschuldig drein. „Das weiß ich nicht mehr.“, sagte sie. „Ich schätze sie wollte einfach woanders Erfahrungen sammeln, um sich beruflich weiter zu entwickeln.“
„Aber wenn Sie gar keine Ahnung haben, was dahinter stecken könnte, warum haben Sie dann so große Angst, Frau Reuter?“, fragte Kerkenbrock.
Denise Reuter errötete Feuermelder-artig. „Ich weiß nicht, vielleicht, weil alle getöteten Frauen hier arbeiten oder gearbeitet haben. Ich verstehe es ja auch nicht. Die einzige, die etwas gegen uns haben könnte, ist Susanne Schnarre. Aber ich kann mir irgendwie weder vorstellen, dass die den Mut hat, Leute zu ermorden noch dass sie es sich leisten kann, jemanden dafür zu bezahlen.“
„Wer bitte ist Susanne Schnarre?“, fragte Keller.
„Eine ehemalige Kollegin.“, erklärte die Erzieherin. „Sie ist ein halbes Jahr vor Nicole gegangen.“
„Und warum?“
„Sie war krank.“
„Woran war sie erkrankt?“
„Irgendwas psychisches. So genau weiß ich das auch nicht mehr. Auf jeden Fall konnte man nicht mehr mit ihr arbeiten, es wurde immer schlimmer und irgendwann ist sie in der Psychiatrie gelandet.“
„Gab es einen Zusammenhang zwischen ihrer psychischen Erkrankung und Konflikten am Arbeitsplatz?“
„Kann sein.“, erklärte Denise Reuter. „Wir hatten ja alle Schwierigkeiten mit ihr, niemand wollte gern mit ihr zusammenarbeiten. Sie ging allen auf die Nerven, weil sie nichts geregelt kriegte, einen merkwürdigen Umgang mit den Kindern hatte, denn sie war oft viel zu ungeduldig und bei ihren Vorschlägen in den Team-Sitzungen stellten sich uns regelmäßig die Nackenhaare auf. Wir waren schon froh, als sie endlich weg war, es ging einfach nicht mit ihr.“
Die Beamten ließen sich von Charlotte Schweppe die Personalakte von Susanne Schnarre geben. Nachdem auch andere ältere Kolleginnen die Eindrücke von Frau Reuter bestätigt hatten, machten sie sich zu der angegebenen Adresse der verdächtigen Person auf.
Susanne Schnarre bewohnte mit ihrem Mann und ihrem Sohn eine großzügige Wohnung im gleichen Innenstadtviertel, in dem auch Stefan Keller lebte. Die Frau war ihm in der Vergangenheit schon häufiger aufgefallen, wenn er gelegentlich an freien Vormittagen auf dem Wochenmarkt eingekauft hatte. Sie war stark übergewichtig und ihr zusätzlich wie von Medikamenten aufgedunsenes Gesicht wurde von einer unvorteilhaften Frisur in einem extrem künstlichen Dunkelblond-Ton eingerahmt. Sie trug legere Kleidung in schreienden Farben und blickte, nachdem die Beamten sich vorgestellt hatten, unruhig von einem zum anderen. Ihre Festnahme gestaltete sich hochdramatisch, weil sie sich berechtigterweise um ihr Kind sorgte, dessen Vater noch bei der Arbeit war. Sie durfte den Jungen mitnehmen, der Vater könne ihn ja später abholen, versicherte Kerkenbrock.
Sie warteten mit dem Verhör, bis der Vater das Kind abholen konnte und begannen schon einmal mit der Dokumentation ihrer bisherigen Vorgehensweise – zu der Befragung sollte es nicht mehr kommen.
Die letzten aufgeregten Kinderstimmen waren verklungen in der Kita Kunterbunt und Charlotte Schweppe war beim Spätdienst von Denise Reuter unterstützt worden. Die verließ nun die Einrichtung und steuerte auf ihren Libido-roten Austin Mini zu. Sie wunderte sich, dass beim Drücken der ferngesteuerten Türentriegelung kein Schnappen zu vernehmen war. „Oh“, dachte sie. „Hab ich vergessen abzuschließen oder ist die Fernsteuerung kaputt?“ , doch die Fahrertür ließ sich problemlos öffnen.
Sie warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz, legte den Sicherheitsgurt an und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Plötzlich war da Bewegung im Auto und alles geschah blitzschnell. Etwas Dünnes, Hartes drückte gegen ihre Kehle und schnürte ihr langsam die Luft ab. Sie griff danach, doch es war ihr unmöglich mit den Fingern zwischen den dünnen Draht und ihre Hals zu gelangen. Panisch versuchte sie um Hilfe zu schreien, als plötzlich ein ohrenbetäubendes, berstendes Geräusch hinter ihr ertönte und der Druck auf ihren Hals sich lockerte. Eine Tür wurde aufgerissen und jemand lief weg. Dann wurde die Fahrertür geöffnet. Es war Charlotte, die sich über sie beugte und den Sicherheitsgurt löste. „Komm da raus, Denise.“, sagte sie. „Sie können dir nichts mehr tun. Wir gehen rein und ich rufe einen Krankenwagen.“
Im Augenwinkel nahm die junge Frau wahr, dass jemand auf dem Rücksitz saß. Sie fuhr herum: Es war eine alte Frau, die mit leerem Blick unter das Autodach starrte. Aus ihrer Schläfe sickerte Blut und neben ihr lag ein Ziegelstein. Und dann schrie sie und glaubte, sie würde nie wieder damit aufhören.
Bereits eine Stunde später hatte die Polizei den zweiten Attentäter ausfindig gemacht, es handelte sich um den Ehemann der Frau, die versucht hatte, Denise Reuter mit einer Gitarrensaite zu garrottieren. Die Frau hatte Charlotte Schweppes Maßnahme zur Rettung ihrer Kollegin nicht überlebt. Der in das hintere Seitenfenster geworfene Ziegelstein sollte nur den Mord verhindern, nicht die Täterin töten, aber das war nicht zu vermeiden gewesen. Der Ehemann, der in Panik geflüchtet war, hatte sich kurz darauf der Polizei gestellt. Sein Name war Erwin Bruns, er war der Vater von Susanne Schnarre. Er legte ein umfassendes Geständnis ab:
„Meine Frau und ich konnten nicht länger hinnehmen, dass unsere Tochter von diesen Hyänen systematisch zugrunde gerichtet worden ist und die einfach so weitermachten, als wäre nichts passiert.“
„Was ist denn damals passiert?“, fragte Keller.
„Meine Tochter hat 1999 angefangen in dem Kindergarten zu arbeiten. Damals gehörte er noch zur Kirchengemeinde, wurde von einem Pastor und einer Presbyterin begleitet, die Leiterin war eine nette, erfahrene, ältere Dame und im Kindergarten mussten sie sich damals ja auch noch nicht so überschlagen mit Aufbewahrung von 7-16 Uhr, für Kinder ab 3 Monaten und den ganzen Anforderungen, dass die Kinder schon ganz viel lernen müssen, damit man später in der Schule noch mehr in sie rein stopfen kann. Dann ging 2005 Frau Nolte in Ruhestand und die Potthoff kam und das war der Anfang vom Ende. Sie war jünger als meine Tochter und machte sich immer über sie lustig, so als wäre sie vollkommen von gestern, weil sie nicht mit durch die Kneipen und Diskotheken zog, sich am Wochenende nicht betrinken wollte und nicht wie die Potthoff durch sämtliche Betten rutschte, obwohl ich persönlich ja glaube, dass ihre Liebhaber sich diese Trulla regelmäßig schön trinken mussten. Jedenfalls hat diese Leiterin meine Tochter auch bei den Kolleginnen immer wieder schlecht gemacht, bis sie alle gegen sich hatte. Am schlimmsten waren die ganz jungen Mädels, also die Reuter und die Dünker. Das waren fast noch Backfische und dazu dumm wie Brot und furchtbar eingebildet. Aber auch die Depenbrock hat fleißig mit gemobbt, obwohl die damals auch schon fast vierzig war und verantwortlich für zwei kleine Kinder. Am Ende ist meine Tochter zusammengebrochen und sie hat sich bis heute nicht davon erholt. Sie muss immer noch hohe Dosen Antidepressiva einnehmen, davon ist sie auseinandergegangen wie ein Hefekloß, regelmäßige Klinikaufenthalte bringen ihr Familienleben durcheinander und gefährden ihre Ehe. Sie war eine liebenswerte, fleißige Familienmutter, ein anständiges funktionierendes Glied der Gesellschaft und da fallen so ein paar nichtsnutzige Hyänen über sie her und fressen ihre Seele, und niemand kommt auf die Idee, sie zu bestrafen. Zu der Zeit, als die Potthoff anfing, hatten sie die Kindergärten alle zentralisiert, der Pfarrer kümmerte sich nicht mehr so wie vorher und die Leitung dieser ganzen vielen Einrichtungen bekam überhaupt nichts mit von dem, was da lief. Ich bin da mal im Büro aufgelaufen, aber da hätte ich genauso gut eine Parkuhr voll quatschen können. Da haben meine Frau und ich den Entschluss gefasst, unsere Tochter zu rächen. Wir wollten ein Exempel statuieren, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Leider ist die Letzte davon gekommen und stattdessen hat es mein Frau erwischt. Das bedaure ich aus tiefster Seele. Und dass ich meinen Enkel nicht aufwachsen sehen werde, das tut mir auch Leid. Aber sonst bedaure ich nichts.“
Kerkenbrock bezweifelte, dass Susanne Schnarres Eltern ihrer Tochter oder auch der Menschheit einen Gefallen getan hatten. Die Tochter würde durch den gewaltsamen und unehrenhaften Verlust der Mutter und die Straffälligkeit ihres Vaters nur zusätzlich belastet, das hatten die Eltern in ihrer grenzenlosen Verzweiflung nicht bedacht. „So viel Leid.“, dachte sie, „und nur weil niemand rechtzeitig eingegriffen hat.“
Keller vermied es in der folgenden Zeit, auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Er wollte Susanne Schnarre nicht in die Augen sehen müssen, auch wenn er keine Schuld an ihrem Elend trug. Für sie zählte er zu denen, die ihr wehgetan hatten.
ENDE
„Ja“, mischte die Leiterin der städtischen Kita sich ein. „So eine junge Erzieherin als Leitung finde ich auch unverantwortlich. Sicherlich hat sie daher ihren Größenwahn gehabt.“
Charlotte Schweppe war von der Nachricht, dass es nun die dritte Kollegin aus ihrer Einrichtung – wenn auch diesmal eine ehemalige – getroffen hatte, mehr als beunruhigt. „Schließlich war sie meine Vorgängerin:“, sagte sie zitternd. „Vielleicht läuft da irgendjemand mit einem Wahn herum, dass dieser Ort vom Teufel besessen ist. Wie kann ich meine Kolleginnen und mich denn vor weiteren Anschlägen schützen?“
„Sie müssen äußerst wachsam sein.“, erklärte Keller. „Und so gut es Ihnen möglich ist, mit uns zusammenarbeiten. Gibt es alte Geschichten? Themen, wo plötzlich alle betreten den Blick senken oder den Raum verlassen?“
„Na ja, Gerüchte gibt es in einem Laden, in dem praktisch nur Frauen arbeiten immer.“, seufzte die Leiterin. „Ich kann mich ja mal umhören, ob vor meiner Zeit etwas Besonderes vorgefallen ist.“
Es klopfte an der Tür. Eine junge Mitarbeiterin trat ein, eine aparte Erscheinung, die allerdings noch nicht ganz realisiert hatte, dass mit dem Eintritt in die dritte Lebensdekade das Girlie-Dasein endgültig beendet ist.
„Ist es wirklich wahr, dass jetzt auch noch Nicole Potthoff ermordet wurde?“, fragte sie mit großen angstvollen Augen und entsetzlich gekünstelter Piepsstimme.
„Ja.“, erwiderte Charlotte Schweppe betroffen. Und wandte sich dann an die Polizeibeamten. „Das ist meine Kollegin Denise Reuter. Komm doch rein Denise. Kannst du dich an irgendeine Geschichte aus der Vergangenheit erinnern, die uns jetzt einholt? Irgendeine Idee, wer hinter diesen gemeinen Morden stecken könnte?“
„Nein.“, piepste Denise Reuter, „Woher soll ich das wissen? Ich bin ja schließlich auch erst seit sieben Jahren hier.“
„Dann können Sie sich also noch an die Amtszeit von Frau Potthoff erinnern?“, fragte Keller.
„Ja, natürlich. Wir haben ein Jahr lang zusammengearbeitet.“
„Und warum ist sie gegangen?“
Denise Reuter zuckte mit den Schultern und blickte betont unschuldig drein. „Das weiß ich nicht mehr.“, sagte sie. „Ich schätze sie wollte einfach woanders Erfahrungen sammeln, um sich beruflich weiter zu entwickeln.“
„Aber wenn Sie gar keine Ahnung haben, was dahinter stecken könnte, warum haben Sie dann so große Angst, Frau Reuter?“, fragte Kerkenbrock.
Denise Reuter errötete Feuermelder-artig. „Ich weiß nicht, vielleicht, weil alle getöteten Frauen hier arbeiten oder gearbeitet haben. Ich verstehe es ja auch nicht. Die einzige, die etwas gegen uns haben könnte, ist Susanne Schnarre. Aber ich kann mir irgendwie weder vorstellen, dass die den Mut hat, Leute zu ermorden noch dass sie es sich leisten kann, jemanden dafür zu bezahlen.“
„Wer bitte ist Susanne Schnarre?“, fragte Keller.
„Eine ehemalige Kollegin.“, erklärte die Erzieherin. „Sie ist ein halbes Jahr vor Nicole gegangen.“
„Und warum?“
„Sie war krank.“
„Woran war sie erkrankt?“
„Irgendwas psychisches. So genau weiß ich das auch nicht mehr. Auf jeden Fall konnte man nicht mehr mit ihr arbeiten, es wurde immer schlimmer und irgendwann ist sie in der Psychiatrie gelandet.“
„Gab es einen Zusammenhang zwischen ihrer psychischen Erkrankung und Konflikten am Arbeitsplatz?“
„Kann sein.“, erklärte Denise Reuter. „Wir hatten ja alle Schwierigkeiten mit ihr, niemand wollte gern mit ihr zusammenarbeiten. Sie ging allen auf die Nerven, weil sie nichts geregelt kriegte, einen merkwürdigen Umgang mit den Kindern hatte, denn sie war oft viel zu ungeduldig und bei ihren Vorschlägen in den Team-Sitzungen stellten sich uns regelmäßig die Nackenhaare auf. Wir waren schon froh, als sie endlich weg war, es ging einfach nicht mit ihr.“
Die Beamten ließen sich von Charlotte Schweppe die Personalakte von Susanne Schnarre geben. Nachdem auch andere ältere Kolleginnen die Eindrücke von Frau Reuter bestätigt hatten, machten sie sich zu der angegebenen Adresse der verdächtigen Person auf.
Susanne Schnarre bewohnte mit ihrem Mann und ihrem Sohn eine großzügige Wohnung im gleichen Innenstadtviertel, in dem auch Stefan Keller lebte. Die Frau war ihm in der Vergangenheit schon häufiger aufgefallen, wenn er gelegentlich an freien Vormittagen auf dem Wochenmarkt eingekauft hatte. Sie war stark übergewichtig und ihr zusätzlich wie von Medikamenten aufgedunsenes Gesicht wurde von einer unvorteilhaften Frisur in einem extrem künstlichen Dunkelblond-Ton eingerahmt. Sie trug legere Kleidung in schreienden Farben und blickte, nachdem die Beamten sich vorgestellt hatten, unruhig von einem zum anderen. Ihre Festnahme gestaltete sich hochdramatisch, weil sie sich berechtigterweise um ihr Kind sorgte, dessen Vater noch bei der Arbeit war. Sie durfte den Jungen mitnehmen, der Vater könne ihn ja später abholen, versicherte Kerkenbrock.
Sie warteten mit dem Verhör, bis der Vater das Kind abholen konnte und begannen schon einmal mit der Dokumentation ihrer bisherigen Vorgehensweise – zu der Befragung sollte es nicht mehr kommen.
Die letzten aufgeregten Kinderstimmen waren verklungen in der Kita Kunterbunt und Charlotte Schweppe war beim Spätdienst von Denise Reuter unterstützt worden. Die verließ nun die Einrichtung und steuerte auf ihren Libido-roten Austin Mini zu. Sie wunderte sich, dass beim Drücken der ferngesteuerten Türentriegelung kein Schnappen zu vernehmen war. „Oh“, dachte sie. „Hab ich vergessen abzuschließen oder ist die Fernsteuerung kaputt?“ , doch die Fahrertür ließ sich problemlos öffnen.
Sie warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz, legte den Sicherheitsgurt an und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Plötzlich war da Bewegung im Auto und alles geschah blitzschnell. Etwas Dünnes, Hartes drückte gegen ihre Kehle und schnürte ihr langsam die Luft ab. Sie griff danach, doch es war ihr unmöglich mit den Fingern zwischen den dünnen Draht und ihre Hals zu gelangen. Panisch versuchte sie um Hilfe zu schreien, als plötzlich ein ohrenbetäubendes, berstendes Geräusch hinter ihr ertönte und der Druck auf ihren Hals sich lockerte. Eine Tür wurde aufgerissen und jemand lief weg. Dann wurde die Fahrertür geöffnet. Es war Charlotte, die sich über sie beugte und den Sicherheitsgurt löste. „Komm da raus, Denise.“, sagte sie. „Sie können dir nichts mehr tun. Wir gehen rein und ich rufe einen Krankenwagen.“
Im Augenwinkel nahm die junge Frau wahr, dass jemand auf dem Rücksitz saß. Sie fuhr herum: Es war eine alte Frau, die mit leerem Blick unter das Autodach starrte. Aus ihrer Schläfe sickerte Blut und neben ihr lag ein Ziegelstein. Und dann schrie sie und glaubte, sie würde nie wieder damit aufhören.
Bereits eine Stunde später hatte die Polizei den zweiten Attentäter ausfindig gemacht, es handelte sich um den Ehemann der Frau, die versucht hatte, Denise Reuter mit einer Gitarrensaite zu garrottieren. Die Frau hatte Charlotte Schweppes Maßnahme zur Rettung ihrer Kollegin nicht überlebt. Der in das hintere Seitenfenster geworfene Ziegelstein sollte nur den Mord verhindern, nicht die Täterin töten, aber das war nicht zu vermeiden gewesen. Der Ehemann, der in Panik geflüchtet war, hatte sich kurz darauf der Polizei gestellt. Sein Name war Erwin Bruns, er war der Vater von Susanne Schnarre. Er legte ein umfassendes Geständnis ab:
„Meine Frau und ich konnten nicht länger hinnehmen, dass unsere Tochter von diesen Hyänen systematisch zugrunde gerichtet worden ist und die einfach so weitermachten, als wäre nichts passiert.“
„Was ist denn damals passiert?“, fragte Keller.
„Meine Tochter hat 1999 angefangen in dem Kindergarten zu arbeiten. Damals gehörte er noch zur Kirchengemeinde, wurde von einem Pastor und einer Presbyterin begleitet, die Leiterin war eine nette, erfahrene, ältere Dame und im Kindergarten mussten sie sich damals ja auch noch nicht so überschlagen mit Aufbewahrung von 7-16 Uhr, für Kinder ab 3 Monaten und den ganzen Anforderungen, dass die Kinder schon ganz viel lernen müssen, damit man später in der Schule noch mehr in sie rein stopfen kann. Dann ging 2005 Frau Nolte in Ruhestand und die Potthoff kam und das war der Anfang vom Ende. Sie war jünger als meine Tochter und machte sich immer über sie lustig, so als wäre sie vollkommen von gestern, weil sie nicht mit durch die Kneipen und Diskotheken zog, sich am Wochenende nicht betrinken wollte und nicht wie die Potthoff durch sämtliche Betten rutschte, obwohl ich persönlich ja glaube, dass ihre Liebhaber sich diese Trulla regelmäßig schön trinken mussten. Jedenfalls hat diese Leiterin meine Tochter auch bei den Kolleginnen immer wieder schlecht gemacht, bis sie alle gegen sich hatte. Am schlimmsten waren die ganz jungen Mädels, also die Reuter und die Dünker. Das waren fast noch Backfische und dazu dumm wie Brot und furchtbar eingebildet. Aber auch die Depenbrock hat fleißig mit gemobbt, obwohl die damals auch schon fast vierzig war und verantwortlich für zwei kleine Kinder. Am Ende ist meine Tochter zusammengebrochen und sie hat sich bis heute nicht davon erholt. Sie muss immer noch hohe Dosen Antidepressiva einnehmen, davon ist sie auseinandergegangen wie ein Hefekloß, regelmäßige Klinikaufenthalte bringen ihr Familienleben durcheinander und gefährden ihre Ehe. Sie war eine liebenswerte, fleißige Familienmutter, ein anständiges funktionierendes Glied der Gesellschaft und da fallen so ein paar nichtsnutzige Hyänen über sie her und fressen ihre Seele, und niemand kommt auf die Idee, sie zu bestrafen. Zu der Zeit, als die Potthoff anfing, hatten sie die Kindergärten alle zentralisiert, der Pfarrer kümmerte sich nicht mehr so wie vorher und die Leitung dieser ganzen vielen Einrichtungen bekam überhaupt nichts mit von dem, was da lief. Ich bin da mal im Büro aufgelaufen, aber da hätte ich genauso gut eine Parkuhr voll quatschen können. Da haben meine Frau und ich den Entschluss gefasst, unsere Tochter zu rächen. Wir wollten ein Exempel statuieren, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Leider ist die Letzte davon gekommen und stattdessen hat es mein Frau erwischt. Das bedaure ich aus tiefster Seele. Und dass ich meinen Enkel nicht aufwachsen sehen werde, das tut mir auch Leid. Aber sonst bedaure ich nichts.“
Kerkenbrock bezweifelte, dass Susanne Schnarres Eltern ihrer Tochter oder auch der Menschheit einen Gefallen getan hatten. Die Tochter würde durch den gewaltsamen und unehrenhaften Verlust der Mutter und die Straffälligkeit ihres Vaters nur zusätzlich belastet, das hatten die Eltern in ihrer grenzenlosen Verzweiflung nicht bedacht. „So viel Leid.“, dachte sie, „und nur weil niemand rechtzeitig eingegriffen hat.“
Keller vermied es in der folgenden Zeit, auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Er wollte Susanne Schnarre nicht in die Augen sehen müssen, auch wenn er keine Schuld an ihrem Elend trug. Für sie zählte er zu denen, die ihr wehgetan hatten.
ENDE
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Freitag, 1. Juli 2016
Erbarmungslos - zweiteiliger Kurzkrimi – Teil I
c. fabry, 18:37h
Der Geruch war so entsetzlich, wie es in einem derartigen, anonymen Wohnsilo bei der gegenwärtigen sommerlichen Schwüle zu erwarten war. Hier fühlte sich niemand für irgendetwas oder irgendwen außerhalb seiner eigenen, privaten Wohnräume verantwortlich. Es stank nach Urin, saurer Milch und geronnenem Blut, von dem sich eine gewaltige Pfütze auf dem Boden ausgebreitet hatte. Die Leiche der jungen Frau lag zwar in der halb geöffneten Wohnungstür, aber ihre Mitbewohner hatten sie entweder beim Verlassen der eigenen Wohnungen oder bei der Rückkehr in dieselben nicht bemerkt oder – was wahrscheinlicher war – ignoriert, weil Hilfestellung Ärger mit sich bringen konnte oder zumindest den persönlichen Zeitplan durcheinander brachte.
In einem weißen Overall trat Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock aus der Wohnung und sah ihren ranghöheren Kollegen herausfordernd an. „Na, Herr, Keller? Auch schon am Tatort?“, fragte sie keck.
„Ich hatte noch einen Arzttermin“, entschuldigte Stefan Keller sich. „Aber Sie haben in der Zwischenzeit doch sicherlich schon alle wesentlichen Spuren zusammengetragen und mir eine Menge zu erzählen.“
„In der Tat.“, erwiderte die junge Polizistin. „Das Opfer heißt Nadine Dünker, 28 Jahre alt, alleinstehend, Erzieherin in einer Kindertageseinrichtung. Die Einrichtungsleitung hat ihr heute Morgen auf den AB gesprochen, weil sie nicht zur Arbeit erschienen ist. Wir können gleich dorthin fahren und erste Gespräche führen, denn von der Familie, deren Nummern im Adressbuch stehen, haben wir noch niemanden erreicht. Ach ja, Konstanze Flegel meint, sie muss gestern Abend, etwa gegen 23 Uhr mit mehreren Messerstichen getötet worden sein. Sie hat dem Täter selbst die Tür geöffnet und ist dann hier im Eingangsbereich niedergestochen worden. Von den Nachbarn hat niemand etwas gemerkt, nur ein früher Paketbote, der ein Stockwerk höher etwas abgeben wollte, hat die Tote gefunden.“
In der KiTa herrschte blankes Entsetzen. Alle beschrieben Nadine Dünker als eine lebenslustige junge Frau, bei den Kindern und den Kolleginnen gleichermaßen beliebt, attraktiv und sympathisch, aber auch keine leichtsinnige Partylöwin, die an jedem Wochenende eine andere Zufallsbekanntschaft aus der Disco abgeschleppt hätte. Niemand hatte den Hauch einer Ahnung, wer einen Grund gehabt hätte, ihr das anzutun.
Sie hatten nach zwei Tagen noch keinen nennenswerten Ermittlungsansatz, da wurde die nächste Frauenleiche aufgefunden: Anja Depenbrock, 45 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, war beim abendlichen Joggen mit einem Stein erschlagen worden. Normalerweise hätten die ermittelnden Beamten keinen Zusammenhang hergestellt: der erste Mord geschah im Stadtgebiet, der zweite im ländlichen Umfeld. Das erste Opfer war jung und alleinstehend gewesen, das zweite eine gestandene Familienfrau. Der erste Mord geschah in den eigenen vier Wänden, der zweite in der Öffentlichkeit; das erste Opfer war niedergestochen worden, das zweite erschlagen. Doch es gab zwei wesentliche Gemeinsamkeiten: erstens grenzenlose Brutalität, die auf ungezügelte Wut deutete und zweitens der gemeinsame Arbeitsplatz der beiden Frauen: Die Kita Kunterbunt des Evangelischen Trägerverbundes im Stadtgebiet.
Die Einrichtungsleiterin Charlotte Schweppe fühlte sich sichtlich unbehaglich, als die Beamten zum zweiten Mal bei ihr vorstellig wurden.
„Ich habe absolut keine Idee, was hier vor sich geht.“, erklärte sie. „Offen gestanden sind wir neben der Trauer und dem Entsetzen im Moment auch viel zu sehr damit beschäftigt, die Ausfälle zu kompensieren. Beide Kolleginnen sind voll eingeplant und zwei weitere befinden sich zur Zeit im Jahresurlaub, die kann ich auch nicht zurückholen, die eine ist ohne Handy auf Wandertour in Schottland unterwegs, die andere liegt in Thailand am Strand.“
„Seit wann können Hungerlohn-gebeutelte Erzieherinnen sich so kostspielige Ferien leisten?“, fragte Keller hellhörig.
„Gute Frage.“, antwortete Charlotte Schweppe. Unsere Schottland-Expertin lebt so reduziert, dass sie praktisch nur die Anreise finanzieren muss: wandern, zelten, einkaufen im Supermarkt und selbst kochen. Die andere Kollegin ist mit einem Pfarrer verheiratet. Noch Fragen?“
„Ja.“, erklärte Keller, „aber keine die das Urlaubsverhalten ihrer Mitarbeiterinnen betreffen. Gibt es in ihrem Team vielleicht eine Kollegin, die die beiden im Visier hatte? Oder gab es in der letzten Zeit auffällige Helikopter-Eltern, die ihre Kolleginnen möglicherweise für eine Fehlentwicklung bei ihrem Kind verantwortlich machten?“
Die Leiterin überlegte kurz, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. „Nein, solche Geschichten hört man ja immer wieder, sowohl von Zickenkrieg unter Kolleginnen als auch von besagten Übereltern, die überall mitbestimmen wollen und immer etwas zu nörgeln haben und die Defizite ihrer selbst verzogenen Kinder der Kita ankreiden. Aber ich bin jetzt schon einige Jahre hier und habe so etwas noch nicht erleben müssen.“
„Wie sieht denn der Stellenplan aus?“, fragte Kerkenbrock. „Vollzeit, Teilzeit, befristet, unbefristet und so weiter.“
„Also bis auf unsere Jahrespraktikantin und eine Berufseinsteigerin sind alle unbefristet beschäftigt. Anja hatte eine halbe Stelle, genauso wie Karin – die ist gerade in Thailand – und Janine, die ist vor einem Jahr nach der zweiten Schwangerschaft wieder eingestiegen.“
„Das heißt, niemand mit Teilzeitbeschäftigung sehnt sich nach einer vollen Stelle?“
„Doch, Franziska, das habe ich vergessen. Sie ist erst seit kurzem bei diesem Träger und im Sozialplan ganz unten. Als im letzten Herbst mehr Kinder gingen als dazu kamen, mussten wir eine viertel Stelle abgeben und da war Franziska dran. Normalerweise einigen wir uns im Team, wer vorübergehend mal ein paar Stunden abgeben möchte, manchmal passt das ja ganz gut in die Lebensplanung, aber diesmal wollte keine verzichten, da hat es eben Franziska getroffen. Wenn die Anmeldezahlen wieder steigen, kann sie aber wieder aufstocken. Sie hätte auch ein paar Stunden in einer anderen Kita dazunehmen können, aber dazu hatte sie keine Lust.“
„In welcher anderen Kita?“, fragte Keller.
„Das weiß ich nicht mehr.“, erwiderte die Erzieherin. „Da ist ja ständig alles in Bewegung. Wir sind alle zentral angestellt und werden nach Bedarf auf die Einrichtungen verteilt oder lösen das Problem mit flexiblen Stundenkontingenten. Es gibt immer welche, die sich gelegentliche Reduzierungen leisten können.“
„Da kommt eine Menge Arbeit auf uns zu.“, erklärte Keller im Auto. „Wir müssen etwa zweihundert Beschäftigte überprüfen, von denen vermutlich ein Drittel in Teilzeit arbeitet und im Detail herauszukriegen, wer von denen das wirklich freiwillig tut, erfordert ein wenig Fingerspitzengefühl.“
„Glauben Sie wirklich, eine Erzieherin mordet, um ihr Stundenkontingent aufzustocken? Wer braucht denn bitte schön eine Aufstockung von eineinhalb Stellen?“
Die systematische Überprüfung der Erzieherinnen des Evangelischen Trägers stellten sie hintenan, als zwei Tage später die dritte Frauenleiche auftauchte, die mit Benzin übergossen und angezündet worden war. Es handelte sich auch bei dieser um eine Erzieherin, allerdings um eine, die zurzeit ohne Beschäftigung war. Sie lebte allein, war siebenunddreißig Jahre alt und hatte stapelweise Bewerbungen geschrieben, nachdem sie vor drei Monaten ihr Arbeitsverhältnis auf eigenen Wunsch beendet hatte. Keller und Kerkenbrock suchten die städtische Kita am Rosengarten auf und sprachen mit der Leiterin. Die erklärte: „Frau Potthoff ist es in den zweieinhalb Jahren, die sie bei uns war, nicht gelungen, sich in das Team einzufinden. Ich habe mittlerweile mit der Einrichtung telefoniert, bei der sie vor ihrer mehrmonatigen Arbeitslosigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis bei uns angestellt war. Sie hatte es mal in der ostwestfälischen Provinz versucht, ist da aber wohl überall angeeckt, weil ihr immer alles nicht professionell genug war, aber niemand auf ihre Verbesserungsvorschläge eingehen wollte. So ähnlich hat sie damals ihren Wechsel zu uns auch erklärt, aber auch damit, dass es sie zurück in die Großstadt zog. Doch das Problem, das sie bei den von ihr so bezeichneten Landpomeranzen hatte, hatte sie offensichtlich auch bei uns.“
„Haben Sie ihre Bewerbungsunterlagen noch da?“
„Ja, selbstverständlich.“, antwortete die Leiterin und stellte sie den Beamten zur Verfügung. Beim Lesen der Unterlagen riss Kerkenbrock plötzlich die Augen auf.
ENDE TEIL I – Fortsetzung folgt am 08.07.
In einem weißen Overall trat Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock aus der Wohnung und sah ihren ranghöheren Kollegen herausfordernd an. „Na, Herr, Keller? Auch schon am Tatort?“, fragte sie keck.
„Ich hatte noch einen Arzttermin“, entschuldigte Stefan Keller sich. „Aber Sie haben in der Zwischenzeit doch sicherlich schon alle wesentlichen Spuren zusammengetragen und mir eine Menge zu erzählen.“
„In der Tat.“, erwiderte die junge Polizistin. „Das Opfer heißt Nadine Dünker, 28 Jahre alt, alleinstehend, Erzieherin in einer Kindertageseinrichtung. Die Einrichtungsleitung hat ihr heute Morgen auf den AB gesprochen, weil sie nicht zur Arbeit erschienen ist. Wir können gleich dorthin fahren und erste Gespräche führen, denn von der Familie, deren Nummern im Adressbuch stehen, haben wir noch niemanden erreicht. Ach ja, Konstanze Flegel meint, sie muss gestern Abend, etwa gegen 23 Uhr mit mehreren Messerstichen getötet worden sein. Sie hat dem Täter selbst die Tür geöffnet und ist dann hier im Eingangsbereich niedergestochen worden. Von den Nachbarn hat niemand etwas gemerkt, nur ein früher Paketbote, der ein Stockwerk höher etwas abgeben wollte, hat die Tote gefunden.“
In der KiTa herrschte blankes Entsetzen. Alle beschrieben Nadine Dünker als eine lebenslustige junge Frau, bei den Kindern und den Kolleginnen gleichermaßen beliebt, attraktiv und sympathisch, aber auch keine leichtsinnige Partylöwin, die an jedem Wochenende eine andere Zufallsbekanntschaft aus der Disco abgeschleppt hätte. Niemand hatte den Hauch einer Ahnung, wer einen Grund gehabt hätte, ihr das anzutun.
Sie hatten nach zwei Tagen noch keinen nennenswerten Ermittlungsansatz, da wurde die nächste Frauenleiche aufgefunden: Anja Depenbrock, 45 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, war beim abendlichen Joggen mit einem Stein erschlagen worden. Normalerweise hätten die ermittelnden Beamten keinen Zusammenhang hergestellt: der erste Mord geschah im Stadtgebiet, der zweite im ländlichen Umfeld. Das erste Opfer war jung und alleinstehend gewesen, das zweite eine gestandene Familienfrau. Der erste Mord geschah in den eigenen vier Wänden, der zweite in der Öffentlichkeit; das erste Opfer war niedergestochen worden, das zweite erschlagen. Doch es gab zwei wesentliche Gemeinsamkeiten: erstens grenzenlose Brutalität, die auf ungezügelte Wut deutete und zweitens der gemeinsame Arbeitsplatz der beiden Frauen: Die Kita Kunterbunt des Evangelischen Trägerverbundes im Stadtgebiet.
Die Einrichtungsleiterin Charlotte Schweppe fühlte sich sichtlich unbehaglich, als die Beamten zum zweiten Mal bei ihr vorstellig wurden.
„Ich habe absolut keine Idee, was hier vor sich geht.“, erklärte sie. „Offen gestanden sind wir neben der Trauer und dem Entsetzen im Moment auch viel zu sehr damit beschäftigt, die Ausfälle zu kompensieren. Beide Kolleginnen sind voll eingeplant und zwei weitere befinden sich zur Zeit im Jahresurlaub, die kann ich auch nicht zurückholen, die eine ist ohne Handy auf Wandertour in Schottland unterwegs, die andere liegt in Thailand am Strand.“
„Seit wann können Hungerlohn-gebeutelte Erzieherinnen sich so kostspielige Ferien leisten?“, fragte Keller hellhörig.
„Gute Frage.“, antwortete Charlotte Schweppe. Unsere Schottland-Expertin lebt so reduziert, dass sie praktisch nur die Anreise finanzieren muss: wandern, zelten, einkaufen im Supermarkt und selbst kochen. Die andere Kollegin ist mit einem Pfarrer verheiratet. Noch Fragen?“
„Ja.“, erklärte Keller, „aber keine die das Urlaubsverhalten ihrer Mitarbeiterinnen betreffen. Gibt es in ihrem Team vielleicht eine Kollegin, die die beiden im Visier hatte? Oder gab es in der letzten Zeit auffällige Helikopter-Eltern, die ihre Kolleginnen möglicherweise für eine Fehlentwicklung bei ihrem Kind verantwortlich machten?“
Die Leiterin überlegte kurz, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. „Nein, solche Geschichten hört man ja immer wieder, sowohl von Zickenkrieg unter Kolleginnen als auch von besagten Übereltern, die überall mitbestimmen wollen und immer etwas zu nörgeln haben und die Defizite ihrer selbst verzogenen Kinder der Kita ankreiden. Aber ich bin jetzt schon einige Jahre hier und habe so etwas noch nicht erleben müssen.“
„Wie sieht denn der Stellenplan aus?“, fragte Kerkenbrock. „Vollzeit, Teilzeit, befristet, unbefristet und so weiter.“
„Also bis auf unsere Jahrespraktikantin und eine Berufseinsteigerin sind alle unbefristet beschäftigt. Anja hatte eine halbe Stelle, genauso wie Karin – die ist gerade in Thailand – und Janine, die ist vor einem Jahr nach der zweiten Schwangerschaft wieder eingestiegen.“
„Das heißt, niemand mit Teilzeitbeschäftigung sehnt sich nach einer vollen Stelle?“
„Doch, Franziska, das habe ich vergessen. Sie ist erst seit kurzem bei diesem Träger und im Sozialplan ganz unten. Als im letzten Herbst mehr Kinder gingen als dazu kamen, mussten wir eine viertel Stelle abgeben und da war Franziska dran. Normalerweise einigen wir uns im Team, wer vorübergehend mal ein paar Stunden abgeben möchte, manchmal passt das ja ganz gut in die Lebensplanung, aber diesmal wollte keine verzichten, da hat es eben Franziska getroffen. Wenn die Anmeldezahlen wieder steigen, kann sie aber wieder aufstocken. Sie hätte auch ein paar Stunden in einer anderen Kita dazunehmen können, aber dazu hatte sie keine Lust.“
„In welcher anderen Kita?“, fragte Keller.
„Das weiß ich nicht mehr.“, erwiderte die Erzieherin. „Da ist ja ständig alles in Bewegung. Wir sind alle zentral angestellt und werden nach Bedarf auf die Einrichtungen verteilt oder lösen das Problem mit flexiblen Stundenkontingenten. Es gibt immer welche, die sich gelegentliche Reduzierungen leisten können.“
„Da kommt eine Menge Arbeit auf uns zu.“, erklärte Keller im Auto. „Wir müssen etwa zweihundert Beschäftigte überprüfen, von denen vermutlich ein Drittel in Teilzeit arbeitet und im Detail herauszukriegen, wer von denen das wirklich freiwillig tut, erfordert ein wenig Fingerspitzengefühl.“
„Glauben Sie wirklich, eine Erzieherin mordet, um ihr Stundenkontingent aufzustocken? Wer braucht denn bitte schön eine Aufstockung von eineinhalb Stellen?“
Die systematische Überprüfung der Erzieherinnen des Evangelischen Trägers stellten sie hintenan, als zwei Tage später die dritte Frauenleiche auftauchte, die mit Benzin übergossen und angezündet worden war. Es handelte sich auch bei dieser um eine Erzieherin, allerdings um eine, die zurzeit ohne Beschäftigung war. Sie lebte allein, war siebenunddreißig Jahre alt und hatte stapelweise Bewerbungen geschrieben, nachdem sie vor drei Monaten ihr Arbeitsverhältnis auf eigenen Wunsch beendet hatte. Keller und Kerkenbrock suchten die städtische Kita am Rosengarten auf und sprachen mit der Leiterin. Die erklärte: „Frau Potthoff ist es in den zweieinhalb Jahren, die sie bei uns war, nicht gelungen, sich in das Team einzufinden. Ich habe mittlerweile mit der Einrichtung telefoniert, bei der sie vor ihrer mehrmonatigen Arbeitslosigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis bei uns angestellt war. Sie hatte es mal in der ostwestfälischen Provinz versucht, ist da aber wohl überall angeeckt, weil ihr immer alles nicht professionell genug war, aber niemand auf ihre Verbesserungsvorschläge eingehen wollte. So ähnlich hat sie damals ihren Wechsel zu uns auch erklärt, aber auch damit, dass es sie zurück in die Großstadt zog. Doch das Problem, das sie bei den von ihr so bezeichneten Landpomeranzen hatte, hatte sie offensichtlich auch bei uns.“
„Haben Sie ihre Bewerbungsunterlagen noch da?“
„Ja, selbstverständlich.“, antwortete die Leiterin und stellte sie den Beamten zur Verfügung. Beim Lesen der Unterlagen riss Kerkenbrock plötzlich die Augen auf.
ENDE TEIL I – Fortsetzung folgt am 08.07.
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Sonntag, 26. Juni 2016
Liebe Kurzkrimi-LeserInnen!
c. fabry, 19:15h
Ab sofort schaffe ich es nur noch wöchentlich, eine neue Geschichte einzustellen, weil ich mich auf mein neues Buchprojekt , den Krimi „Ich hab den Ausbau nicht gewollt!“ konzentrieren will. Ich werde meinen Blog trotzdem täglich aktualisieren, damit ich nicht verschwinde :-)
Und ich hoffe, die geringere Schlagzahl wirkt sich positiv auf die Qualität aus. Hoffentlich habt Ihr / haben Sie weiterhin Spaß beim Lesen.
Und ich hoffe, die geringere Schlagzahl wirkt sich positiv auf die Qualität aus. Hoffentlich habt Ihr / haben Sie weiterhin Spaß beim Lesen.
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Samstag, 25. Juni 2016
Rattenloch - Prolog aus dem Kriminalroman „Brauseflocken – totes Kind, liebes Kind“ von Cristina Fabry
c. fabry, 15:21h
„Jetzt lass ich dich da oben verhungern!“, krakeelte der große Junge und sie glaubte ihm, denn er war viel größer und schwerer als sie und sie hatte keine Chance von der riesigen Wippe herunter zu klettern.
„Is' doch langweilig.“, maulte das große Mädchen von unten. „Wieso spielen wir nicht woanders?“
„Au ja, ich weiß was!“, rief der Junge und stieg so schnell von der Wippe, dass sie krachend hinunter sauste. Es fühlte sich so an, als würde alles in ihrem Bauch von unten nach oben bis in den Kopf gedrückt.
„Los, wir klettern auf den Heuboden!“, rief er.
„Wie denn?“, fragte das große Mädchen.
„Über die Schweinewaage. Ich mach Räuberleiter für dich. Vom Dach aus kriechen wir unters Scheunendach und dann sind wir schon oben.“
„Und die Kleine?“
„Na, dann nehmen wir die eben mit.“
„Ich darf aber nicht aufs Dach klettern.“
„Egal. Wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen. Müssen wir eben leise sein.“
Die großen Kinder schnappten sie. Ihre Beine zitterten noch vom Wippen-Absturz, sie wollte nicht klettern, hatte Angst, herunter zu fallen. Doch alles ging so schnell: Mit der Räuberleiter half der große Junge dem großen Mädchen aufs Dach, dann hob er das kleine Mädchen hoch und das große Mädchen zog an ihren Händen.
„Los, streng dich mal ‘n bisschen an!“, keuchte der Junge. Das kleine Mädchen gab alles. Sie war es nicht gewohnt, Widerstand zu leisten.
Schließlich krochen die Kinder zwischen dem Bitumen-gedeckten Dach der Schweinewaage und dem Überstand des Scheunendachs auf den Heuboden. Hier war es ein bisschen unheimlich, aber auch gemütlich. Die Heuballen dämpften jedes Geräusch, durch die kleinen Giebelfenster drang nur ein Bruchteil des draußen gleißenden Sonnenlichts ein, die Luft war dämmrig, staubig und duftete nach Sommerhitze. Das kleine Mädchen war aufgeregt, beeindruckt von der eigenen Leistung, an so einen spannenden Ort gelangt zu sein. Sie plapperte mit lauter Stimme drauf los: „Hier können wir klettern und von oben ins Heu springen oder ein Sofa bauen.“ Sie hüpfte begeistert wie ein Gummiball.
„Sei still!“, zischte der große Junge. „Wenn die Großen uns hören, werden wir erwischt und dann verkloppt Mama mich mit dem Teppichklopfer.“
„Unser Papa macht das bei mir immer mit der Zeitung.“, erwiderte das große Mädchen.
„Wenn ich sie von Papa kriege“, sagte der Junge, „nimmt er seinen Gürtel. Oder er haut mich einfach mit der Hand.“
Das kleine Mädchen machte große Augen, die älteren Kinder waren ihr unheimlich. Sie wollte von diesem Ort verschwinden. Ihre Beine begannen wieder zu zittern, aber irgendetwas hinderte sie daran, ihren Wunsch laut auszusprechen. Stattdessen fragte sie: „Was spielen wir denn jetzt?“
„Pssst!“, machte der Junge, dann flüsterte er: „Wir spielen Zirkus. Ich bin der Pferdebändiger und du bist das Pferd. Und da ist der Direktor.“ Er zeigte auf das große Mädchen. Die rückte einen Heuballen auf die freie Fläche und flüsterte: „Meine Damen und Herren, hier kommt die Pferdenummer!“
Der Junge sah sich um und entdeckte zwei Stricke aus Hanf. Den einen band er dem kleinen Mädchen um den Hals, so dass sie praktisch an der Lounge lief, den anderen setzte er als Peitsche ein. „So Pferdchen“, zischte er, „immer schön im Kreis laufen.“ Er stellte sich auf den Heuballen und peitschte mit dem kurzen Strick auf den Boden. Das kleine Mädchen lief im Kreis, als ginge es um sein Leben. Sie sagte sich, dass dies sicher nur ein lustiges Spiel sei und lachte hysterisch. Dann traf sie der peitschende Strick auf dem Rücken. Ihr Lachen erstarb. Das große Mädchen sagte: „Du hast sie getroffen. Mit der Peitsche.“
„Na und?“, erwiderte der Junge. Dann zog er an der Lounge und machte „Brrr.“
Das kleine Mädchen blieb stehen. Sie rang nach Luft, hustete und griff sich an den Hals. Das große Mädchen sprang herbei und lockerte die Schlinge. „Braves Pferdchen.“, beruhigte sie sie.
„Jetzt lassen wir das Pferdchen springen.“, flüsterte der Junge. „Los, nimm Anlauf und dann spring über den Heuballen!“
Das kleine Mädchen nahm Anlauf, sprang ab, blieb aber mit dem linken Fuß am Heuballen hängen und stürzte mit dem Gesicht zuerst ins trockene Heu. Die Schlinge hatte sich wieder zugezogen und die reduzierte Luft, die sie durch die verengte Luftröhre einatmete, war staubig und stickig. Mit letzter Kraft entfuhr ihr ein panischer Aufschrei. Der Junge schwang die Peitsche, einmal auf den Rücken, einmal auf die nackten Beine.
„Du sollst sie nicht hauen!“, rief das große Mädchen.
„Wenn ich sie haue, ist sie still.“, rechtfertigte der Junge sich, eilte zu dem kleinen Mädchen, lockerte die Schlinge um den Hals und fasste sie unter die Achseln, um sie wieder auf die Beine zu stellen. Er baute sich vor dem kleinen Mädchen auf und schlug ihr mit dem Strick von vorn auf die Beine. Sie wimmerte.
„Jetzt springst du nochmal, Pferdchen.“, flüsterte der Junge mit eiskalter Stimme und seine Augen funkelten bedrohlich. Sie waren groß und eisblau und das kleine Mädchen hatte trotz der Sommerhitze das Gefühl, unter diesem Eisesblick zu erfrieren.
„Wenn du es wieder nicht schaffst“, wisperte der Junge, „kriegst du den Strick gleich nochmal vor die Beine. Los!“
Er peitschte auf den Boden und das kleine Mädchen nahm verzweifelt Anlauf. Diesmal schaffte sie den Sprung. „Guckt mal, ich kann's, ich kann's!“, plapperte sie, „Gar nicht so schwer, ich muss bloß üben, dann...“
Diesmal traf der Strick sie mitten im Gesicht. Sie sah etwas aufblitzen und als sie die schmerzende Lippe leckte, schmeckte sie Blut.
„Da kommt einer!“, zischte das große Mädchen.
„Los, weg hier!“, flüsterte der Junge. Er packte das kleine Mädchen und sagte: „Du gehst jetzt ins Rattenloch und machst keinen Mucks. Wenn doch, kommen die Ratten und fressen dich. Wir holen dich nachher.“ Er schob das kleine Mädchen mit dem Kopf zuerst in eine Lücke in der Wand aus Heuballen und deckte die Hüften und Beine, die immer noch heraus sahen, mit losem Heu zu. Dann verschwand er mit dem großen Mädchen über das Dach der Schweinewaage.
„Is' doch langweilig.“, maulte das große Mädchen von unten. „Wieso spielen wir nicht woanders?“
„Au ja, ich weiß was!“, rief der Junge und stieg so schnell von der Wippe, dass sie krachend hinunter sauste. Es fühlte sich so an, als würde alles in ihrem Bauch von unten nach oben bis in den Kopf gedrückt.
„Los, wir klettern auf den Heuboden!“, rief er.
„Wie denn?“, fragte das große Mädchen.
„Über die Schweinewaage. Ich mach Räuberleiter für dich. Vom Dach aus kriechen wir unters Scheunendach und dann sind wir schon oben.“
„Und die Kleine?“
„Na, dann nehmen wir die eben mit.“
„Ich darf aber nicht aufs Dach klettern.“
„Egal. Wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen. Müssen wir eben leise sein.“
Die großen Kinder schnappten sie. Ihre Beine zitterten noch vom Wippen-Absturz, sie wollte nicht klettern, hatte Angst, herunter zu fallen. Doch alles ging so schnell: Mit der Räuberleiter half der große Junge dem großen Mädchen aufs Dach, dann hob er das kleine Mädchen hoch und das große Mädchen zog an ihren Händen.
„Los, streng dich mal ‘n bisschen an!“, keuchte der Junge. Das kleine Mädchen gab alles. Sie war es nicht gewohnt, Widerstand zu leisten.
Schließlich krochen die Kinder zwischen dem Bitumen-gedeckten Dach der Schweinewaage und dem Überstand des Scheunendachs auf den Heuboden. Hier war es ein bisschen unheimlich, aber auch gemütlich. Die Heuballen dämpften jedes Geräusch, durch die kleinen Giebelfenster drang nur ein Bruchteil des draußen gleißenden Sonnenlichts ein, die Luft war dämmrig, staubig und duftete nach Sommerhitze. Das kleine Mädchen war aufgeregt, beeindruckt von der eigenen Leistung, an so einen spannenden Ort gelangt zu sein. Sie plapperte mit lauter Stimme drauf los: „Hier können wir klettern und von oben ins Heu springen oder ein Sofa bauen.“ Sie hüpfte begeistert wie ein Gummiball.
„Sei still!“, zischte der große Junge. „Wenn die Großen uns hören, werden wir erwischt und dann verkloppt Mama mich mit dem Teppichklopfer.“
„Unser Papa macht das bei mir immer mit der Zeitung.“, erwiderte das große Mädchen.
„Wenn ich sie von Papa kriege“, sagte der Junge, „nimmt er seinen Gürtel. Oder er haut mich einfach mit der Hand.“
Das kleine Mädchen machte große Augen, die älteren Kinder waren ihr unheimlich. Sie wollte von diesem Ort verschwinden. Ihre Beine begannen wieder zu zittern, aber irgendetwas hinderte sie daran, ihren Wunsch laut auszusprechen. Stattdessen fragte sie: „Was spielen wir denn jetzt?“
„Pssst!“, machte der Junge, dann flüsterte er: „Wir spielen Zirkus. Ich bin der Pferdebändiger und du bist das Pferd. Und da ist der Direktor.“ Er zeigte auf das große Mädchen. Die rückte einen Heuballen auf die freie Fläche und flüsterte: „Meine Damen und Herren, hier kommt die Pferdenummer!“
Der Junge sah sich um und entdeckte zwei Stricke aus Hanf. Den einen band er dem kleinen Mädchen um den Hals, so dass sie praktisch an der Lounge lief, den anderen setzte er als Peitsche ein. „So Pferdchen“, zischte er, „immer schön im Kreis laufen.“ Er stellte sich auf den Heuballen und peitschte mit dem kurzen Strick auf den Boden. Das kleine Mädchen lief im Kreis, als ginge es um sein Leben. Sie sagte sich, dass dies sicher nur ein lustiges Spiel sei und lachte hysterisch. Dann traf sie der peitschende Strick auf dem Rücken. Ihr Lachen erstarb. Das große Mädchen sagte: „Du hast sie getroffen. Mit der Peitsche.“
„Na und?“, erwiderte der Junge. Dann zog er an der Lounge und machte „Brrr.“
Das kleine Mädchen blieb stehen. Sie rang nach Luft, hustete und griff sich an den Hals. Das große Mädchen sprang herbei und lockerte die Schlinge. „Braves Pferdchen.“, beruhigte sie sie.
„Jetzt lassen wir das Pferdchen springen.“, flüsterte der Junge. „Los, nimm Anlauf und dann spring über den Heuballen!“
Das kleine Mädchen nahm Anlauf, sprang ab, blieb aber mit dem linken Fuß am Heuballen hängen und stürzte mit dem Gesicht zuerst ins trockene Heu. Die Schlinge hatte sich wieder zugezogen und die reduzierte Luft, die sie durch die verengte Luftröhre einatmete, war staubig und stickig. Mit letzter Kraft entfuhr ihr ein panischer Aufschrei. Der Junge schwang die Peitsche, einmal auf den Rücken, einmal auf die nackten Beine.
„Du sollst sie nicht hauen!“, rief das große Mädchen.
„Wenn ich sie haue, ist sie still.“, rechtfertigte der Junge sich, eilte zu dem kleinen Mädchen, lockerte die Schlinge um den Hals und fasste sie unter die Achseln, um sie wieder auf die Beine zu stellen. Er baute sich vor dem kleinen Mädchen auf und schlug ihr mit dem Strick von vorn auf die Beine. Sie wimmerte.
„Jetzt springst du nochmal, Pferdchen.“, flüsterte der Junge mit eiskalter Stimme und seine Augen funkelten bedrohlich. Sie waren groß und eisblau und das kleine Mädchen hatte trotz der Sommerhitze das Gefühl, unter diesem Eisesblick zu erfrieren.
„Wenn du es wieder nicht schaffst“, wisperte der Junge, „kriegst du den Strick gleich nochmal vor die Beine. Los!“
Er peitschte auf den Boden und das kleine Mädchen nahm verzweifelt Anlauf. Diesmal schaffte sie den Sprung. „Guckt mal, ich kann's, ich kann's!“, plapperte sie, „Gar nicht so schwer, ich muss bloß üben, dann...“
Diesmal traf der Strick sie mitten im Gesicht. Sie sah etwas aufblitzen und als sie die schmerzende Lippe leckte, schmeckte sie Blut.
„Da kommt einer!“, zischte das große Mädchen.
„Los, weg hier!“, flüsterte der Junge. Er packte das kleine Mädchen und sagte: „Du gehst jetzt ins Rattenloch und machst keinen Mucks. Wenn doch, kommen die Ratten und fressen dich. Wir holen dich nachher.“ Er schob das kleine Mädchen mit dem Kopf zuerst in eine Lücke in der Wand aus Heuballen und deckte die Hüften und Beine, die immer noch heraus sahen, mit losem Heu zu. Dann verschwand er mit dem großen Mädchen über das Dach der Schweinewaage.
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