Sonntag, 26. Juni 2016
Liebe Kurzkrimi-LeserInnen!
Ab sofort schaffe ich es nur noch wöchentlich, eine neue Geschichte einzustellen, weil ich mich auf mein neues Buchprojekt , den Krimi „Ich hab den Ausbau nicht gewollt!“ konzentrieren will. Ich werde meinen Blog trotzdem täglich aktualisieren, damit ich nicht verschwinde :-)
Und ich hoffe, die geringere Schlagzahl wirkt sich positiv auf die Qualität aus. Hoffentlich habt Ihr / haben Sie weiterhin Spaß beim Lesen.

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Samstag, 25. Juni 2016
Rattenloch - Prolog aus dem Kriminalroman „Brauseflocken – totes Kind, liebes Kind“ von Cristina Fabry
„Jetzt lass ich dich da oben verhungern!“, krakeelte der große Junge und sie glaubte ihm, denn er war viel größer und schwerer als sie und sie hatte keine Chance von der riesigen Wippe herunter zu klettern.
„Is' doch langweilig.“, maulte das große Mädchen von unten. „Wieso spielen wir nicht woanders?“
„Au ja, ich weiß was!“, rief der Junge und stieg so schnell von der Wippe, dass sie krachend hinunter sauste. Es fühlte sich so an, als würde alles in ihrem Bauch von unten nach oben bis in den Kopf gedrückt.
„Los, wir klettern auf den Heuboden!“, rief er.
„Wie denn?“, fragte das große Mädchen.
„Über die Schweinewaage. Ich mach Räuberleiter für dich. Vom Dach aus kriechen wir unters Scheunendach und dann sind wir schon oben.“
„Und die Kleine?“
„Na, dann nehmen wir die eben mit.“
„Ich darf aber nicht aufs Dach klettern.“
„Egal. Wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen. Müssen wir eben leise sein.“
Die großen Kinder schnappten sie. Ihre Beine zitterten noch vom Wippen-Absturz, sie wollte nicht klettern, hatte Angst, herunter zu fallen. Doch alles ging so schnell: Mit der Räuberleiter half der große Junge dem großen Mädchen aufs Dach, dann hob er das kleine Mädchen hoch und das große Mädchen zog an ihren Händen.
„Los, streng dich mal ‘n bisschen an!“, keuchte der Junge. Das kleine Mädchen gab alles. Sie war es nicht gewohnt, Widerstand zu leisten.
Schließlich krochen die Kinder zwischen dem Bitumen-gedeckten Dach der Schweinewaage und dem Überstand des Scheunendachs auf den Heuboden. Hier war es ein bisschen unheimlich, aber auch gemütlich. Die Heuballen dämpften jedes Geräusch, durch die kleinen Giebelfenster drang nur ein Bruchteil des draußen gleißenden Sonnenlichts ein, die Luft war dämmrig, staubig und duftete nach Sommerhitze. Das kleine Mädchen war aufgeregt, beeindruckt von der eigenen Leistung, an so einen spannenden Ort gelangt zu sein. Sie plapperte mit lauter Stimme drauf los: „Hier können wir klettern und von oben ins Heu springen oder ein Sofa bauen.“ Sie hüpfte begeistert wie ein Gummiball.
„Sei still!“, zischte der große Junge. „Wenn die Großen uns hören, werden wir erwischt und dann verkloppt Mama mich mit dem Teppichklopfer.“
„Unser Papa macht das bei mir immer mit der Zeitung.“, erwiderte das große Mädchen.
„Wenn ich sie von Papa kriege“, sagte der Junge, „nimmt er seinen Gürtel. Oder er haut mich einfach mit der Hand.“
Das kleine Mädchen machte große Augen, die älteren Kinder waren ihr unheimlich. Sie wollte von diesem Ort verschwinden. Ihre Beine begannen wieder zu zittern, aber irgendetwas hinderte sie daran, ihren Wunsch laut auszusprechen. Stattdessen fragte sie: „Was spielen wir denn jetzt?“
„Pssst!“, machte der Junge, dann flüsterte er: „Wir spielen Zirkus. Ich bin der Pferdebändiger und du bist das Pferd. Und da ist der Direktor.“ Er zeigte auf das große Mädchen. Die rückte einen Heuballen auf die freie Fläche und flüsterte: „Meine Damen und Herren, hier kommt die Pferdenummer!“
Der Junge sah sich um und entdeckte zwei Stricke aus Hanf. Den einen band er dem kleinen Mädchen um den Hals, so dass sie praktisch an der Lounge lief, den anderen setzte er als Peitsche ein. „So Pferdchen“, zischte er, „immer schön im Kreis laufen.“ Er stellte sich auf den Heuballen und peitschte mit dem kurzen Strick auf den Boden. Das kleine Mädchen lief im Kreis, als ginge es um sein Leben. Sie sagte sich, dass dies sicher nur ein lustiges Spiel sei und lachte hysterisch. Dann traf sie der peitschende Strick auf dem Rücken. Ihr Lachen erstarb. Das große Mädchen sagte: „Du hast sie getroffen. Mit der Peitsche.“
„Na und?“, erwiderte der Junge. Dann zog er an der Lounge und machte „Brrr.“
Das kleine Mädchen blieb stehen. Sie rang nach Luft, hustete und griff sich an den Hals. Das große Mädchen sprang herbei und lockerte die Schlinge. „Braves Pferdchen.“, beruhigte sie sie.
„Jetzt lassen wir das Pferdchen springen.“, flüsterte der Junge. „Los, nimm Anlauf und dann spring über den Heuballen!“
Das kleine Mädchen nahm Anlauf, sprang ab, blieb aber mit dem linken Fuß am Heuballen hängen und stürzte mit dem Gesicht zuerst ins trockene Heu. Die Schlinge hatte sich wieder zugezogen und die reduzierte Luft, die sie durch die verengte Luftröhre einatmete, war staubig und stickig. Mit letzter Kraft entfuhr ihr ein panischer Aufschrei. Der Junge schwang die Peitsche, einmal auf den Rücken, einmal auf die nackten Beine.
„Du sollst sie nicht hauen!“, rief das große Mädchen.
„Wenn ich sie haue, ist sie still.“, rechtfertigte der Junge sich, eilte zu dem kleinen Mädchen, lockerte die Schlinge um den Hals und fasste sie unter die Achseln, um sie wieder auf die Beine zu stellen. Er baute sich vor dem kleinen Mädchen auf und schlug ihr mit dem Strick von vorn auf die Beine. Sie wimmerte.
„Jetzt springst du nochmal, Pferdchen.“, flüsterte der Junge mit eiskalter Stimme und seine Augen funkelten bedrohlich. Sie waren groß und eisblau und das kleine Mädchen hatte trotz der Sommerhitze das Gefühl, unter diesem Eisesblick zu erfrieren.
„Wenn du es wieder nicht schaffst“, wisperte der Junge, „kriegst du den Strick gleich nochmal vor die Beine. Los!“
Er peitschte auf den Boden und das kleine Mädchen nahm verzweifelt Anlauf. Diesmal schaffte sie den Sprung. „Guckt mal, ich kann's, ich kann's!“, plapperte sie, „Gar nicht so schwer, ich muss bloß üben, dann...“
Diesmal traf der Strick sie mitten im Gesicht. Sie sah etwas aufblitzen und als sie die schmerzende Lippe leckte, schmeckte sie Blut.
„Da kommt einer!“, zischte das große Mädchen.
„Los, weg hier!“, flüsterte der Junge. Er packte das kleine Mädchen und sagte: „Du gehst jetzt ins Rattenloch und machst keinen Mucks. Wenn doch, kommen die Ratten und fressen dich. Wir holen dich nachher.“ Er schob das kleine Mädchen mit dem Kopf zuerst in eine Lücke in der Wand aus Heuballen und deckte die Hüften und Beine, die immer noch heraus sahen, mit losem Heu zu. Dann verschwand er mit dem großen Mädchen über das Dach der Schweinewaage.

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Freitag, 24. Juni 2016
Löwengrube - abgeschlossener Kurzkrimi
Lärmend füllte sich das Gemeindehaus mit fröhlichen Kinderstimmen. Alle waren ganz aufgeregt, denn sie wollten unbedingt wissen, wie die Geschichte von Daniel in der Löwengrube ausging. Zum ersten Mal arbeitete das Kinder-Bibelwochen-Team mit Cliffhangern und das hatte sich offensichtlich bewährt. Sie freuten sich über Besucherzahlen wie in den Siebzigern.
Erleichtertes Aufatmen und große Aufregung fegten durch den Saal, als der Spannungsbogen zu Ende geführt wurde und der erfundene Babylonier den Kindern seine Beobachtungen von der wundersamen Rettung des jüdischen Propheten mitteilte. In altershomogenen Kleingruppen durften die Kinder das Erlebte nun verarbeiten.
Bei den Neun- und Zehnjährigen war heute jemand ausgefallen und so musste Marita Luna unterstützen, die unmöglich allein mit knapp zwanzig Kindern Löwenmasken basteln konnte. Sie tat das schweren Herzens, denn erstens hatte sie sich auf die interaktiven Spiele mit den Elf- bis Zwölfjährigen gefreut und außerdem wollte sie eigentlich Lars im Auge behalten, der ihr in den letzten Tagen ein bisschen zu zugewandt gegenüber der zwölfjährigen Lilly erschienen war.
Vor zwei Jahren war ihr Lars beim Jungschar-Wochenende aufgefallen. Wenn sich ein hübsches Mädchen beim Geländespiel verletzte, wurde sie ausgiebig getröstet, er nahm sie in den Arm und steckte ihr ein Bonbon zu. Wenn sich ein Junge weh getan hatte oder ein weniger süßes Mädchen, schickte er die Kinder zur Jugendreferentin: „Geh mal zu Marita, die hat bestimmt ein Pflaster für dich.“
Seitdem hielt sie ihn unter Beobachtung. Er war einer von den Kreativen, Fleißigen und Verantwortungsbewussten. Aber er war auch einer, den keiner so richtig ernst nahm, erst recht nicht die Mädchen oder jungen Frauen in seinem Alter. Die bewundernden Blicke der begeisterungsfähigen, kleinen Mädchen schienen ihn irgendwie anzumachen. Er war kein Idiot. Er wusste, dass erotische Annäherungsversuche gegenüber Kindern nicht nur verboten waren, sondern den Kindern auch tatsächlich großen Schaden zufügten. Er hatte schon mehrere Schulungen dazu mitgemacht. Aber sie traute ihm trotzdem nicht. Er war zwar nicht allein mit den Kindern, aber Daria war abgesehen von ihrer begrenzten Auffassungsgabe viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie sensibel für Grenzüberschreitungen gewesen wäre, die sie nicht persönlich betrafen.
Schon bald war Marita mit den Gedanken woanders, denn sie musste Löcher schneiden, Klebstofftuben von vertrockneten Pfropfen befreien, Streit um die beste Schere schlichten und fünfzehn Mal das Gleiche erklären. Nach zwanzig Minuten ging sie in den Toilettenraum, um die ersten Pinsel auszuwaschen, denn wenn die Kinder dies selbst taten, mussten sie hinterher stundenlang die Fliesen putzen.
„Nee“, hörte sie eine zarte zitternde Kinderstimme.
„Aber es ist doch alles nass da unten.“, hörte sie einen Erwachsenen beruhigend auf das Kind einreden.
„Verdammt, Lars und Lilly!“, dachte Marita und wollte direkt losstürmen, da sprach der Erwachsene weiter: „Wenn wir die Hose unterm Hände-Trockner föhnen, kriegt die Mama gar nicht mit, dass du dich nass gemacht hast.“
Das war Michael, Kindergottesdienst-Helfer seit mehr als zwanzig Jahren. Nur klang Michael nicht wirklich beruhigend, denn er hatte so ein seltsames Vibrato in der Stimme.
„Aber ich war das doch gar nicht.“, wimmerte das kleine Mädchen.
„Ja, aber das glaubt die Mama dir sicher nicht.“, erklärte Michael. „Komm, wir ziehen die Hose jetzt aus und ich mache sie trocken.“
Das Mädchen begann verzweifelt zu schluchzen. Marita löste sich aus ihrer Schockstarre und griff ein. Sie folgte dem Schluchzen hinter einer Toilettentür. Als sie versuchte sie zu öffnen, war sie verriegelt.“
„Michael!“, rief sie. „Komm da sofort raus.“
„Wir müssen hier nur gerade ein Malheur in Ordnung bringen:“, erwiderte er und versuchte vergeblich, seine Erregung zu verbergen.
„Ich kümmere mich darum.“, sagte Marita bestimmt. „Komm da sofort raus, du kannst dich doch als Mann nicht auf der Damentoilette herumtreiben.“
„Ich treibe mich nicht herum, ich versuche die Hose eines Mädchens zu trocknen. Ich kann das Mädchen jawohl schlecht auf die Männertoilette schleppen.“
„Jetzt mach die Tür auf!“
Eingeschüchtert von Maritas scharfem Ton drehte er schließlich an der Verriegelung. Sie riss die Tür auf und zog ihn an seinem T-Shirt aus der Kabine. Vor der Toilette stand das weinende Mädchen. Knopf und Reißverschluss ihrer Hose waren bereits offen.
„Sag mal spinnst du jetzt völlig?“, blaffte Michael Marita an.
Marita sammelte sich kurz und antwortete dann: „Gehst du jetzt bitte wieder in deine Kleingruppe? Wir besprechen das später.“, dann wandte sie sich an das Mädchen: „So Melissa, jetzt erzähl doch mal, wie das mit der nassen Hose passiert ist.“
„Das weiß ich auch nicht.“, schluchzte Melissa. „Auf einmal ist der Malbecher umgekippt und da war meine ganze Hose nass.“
„Ja, so was kann passieren, und ich glaube auch nicht, dass deine Mama dir das nicht glaubt. Weiß du denn was du für eine Größe hast?“
Melissa schüttelte schluchzend den Kopf.
„Na, ich tippe mal auf 134“, schätzte Marita. „Pass mal auf: Wir gehen jetzt nach nebenan in den Kindergarten und gucken, ob wir da eine Ersatz-Leggins in deiner Größe finden. Dann kannst du dich da in Ruhe umziehen und ich bin sicher, das kannst du auch alleine, oder?“
Melissa nickte.
„Wollen wir dann dahin gehen?“
Als das Kind mit einer trockenen Leggins und der eigenen Hose in einer Tragetasche ins Gemeindehaus zurückkehrte, eilte Michael ihr bereits entgegen.
„Den Michael muss ich euch jetzt mal entführen.“, sagte Marita zu den Kindern und nicht eine Stimme des Bedauerns erhob sich. Statt dessen krähte Vincent: „Dann kann er wenigstens keine Malbecher mehr um schmeißen.“ Zustimmendes Gelächter erhob sich.
Vor der Tür sagte Marita mit gedämpfter Stimme: „Ich denke, es ist besser, du gehst jetzt nach Hause. Ich werde allen anderen erzählen, dass es in der Familie einen kleinen Notfall gab. Ich komme nachher bei dir vorbei und dann reden wir.“
„Worüber denn?“, fauchte Michael.
Marita sah ihm fest in die Augen und antwortete:„Ich denke, das weißt du ganz genau.“

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Donnerstag, 23. Juni 2016
Wo ist Meredith? - Abgeschlossener Kurzkrimi
„Wo ist Meredith?“, fragte Christian, der sich wunderte, dass er die junge Frau schon seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen hatte, obwohl sie doch sonst oft mehrmals täglich hektisch und fahrig durchs Gemeindehaus huschte. Sie bewohnte die kleine Einliegerwohnung, die früher einmal die Heimat der Gemeindeschwester gewesen war, aber dieses Berufsbild war nahezu vollständig aus der evangelischen Kirche verschwunden und den Jugendreferenten, Gemeindepädagogen, Erzieherinnen und Krankenpflegerinnen der Diakoniestationen gewichen.
„Stimmt.“, stellte Gerald nun verwundert fest. „Die habe ich schon seit Tagen nicht gesehen. Aber die fährt doch nie in Urlaub, so chronisch abgebrannt wie die immer ist, hat ja nicht mal Freunde, die sie besuchen könnte.“
„Woher willst du das wissen?“
„Pastor Künnemann und seine Frau kennen sie ziemlich gut, die laden sie manchmal zum Essen ein, weil sie so einsam ist.“
„Da ist sie bestimmt super scharf drauf, bei dem alten Pastor und seiner Perle rumzuhängen, während andere in ihrem Alter durch Discos und Kneipen ziehen.“
„Besser bei Künnemanns rumhängen als sich allein zu Hause zu langweilen. In der winzigen Hütte würde mir sofort die Decke auf den Kopf fallen. Aber vielleicht ist sie ja krank. Ich glaube, ich klingel da mal.“
Auf mehrmaliges Klingeln erfolgte keine Reaktion. Der Jugendreferent drückte instinktiv die Türklinke und stand plötzlich in der Wohnung. „Meredith?“, rief er. Als keine Antwort kam, blickte er sich in Küche und Wohnzimmer um, bevor er mit pochendem Herzen das Bad und schließlich das Schlafzimmer betrat. Doch die junge Frau war nirgends zu sehen. Hier stimmte etwas nicht, denn Meredith litt unter Angststörungen und Verfolgungswahn, darum schloss sie immer zwei Mal ab und tobte vor Wut, wenn mal jemand die Haustür nur einfach abgeschlossen hatte, ohne den Schnapper hochzuziehen und den Schlüssel zwei Mal im Schloss umzudrehen. Außerdem entdeckte Gerald auf der Spüle eine Tasse, in der ein Rest Milchkaffee von einer dicken Schimmel-Schicht überzogen war. Ratlos verließ er die Wohnung, als sein Blick schließlich auf die Dachbodenluke fiel und ein kalter Schauer kroch über seinen Rücken. „Oh Gott, bitte nicht!“, stöhnte er, nahm aber dennoch den Stock mit dem Haken, mit dem die altmodische Verriegelung der Klappe sich öffnen ließ. Das vertraute, metallische Geräusch klang diesmal alles andere als heimelig in seinen Ohren, doch die Klappe ließ sich nur ein paar Zentimeter herunter ziehen, dann wurde sie von irgendetwas blockiert. Er konnte das nicht allein und rief den Pfarrer zur Hilfe, der gleich den Küster dabei hatte, und der war mit einer Stehleiter und seiner Werkzeugbox bewaffnet.
Jemand hatte die Klappe dort oben mit einer Wäscheleine befestigt und zwar so gründlich, dass man sich durch mehrere Stücke der stabilen Leine hindurch knipsen musste, bis die Klappe sich vollständig öffnen ließ. Mutig betrat der Küster als erster den Dachboden und hielt entsetzt die Luft an: Meredith war dort, beziehungsweise das, was von ihr noch übrig war. Ihre Leiche unter deren Haut sich bereits die Maden bewegten, hing mit einem Pfadfinder-Knoten befestigt an einem Dachbalken. Die Polizei schloss den Fall später mit der eindeutigen Feststellung ab, dass es sich um Selbsttötung handelte. Niemand wunderte sich darüber, Meredith mit ihrer Angststörung, ihrem Verfolgungswahn und ihrer großen Einsamkeit. Nur die Männer bekamen das Bild der sich zersetzenden Frauenleiche nicht mehr aus ihren Köpfen.
Zwei Wochen später verabredete Gerald sich mit dem Pfarrer, dem Kirchmeister und zwei Vertretern des CVJM, um die Wohnung in Augenschein zu nehmen. Die Vermietung an Meredith hatte nur als pragmatische Lösung einer akuten Notsituation gedient, jetzt sollten die Räume der Jugendarbeit zur Verfügung gestellt werden.
Die Männer waren irritiert, dass die Tür nach wie vor unverschlossen war. Während der polizeilichen Ermittlungen war die Wohnung versiegelt gewesen, danach hatte niemand mehr daran gedacht, abzuschließen.
„Na, besonders ordentlich war unsere Mieterin aber nicht.“, bemerkte der Kirchmeister.
„Wieso?“, fragte Pastor Künnemann, auf den Merediths Wohnung immer einen äußerst peniblen Eindruck gemacht hatte. Er erschrak, als er das Chaos erblickte.
„Die Wohnung hat jemand durchsucht!“, keuchte er. „Egal wann man sie besuchte, hier war immer alles picobello.“
„Aber bei der Frau gab es doch nichts zu holen.“, überlegte der Kirchmeister.
„Vielleicht keine Wertgegenstände.“, entgegnete Gerald. „Aber vielleicht etwas, von dem jemand hofft, dass es nicht gefunden wird.“
Sie liefen in der Wohnung umher, niemand dachte daran, sofort wieder zu gehen, damit die Spurensicherung die Räume professionell untersuchen konnte. Schließlich entdeckte Gerald das geflieste Türchen an der Außenseite der Badewanne, von dem Meredith ihm einmal anvertraut hatte, dass dort ihr Geheimversteck sei. Er hatte vermutet, sie sei so verrückt zu glauben, sie selbst könne sich dort verstecken, aber vielleicht lag dort das, was der Eindringling gesucht hatte. Die Verriegelung war stark korrodiert und machte nicht den Eindruck, dass sie in letzter Zeit bewegt worden war. Darum hatte der Suchende die Idee, auch hier einmal nachzusehen, sicher verworfen. Gerald musste ein wenig an dem kleinen Riegel rütteln, bis die kleine, quadratische Tür sich schließlich öffnen ließ. Dort lag tatsächlich etwas: Ein Tagebuch. Er schlug es wahllos mittendrin auf.
„28.02.1986 – Dietmar hat schon wieder so komisch geguckt. Er wollte unbedingt, dass ich ihm helfe, die Liederbücher wieder in die Teestube zu tragen. Ich habe gesagt, dass ich sofort nach Hause muss. Da sah er irgendwie traurig aus und es tat mir voll leid.
06.03.1986 – Eigentlich wollte ich gar nicht in das Vorbereitungsteam für die nächste Jungschar-Stunde. Aber dann kam es irgendwie doch so. Ich war dann um fünf bei Dietmar. Uschi hat abgesagt und Jan musste um halb sechs schon wieder weg. Da war ich mit Dietmar alleine und wir waren ja noch nicht fertig. Auf einmal hat Dietmar Sekt geholt, er meinte, wir müssten anstoßen, weil wir zum ersten Mal ganz allein zusammen was vorbereiten. Ich wollte erst nicht, aber dann guckte er wieder so traurig und er hat es ja nett gemeint und dann schmeckte der Sekt auch viel besser als bei Mama und Papa und mir wurde ganz schwummrig und ich musste dauernd kichern. Dietmar hat mich gekitzelt und mir voll versaute Witze erzählt und dann meinte er, dass dürfte ich aber keinem erzählen, was wir für einen Spaß hätten, das müsste unser Geheimnis bleiben.“
War das ein Tatsachenbericht oder die kranken Phantasien einer psychotischen Jugendlichen? Gerald war klar, dass er das Tagebuch der Polizei übergeben musste, denn wenn besagter Dietmar, möglicherweise sein Vorgänger, sich der Grenzüberschreitung, die hier beschrieben war, tatsächlich schuldig gemacht hatte, war es sehr gut möglich, dass er das Tagebuch verschwinden lassen wollte. Nur hatte er es nicht gefunden.
Am Sonntag ließ Gerald sich ausnahmsweise im Gottesdienst blicken. Das tat er nicht oft, denn er wohnte nicht im Stadtteil. Wo er nun schon einmal da war, ging er anschließend ins Kirchcafé. Angela setzte sich zu ihm an den Tisch.
„Und du hast also Meredith gefunden?“
„Ja. Und nicht nur Meredith. Auch ihr Tagebuch.“
„Echt? Was stand denn da drin?“
„Ich habe nicht alles gelesen, aber was ich gelesen habe, hat mir das Blut gefrieren lassen. In den Achtzigern hat sie ein Dietmar angeblich in seine Wohnung gelockt und wiederholt sexuell missbraucht.“
„Dietmar?“, fragte Angela entsetzt. „Dietmar Engelke?“
„Keine Ahnung. Da stand nur Dietmar. Wer ist denn Dietmar Engelke?“
„Der war hier in den Achtzigern Jugendwart.“
„Und? Traust du ihm solche Übergriffe zu? Oder glaubst du, Meredith hat sich das ausgedacht?“
Angela antwortete nicht. Sie war plötzlich sehr blass geworden.
„Wo ist das Tagebuch?“, hauchte sie.
„Bei der Polizei.“
„Das ist gut. Denn wenn er es in die Finger kriegt, verschwindet es.“
Die Polizei behandelte das Gemeindehaus – speziell die Wohnung und den Dachboden – nun als Tatort und nahm die Ermittlungen wieder auf. Ein Dachfenster auf dem Spitzboden war so locker verschlossen, dass es denkbar war, dass jemand, nachdem er die Luke verschnürt hatte, darüber verschwunden war.
Dietmar Engelke war nicht mehr jung, ging aber noch immer regelmäßig in den Alpen auf Klettertour.
Er hatte alle seine Spuren beseitigt, nur das Tagebuch hatte er nicht gefunden.

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