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Mittwoch, 22. Juni 2016
Davids Goliaths – abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 22:01h
Er war nicht besonders groß, aber auch nicht gerade ein Zwerg, eher eine unscheinbare Erscheinung, der so aussah, als seien in seiner Kindheit Eiweiß und Vitamine Mangelware gewesen. Besonders blass war er, aber nicht besonders genug, um in Erinnerung zu bleiben.
Eine ganze Woche hatte er täglich mindestens drei Stunden geübt. Er war dafür mit dem Bus nach Borgholzhausen gefahren, wo er in der Einsamkeit des Teutoburger Waldes ungestört trainieren konnte. Das Holz lag gut in der Hand, das Spezialgummi besaß exakt den richtigen Grad an Festigkeit: es ließ sich damit eine hohe Spannung aufbauen, aber es war auch elastisch genug, um es auch ohne übermenschliche Kraft nach hinten zu ziehen.
Den Hohlraum für die Geschosse hatte er liebevoll aus einem Stück Olivenholz aus dem Heiligen Land geschnitzt, aus dem übrigens auch die Astgabel stammte. Das Holz war hart, schön glatt geschliffen und geölt, so dass die bizarre, pittoreske Maserung besonders gut herauskam.
Hier, wo selten ein Mensch vorbeikam, waren die Tiere des Waldes mutiger und so konnte er auch auf bewegliche Ziele anlegen.
Dann kam der große Tag. In der Nacht war er von einem Alptraum in den nächsten geglitten, alles kam wieder hoch: Die Kindheit auf dem Land, wo er im Sportverein versagte, auf dem Schulhof geschnitten wurde und man ihn aus dem Schützenverein mobbte, bevor er überhaupt dazu kam, seine Begabung auf die Probe stellen zu lassen.
Die Zeit auf dem Gymnasium, wo er weder im Sport glänzte noch mit coolem Gehabe beeindrucken konnte. Stattdessen war er ein Überflieger im Religionsunterricht gewesen, aber das hatte niemanden interessiert.
Er sah den beeindruckenden Pfarrer vor sich, zu dem alle aufblickten und entschloss sich, Theologie zu studieren und tatsächlich nahm alles seinen Lauf, genauso, wie er es geplant hatte: Abitur, Gemeindepraktikum, kirchliche Hochschule Bethel. Nach dem Traum von schweißnassen Händen in der Sprachprüfung für das Graecum klingelte sein Wecker.
Er duschte und wusch den nächtlichen Angstschweiß herunter. Er zog seine beste Kleidung an: einen anthrazitfarbenen Anzug, dazu ein hellgraues Hemd, eine weinrote Krawatte und schwarze, polierte Schuhe im Budapester Stil. Die Schultertasche für die altmodische Fotoausrüstung befüllte er mit den winzigen, gefüllten Kinderballons; für die Seitentasche wählte er drei besonders schöne, glatte Steine aus und das Olivenholz-Gebilde lag obenauf.
Währenddessen füllte sich der große Saal mit den Synodalen des Kirchenkreises. Noch schwatzten alle durcheinander, am Rande wurden in verminderter Zimmerlautstärke letzte Absprachen bezüglich der Vorgehensweise bei der Durchsetzung favorisierter Beschlussvorlagen getroffen, woanders begrüßte man sich meist gesittet, teilweise auch lautstark, und alle überprüften das Revier auf den strategisch günstigsten Sitzplatz.
Mit einstudierter Selbstverständlichkeit betrat er den Saal und war doch überrascht, dass niemand ihn kritisch beäugte oder direkt fragte, zu welcher Gemeinde er denn gehöre. Wirklich niemand erkannte ihn, obwohl er doch etliche erkannte, die ihm jahrelang auf der Hochschule tagtäglich über den Weg gelaufen waren; einige aus Bethel, einige aus Marburg, zwei sogar aus Tübingen. Natürlich erkannten sie in nicht, er war ja keiner mehr von ihnen, war den Weg nicht weitergegangen, weil man ihm wie so viele Male im Leben kurz vor dem Ziel die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Zwei Mal durchs Examen gerasselt und Adios Gemeindepfarrer.
Jetzt hatte er nichts außer seinem Abitur und seinen Racheplänen. Er entschied sich für einen Stehplatz auf der Empore hinter einem dicken Pfeiler, da würden sie ihn nicht sofort ausmachen.
Er legte den ersten der glatten Steine in den Geschossbehälter, zielte präzise und traf. Jens Malachowski, Kommilitone aus Marburg. Niemand bemerkte so schnell, wie er vor dem Teewagen in die Knie ging. Der nächste Stein traf Gesine Henkemeier, die kannte er aus Bethel und da sie gerade auf dem Weg zur Toilette war, hatte auch sie niemand im Auge. Dann zielte er auf den größten unter den bösen Riesen: Karl-Heinz Rietmüller, der hatte ihn beim Examen durchrasseln lassen und war heute Gast auf der Synode. Damit waren auch alle alarmiert und jetzt musste er schnell handeln, wenn er möglichst viele und vor allem die Richtigen erwischen wollte. Aber zuerst würde er Rietmüllers Gesicht zerstören, nachdem er ihm seins geraubt hatte. Der erste Miniballon zerplatzte auf dem Gesicht des bewusstlosen Referenten. Die umstehenden Helfer reagierten viel zu spät, denn der Verletzte schrie nicht vor Schmerzen, weil er ja in seiner Bewusstlosigkeit nichts spürte. Eine unbekannte Flüssigkeit hatte seine Haut verätzt. Schon platzte die nächste Säurebombe und ein gellender Schmerzschrei durchschnitt die Luft. Spätestens jetzt versuchten alle, irgendwie in Deckung zu gehen und bis die ersten die Situation vollständig erfasst hatten und nach der Quelle der Geschosse Ausschau hielten, waren schon mehrere verwundet zum Abwaschen zur Toilette gelaufen und die ausbrechende Massenpanik war nicht mehr zu verhindern.
Am Ende der Veranstaltung gab es Fünf Säureverätzungen, drei schwere Kopfverletzungen durch Zwillen-Geschosse sowie fünfunddreißig Knochenbrüche und etliche Prellungen und Quetschungen, die sich die Menschen im Zuge der Massenpanik zugezogen hatten. Doch auch einen Toten gab es am Ende der Veranstaltung zu beklagen: David. Absolut unbiblisch. Die Goliaths hatten ihn endgültig besiegt.
Eine ganze Woche hatte er täglich mindestens drei Stunden geübt. Er war dafür mit dem Bus nach Borgholzhausen gefahren, wo er in der Einsamkeit des Teutoburger Waldes ungestört trainieren konnte. Das Holz lag gut in der Hand, das Spezialgummi besaß exakt den richtigen Grad an Festigkeit: es ließ sich damit eine hohe Spannung aufbauen, aber es war auch elastisch genug, um es auch ohne übermenschliche Kraft nach hinten zu ziehen.
Den Hohlraum für die Geschosse hatte er liebevoll aus einem Stück Olivenholz aus dem Heiligen Land geschnitzt, aus dem übrigens auch die Astgabel stammte. Das Holz war hart, schön glatt geschliffen und geölt, so dass die bizarre, pittoreske Maserung besonders gut herauskam.
Hier, wo selten ein Mensch vorbeikam, waren die Tiere des Waldes mutiger und so konnte er auch auf bewegliche Ziele anlegen.
Dann kam der große Tag. In der Nacht war er von einem Alptraum in den nächsten geglitten, alles kam wieder hoch: Die Kindheit auf dem Land, wo er im Sportverein versagte, auf dem Schulhof geschnitten wurde und man ihn aus dem Schützenverein mobbte, bevor er überhaupt dazu kam, seine Begabung auf die Probe stellen zu lassen.
Die Zeit auf dem Gymnasium, wo er weder im Sport glänzte noch mit coolem Gehabe beeindrucken konnte. Stattdessen war er ein Überflieger im Religionsunterricht gewesen, aber das hatte niemanden interessiert.
Er sah den beeindruckenden Pfarrer vor sich, zu dem alle aufblickten und entschloss sich, Theologie zu studieren und tatsächlich nahm alles seinen Lauf, genauso, wie er es geplant hatte: Abitur, Gemeindepraktikum, kirchliche Hochschule Bethel. Nach dem Traum von schweißnassen Händen in der Sprachprüfung für das Graecum klingelte sein Wecker.
Er duschte und wusch den nächtlichen Angstschweiß herunter. Er zog seine beste Kleidung an: einen anthrazitfarbenen Anzug, dazu ein hellgraues Hemd, eine weinrote Krawatte und schwarze, polierte Schuhe im Budapester Stil. Die Schultertasche für die altmodische Fotoausrüstung befüllte er mit den winzigen, gefüllten Kinderballons; für die Seitentasche wählte er drei besonders schöne, glatte Steine aus und das Olivenholz-Gebilde lag obenauf.
Währenddessen füllte sich der große Saal mit den Synodalen des Kirchenkreises. Noch schwatzten alle durcheinander, am Rande wurden in verminderter Zimmerlautstärke letzte Absprachen bezüglich der Vorgehensweise bei der Durchsetzung favorisierter Beschlussvorlagen getroffen, woanders begrüßte man sich meist gesittet, teilweise auch lautstark, und alle überprüften das Revier auf den strategisch günstigsten Sitzplatz.
Mit einstudierter Selbstverständlichkeit betrat er den Saal und war doch überrascht, dass niemand ihn kritisch beäugte oder direkt fragte, zu welcher Gemeinde er denn gehöre. Wirklich niemand erkannte ihn, obwohl er doch etliche erkannte, die ihm jahrelang auf der Hochschule tagtäglich über den Weg gelaufen waren; einige aus Bethel, einige aus Marburg, zwei sogar aus Tübingen. Natürlich erkannten sie in nicht, er war ja keiner mehr von ihnen, war den Weg nicht weitergegangen, weil man ihm wie so viele Male im Leben kurz vor dem Ziel die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Zwei Mal durchs Examen gerasselt und Adios Gemeindepfarrer.
Jetzt hatte er nichts außer seinem Abitur und seinen Racheplänen. Er entschied sich für einen Stehplatz auf der Empore hinter einem dicken Pfeiler, da würden sie ihn nicht sofort ausmachen.
Er legte den ersten der glatten Steine in den Geschossbehälter, zielte präzise und traf. Jens Malachowski, Kommilitone aus Marburg. Niemand bemerkte so schnell, wie er vor dem Teewagen in die Knie ging. Der nächste Stein traf Gesine Henkemeier, die kannte er aus Bethel und da sie gerade auf dem Weg zur Toilette war, hatte auch sie niemand im Auge. Dann zielte er auf den größten unter den bösen Riesen: Karl-Heinz Rietmüller, der hatte ihn beim Examen durchrasseln lassen und war heute Gast auf der Synode. Damit waren auch alle alarmiert und jetzt musste er schnell handeln, wenn er möglichst viele und vor allem die Richtigen erwischen wollte. Aber zuerst würde er Rietmüllers Gesicht zerstören, nachdem er ihm seins geraubt hatte. Der erste Miniballon zerplatzte auf dem Gesicht des bewusstlosen Referenten. Die umstehenden Helfer reagierten viel zu spät, denn der Verletzte schrie nicht vor Schmerzen, weil er ja in seiner Bewusstlosigkeit nichts spürte. Eine unbekannte Flüssigkeit hatte seine Haut verätzt. Schon platzte die nächste Säurebombe und ein gellender Schmerzschrei durchschnitt die Luft. Spätestens jetzt versuchten alle, irgendwie in Deckung zu gehen und bis die ersten die Situation vollständig erfasst hatten und nach der Quelle der Geschosse Ausschau hielten, waren schon mehrere verwundet zum Abwaschen zur Toilette gelaufen und die ausbrechende Massenpanik war nicht mehr zu verhindern.
Am Ende der Veranstaltung gab es Fünf Säureverätzungen, drei schwere Kopfverletzungen durch Zwillen-Geschosse sowie fünfunddreißig Knochenbrüche und etliche Prellungen und Quetschungen, die sich die Menschen im Zuge der Massenpanik zugezogen hatten. Doch auch einen Toten gab es am Ende der Veranstaltung zu beklagen: David. Absolut unbiblisch. Die Goliaths hatten ihn endgültig besiegt.
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Dienstag, 21. Juni 2016
Gott ist groß – abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 21:54h
„Wenn noch irgendwelche Eil-Mails kommen, will ich es nicht wissen.“, erklärte Keller. Ich will heute pünktlich Feierabend machen. Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock grinste: „Gehen Sie jetzt gleich zum Speed-Dating oder oder was?“
„Nun werden Sie mal nicht unverschämt, junge Kollegin.“, erwiderte Stefan Keller. „Ausnahmsweise gehe ich mal zu einer Veranstaltung in meiner Kirchengemeinde, also da, wo ich wohne, und der Besuch ist nicht dienstlich.“
„Dass ich das noch erleben darf. Worum geht es denn? Bibelkrimis?“
„Um Gottes Willen, nein!“, erwiderte Keller. „Da kommt ein muslimischer Arzt; der einen informativen Vortrag über die islamische Lebensweise halten wird. Wenn so jemand das in einem Evangelischen Gemeindehaus tut, wird das sicher spannend.“
„Ja, das würde mich auch interessieren.“, erklärte Kerkenbrock. „Aber ich habe den heutigen Abend leider schon für meinen Liebsten reserviert.“
// SIE SIND SCHON ÜBERALL; DRINGEN ÜBERALL EIN; SELBST DA; WO SIE NUN WIRKLICH NICHT HINGEHÖREN; DA MUSS MAN DOCH EIN ZEICHEN SETZEN; DAS GEHT NICHT SO WEITER; ERST VERFÜHREN SIE UNSERE FRAUEN; DANN VERZIEHEN SIE UNSERE KINDER UND AM ENDE ZIEHEN SIE GANZ IN UNSERE KIRCHEN EIN UND MACHEN SIE ALLE ZU MOSCHEEN; UND DIE; DIE ICH FÜR MEINE SCHWESTERN UND BRÜDER IN CHRISTO HALTE; SEHEN DAS NICHT; GEHEN ZU IHREN FESTEN UND HOLEN SIE IN UNSERE KIRCHEN; GERADE SO; ALS WÄREN SIE KEINE HEIDEN; MAN MUSS IHNEN DIE AUGEN ÖFFNEN!//
Keller betrat das Gemeindehaus gleich neben dem Bürgerpark. Im Zentrum einer Großstadt sahen die evangelischen Christen in der Summe doch anders aus als in einem provinziellen Dorf, aber seltsame Vögel war auch hier zahlreich vertreten: die esoterisch Angehauchten in Walla Walla-Gewändern mit buntem Schal, der wie eine Stola locker im Nacken lag, ein paar blitzsaubere Überkorrekte mit verkniffenen Mündern, die möglicherweise gleich aufstanden und die zu Gewalt aufrufenden Suren im Koran rezitierten, um zu beweisen, wie rückschrittlich der Islam ist, die betont Nachlässigen mit lieblos geschorenen Kurzhaarfrisuren, verbeulten Jeans und verblichenen T-Shirts, vor allem aber die dynamischen jungen Senioren: drahtig, braungebrannt in teurer Funktionskleidung und mit geradezu ekelhaft zur Schau gestellter Wachheit. Er hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht, wenn ihn das Thema nicht so interessiert hätte. Er entdeckte den Referenten. Der wirkte immerhin äußerst sympathisch, er war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, ihn in anderen Zusammenhängen schon einmal kennengelernt zu haben. Womöglich als Patient, immerhin war er von Beruf Arzt.
//LETZTES MAL HABEN SIE MICH RAUS GESCHMISSEN; GERADE SO; ALS WÄRE ICH DER FEIND: WER IHR WIRKLICHER FEIND IST; ERKENNEN SIE NICHT; DOCH WER SICH WEIGERT ZU ERKENNEN; WER SICH WEIGERT; DER MUSS BRENNEN!//
Keller spürte, wie sein Mobiltelefon in der Hosentasche vibrierte. Er hätte es ignorieren können, aber er brachte es nicht fertig. „Vielleicht ist es ja nichts Wichtiges“, dachte er und sah aufs Display. „Ach, Kerkenbrock!, zischte er ärgerlich. „Was hast du denn jetzt wieder vergessen.“ Widerwillig gab er seinen guten Platz auf und ging vor die Tür. Irritiert blickte er in den Nieselregen, denn es roch penetrant nach Grillanzünder. „Wer grillt denn bei diesem Wetter?“, dachte er im ersten Moment, dann spürte er wie automatisch ein Schalter in seinem Kopf umgelegt wurde. „Brandbeschleuniger!“, dachte er nur noch, rannte zurück ins Gemeindehaus und sprach sofort einen der Verantwortlichen an: „Bringen Sie bitte so schnell wir möglich alle Leute hier raus, es besteht allerhöchste Brandgefahr.“
„Klar“, erwiderte der etwas debil drein blickende Ehrenamtliche mit stoischer Ruhe. „Wo Muslime reden, da ist Feuer, höhöhö.“
„Verdammt, ich meine es ernst!“, zischte Keller. „Draußen riecht es überall nach brandbeschleuniger. Wenn Sie nicht umgehend handeln, bricht hier eine Massenpanik aus.“ Er zückte seinen Dienstausweis. „Also tun Sie jetzt was ich sage, ich fordere in der Zwischenzeit Verstärkung an.“
Keller alarmierte eine Streife und die Feuerwehr und beteiligte sich dann an einer möglichst störungsfreien Evakuierung der etwa 80 Veranstaltungsbesucher.
//WIESO KOMMEN JETZT ALLE RAUS? WER HAT MICH VERRATEN? WIE SOLL ICH SIE JETZT BESTRAFEN? ICH MUSS DOCH EIN ZEICHEN SETZEN! VIELLEICHT NEHME ICH MIR NUR DEN MUSELMANN VOR; EIN BISSCHEN BENZIN HABE ICH JA NOCH IN DER EINEN FLASCHE//
Kellers Blick schweifte umher, er behielt besonders den Referenten im Auge, dem der offenkundig geplante Brandanschlag womöglich galt. Dann fiel sein Blick auf einen Typen in der Menge, der so gar nicht ins Bild passte. Er trug einen altmodischen taillierten Anorak, braune Kordhosen und Sandalen, die er gefühlt zum letzten Mal in den Siebziger Jahren in einem Schuhgeschäft gesehen hatte. Auf dem Rücken trug der Mann, der sich langsam dem Referenten näherte, einen Rucksack, den er nun vorsichtig abnahm. Instinktiv schoss Keller auf ihn zu und sprach ihn an: „Waren Sie eben auch im Gemeindehaus? Ich habe Sie da gar nicht gesehen.“
Überrascht fuhr der Mann herum und stotterte: „Doch doch, äh ,nein, ich meine, ich war gerade auf dem Weg ins Haus, als mir alle entgegen kamen, was ist denn da los?“
„Darf ich mal in Ihren Rucksack sehen?“, fragte Keller.
„Wieso sollten Sie?“
„Weil ich Polizeibeamter bin und vermute, dass hier ein Brandanschlag geplant ist.“
Plötzlich setzte sich der Mann in Bewegung und versucht wegzulaufen, aber im allgemeinnen Gedränge war das praktisch unmöglich und Keller schaffte es ihn festzuhalten. Mittlerweile war auch die Streife da und die Kollegen fanden im Rucksack des Festgenommenen die Reste des Brandbeschleunigers. Sie nahmen den Täter in Gewahrsam. Er verweigerte jede Aussage, wurde aber aufgrund der glasklaren Indizien zu einer langen Haftstrafe verurteilt.
//SIE KRIEGEN MICH NICHT KLEIN; ICH WERDE DAS HIER ÜBERLEBEN; ICH MUSS ES ÜBERLEBEN; DENN DIE WELT WARTET DARAUF; DASS ICH SIE RETTE; DER TAG WIRD KOMMEN; WO SIE MICH GEHEN LASSEN MÜSSEN; ICH MACHE HIER KEINEN FEHLER; HIER HÄTTE ICH KEINE CHANCE; HIER SIND JA NUR SCHWERVERBRECHER UND HARTGESOTTENE AUFPASSER; ABER WENN ICH WIEDER DRAUSSEN BIN; SIND SIE DRAN ND DIESMAL MACHE ICH KEINE FEHLER UND DANN WIRD ALLES GUT.//
„Nun werden Sie mal nicht unverschämt, junge Kollegin.“, erwiderte Stefan Keller. „Ausnahmsweise gehe ich mal zu einer Veranstaltung in meiner Kirchengemeinde, also da, wo ich wohne, und der Besuch ist nicht dienstlich.“
„Dass ich das noch erleben darf. Worum geht es denn? Bibelkrimis?“
„Um Gottes Willen, nein!“, erwiderte Keller. „Da kommt ein muslimischer Arzt; der einen informativen Vortrag über die islamische Lebensweise halten wird. Wenn so jemand das in einem Evangelischen Gemeindehaus tut, wird das sicher spannend.“
„Ja, das würde mich auch interessieren.“, erklärte Kerkenbrock. „Aber ich habe den heutigen Abend leider schon für meinen Liebsten reserviert.“
// SIE SIND SCHON ÜBERALL; DRINGEN ÜBERALL EIN; SELBST DA; WO SIE NUN WIRKLICH NICHT HINGEHÖREN; DA MUSS MAN DOCH EIN ZEICHEN SETZEN; DAS GEHT NICHT SO WEITER; ERST VERFÜHREN SIE UNSERE FRAUEN; DANN VERZIEHEN SIE UNSERE KINDER UND AM ENDE ZIEHEN SIE GANZ IN UNSERE KIRCHEN EIN UND MACHEN SIE ALLE ZU MOSCHEEN; UND DIE; DIE ICH FÜR MEINE SCHWESTERN UND BRÜDER IN CHRISTO HALTE; SEHEN DAS NICHT; GEHEN ZU IHREN FESTEN UND HOLEN SIE IN UNSERE KIRCHEN; GERADE SO; ALS WÄREN SIE KEINE HEIDEN; MAN MUSS IHNEN DIE AUGEN ÖFFNEN!//
Keller betrat das Gemeindehaus gleich neben dem Bürgerpark. Im Zentrum einer Großstadt sahen die evangelischen Christen in der Summe doch anders aus als in einem provinziellen Dorf, aber seltsame Vögel war auch hier zahlreich vertreten: die esoterisch Angehauchten in Walla Walla-Gewändern mit buntem Schal, der wie eine Stola locker im Nacken lag, ein paar blitzsaubere Überkorrekte mit verkniffenen Mündern, die möglicherweise gleich aufstanden und die zu Gewalt aufrufenden Suren im Koran rezitierten, um zu beweisen, wie rückschrittlich der Islam ist, die betont Nachlässigen mit lieblos geschorenen Kurzhaarfrisuren, verbeulten Jeans und verblichenen T-Shirts, vor allem aber die dynamischen jungen Senioren: drahtig, braungebrannt in teurer Funktionskleidung und mit geradezu ekelhaft zur Schau gestellter Wachheit. Er hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht, wenn ihn das Thema nicht so interessiert hätte. Er entdeckte den Referenten. Der wirkte immerhin äußerst sympathisch, er war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, ihn in anderen Zusammenhängen schon einmal kennengelernt zu haben. Womöglich als Patient, immerhin war er von Beruf Arzt.
//LETZTES MAL HABEN SIE MICH RAUS GESCHMISSEN; GERADE SO; ALS WÄRE ICH DER FEIND: WER IHR WIRKLICHER FEIND IST; ERKENNEN SIE NICHT; DOCH WER SICH WEIGERT ZU ERKENNEN; WER SICH WEIGERT; DER MUSS BRENNEN!//
Keller spürte, wie sein Mobiltelefon in der Hosentasche vibrierte. Er hätte es ignorieren können, aber er brachte es nicht fertig. „Vielleicht ist es ja nichts Wichtiges“, dachte er und sah aufs Display. „Ach, Kerkenbrock!, zischte er ärgerlich. „Was hast du denn jetzt wieder vergessen.“ Widerwillig gab er seinen guten Platz auf und ging vor die Tür. Irritiert blickte er in den Nieselregen, denn es roch penetrant nach Grillanzünder. „Wer grillt denn bei diesem Wetter?“, dachte er im ersten Moment, dann spürte er wie automatisch ein Schalter in seinem Kopf umgelegt wurde. „Brandbeschleuniger!“, dachte er nur noch, rannte zurück ins Gemeindehaus und sprach sofort einen der Verantwortlichen an: „Bringen Sie bitte so schnell wir möglich alle Leute hier raus, es besteht allerhöchste Brandgefahr.“
„Klar“, erwiderte der etwas debil drein blickende Ehrenamtliche mit stoischer Ruhe. „Wo Muslime reden, da ist Feuer, höhöhö.“
„Verdammt, ich meine es ernst!“, zischte Keller. „Draußen riecht es überall nach brandbeschleuniger. Wenn Sie nicht umgehend handeln, bricht hier eine Massenpanik aus.“ Er zückte seinen Dienstausweis. „Also tun Sie jetzt was ich sage, ich fordere in der Zwischenzeit Verstärkung an.“
Keller alarmierte eine Streife und die Feuerwehr und beteiligte sich dann an einer möglichst störungsfreien Evakuierung der etwa 80 Veranstaltungsbesucher.
//WIESO KOMMEN JETZT ALLE RAUS? WER HAT MICH VERRATEN? WIE SOLL ICH SIE JETZT BESTRAFEN? ICH MUSS DOCH EIN ZEICHEN SETZEN! VIELLEICHT NEHME ICH MIR NUR DEN MUSELMANN VOR; EIN BISSCHEN BENZIN HABE ICH JA NOCH IN DER EINEN FLASCHE//
Kellers Blick schweifte umher, er behielt besonders den Referenten im Auge, dem der offenkundig geplante Brandanschlag womöglich galt. Dann fiel sein Blick auf einen Typen in der Menge, der so gar nicht ins Bild passte. Er trug einen altmodischen taillierten Anorak, braune Kordhosen und Sandalen, die er gefühlt zum letzten Mal in den Siebziger Jahren in einem Schuhgeschäft gesehen hatte. Auf dem Rücken trug der Mann, der sich langsam dem Referenten näherte, einen Rucksack, den er nun vorsichtig abnahm. Instinktiv schoss Keller auf ihn zu und sprach ihn an: „Waren Sie eben auch im Gemeindehaus? Ich habe Sie da gar nicht gesehen.“
Überrascht fuhr der Mann herum und stotterte: „Doch doch, äh ,nein, ich meine, ich war gerade auf dem Weg ins Haus, als mir alle entgegen kamen, was ist denn da los?“
„Darf ich mal in Ihren Rucksack sehen?“, fragte Keller.
„Wieso sollten Sie?“
„Weil ich Polizeibeamter bin und vermute, dass hier ein Brandanschlag geplant ist.“
Plötzlich setzte sich der Mann in Bewegung und versucht wegzulaufen, aber im allgemeinnen Gedränge war das praktisch unmöglich und Keller schaffte es ihn festzuhalten. Mittlerweile war auch die Streife da und die Kollegen fanden im Rucksack des Festgenommenen die Reste des Brandbeschleunigers. Sie nahmen den Täter in Gewahrsam. Er verweigerte jede Aussage, wurde aber aufgrund der glasklaren Indizien zu einer langen Haftstrafe verurteilt.
//SIE KRIEGEN MICH NICHT KLEIN; ICH WERDE DAS HIER ÜBERLEBEN; ICH MUSS ES ÜBERLEBEN; DENN DIE WELT WARTET DARAUF; DASS ICH SIE RETTE; DER TAG WIRD KOMMEN; WO SIE MICH GEHEN LASSEN MÜSSEN; ICH MACHE HIER KEINEN FEHLER; HIER HÄTTE ICH KEINE CHANCE; HIER SIND JA NUR SCHWERVERBRECHER UND HARTGESOTTENE AUFPASSER; ABER WENN ICH WIEDER DRAUSSEN BIN; SIND SIE DRAN ND DIESMAL MACHE ICH KEINE FEHLER UND DANN WIRD ALLES GUT.//
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Dienstag, 21. Juni 2016
Gott kann grausam sein – abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 01:52h
Mitten auf der Verkehrsinsel stand ein einzelner Schuh.
Er hatte das Schulgebäude gerade verlassen und freute sich auf die Ruhe seines Arbeitszimmers, eine Tasse Cappuccino und das Short Bread, das seine Schwester ihm gebacken hatte, da standen sie plötzlich vor ihm. Er spürte wie sein Gesicht vor Unsicherheit zuckte, aber er bemühte sich, unbeugsam zu wirken. „Was gibt’s denn noch?“, fragte er ungeduldig, da machte der grinsende Alex einen Schritt auf ihn zu und drückte etwas Kaltes und Hartes gegen seine Kehle. „Und bist du kitzelig?“, fragte der renitente Schüler.
„Könnte lebensgefährlich werden, wenn man mit dem Messer gekitzelt wird.“, gab der dicke Andres zu bedenken.
„Du gibst mir doch keine Fünf oder Sechs in Religion, Pastor?“, fragte Alex, „Denn sonst müsste ich dich kräftig durchkitzeln.“
„Nein, natürlich nicht.“, erwiderte der Berufsschulpfarrer geistesgegenwärtig.
„Da verlass ich mich jetzt aber drauf.“, sagte Alex. „Ein Pastor darf ja nicht lügen.“
„Und wenn doch“, mischte der dicke Andres sich ein, „Wird er von Gott bestraft. Und Gott hat ein Messer. Also ab nach Hause mit dir. Und schön vorsichtig.“
Die Schüler verschwanden in Richtung Stadtmitte, sein Heimweg verlief in entgegengesetzter Richtung. Wie ferngesteuert setzte er einen Fuß vor den anderen. Nur ein Stück die Straße herunter, dann auf die andere Seite, einen Moment an der Bushaltestelle warten, fünf Minuten Busfahrt, noch einmal ein Stück die Straße herunter, links abbiegen und dann lag es da gleich um die Ecke, das schöne Stadthaus, in dem sich seine Wohnung befand, mit der Espressomaschine und der mit Ornamenten verzierten Keksdose.
Der Schmerz kam diesmal ganz plötzlich, nicht in pulsierenden Wellen wie sonst, sondern wie ein Fausthieb, gewaltig, reißend und atemberaubend im wahrsten Sinne des Wortes. Sein linker Arm brannte. Instinktiv fasste er sich an die Brust. „Ich muss es bis zum Bus schaffen“, dachte er, dann brach er zusammen.
„Was willst du Pastor? Ich habe hier mit meinen Kumpels was Dringendes zu besprechen, also misch dich nicht ein.“
„Sie stören den Unterricht.“
„Welchen Unterricht? Erzähl doch den Foliengrillern deine Jesusgeschichten und lass uns hier in Ruhe unsere Geschäfte besprechen.“
„Können Sie mich hören? Versuchen Sie gleichmäßig zu atmen ein Rettungswagen ist unterwegs.“
Es klingelt. Er drückt den Summer und öffnet die Wohnungstür. Die Fußmatte steht in Flammen. Instinktiv tritt er das Feuer aus. Es riecht bestialisch. An seinem Schuh klebt Hundekot.
„Vielleicht ist der Schuldienst auch nicht das Richtige für Sie.“, überlegt der Superintendent. „In der Gemeindearbeit bleiben Sie von solchen Gestalten auf jeden Fall verschont. Die Konfirmanden sind noch nicht so abgebrüht, nicht einmal die ganz Frechen.“
„Aber Sie wissen doch, dass mir die ganze Verantwortung schnell zu viel wird. Darum bin ich ja in ein überschaubares Arbeitsfeld gewechselt.“
„I – A – Ananas, Edgar hat die Hosen nass!“, rufen die Mitschüler im Chor und er steht auf dem Schulhof und weiß nicht wohin mit seinen Blicken, seinen Händen und mit sich.
Er schreibt die wichtigsten Lebensdaten Luthers an die Tafel und spürt wie Papierkugeln in seinen Haaren landen. Er will es ignorieren, auch diese Stunde einfach nur überstehen. Sicher sieht er schon aus wie ein klassischer Salz-und-Pfeffer-Teppichboden.
Er hört seltsame Geräusche. Es piept unregelmäßig, da sind überall Leute. Er liegt und bewegt sich doch. Dann wird es dunkel.
Edgar Röthemeier liegt seit Tagen auf der Intensivstation. Aus dem Koma ist er immer noch nicht erwacht. Er brach nach einem langen Schultag auf dem Heimweg mitten auf der Straße zusammen. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten. Die Kollegen reagierten bestürzt, manch einer wunderte sich nicht, er sah ja schon seit längerem reichlich mitgenommen aus.
Alex Strobach und Andres Evers hatten in den nächsten Wochen keinen Religionsunterricht, wie der Rest der Klasse übrigens auch. Statt dessen mussten sie sich mit einer zusätzlichen Stunde Englisch herumärgern, das schmeckte ihnen nicht. Sie wussten nicht, warum ihr Berufsschulpfarrer fehlte und es war ihnen auch egal. Sie verschwendeten nicht einen Gedanken daran, dass es etwas mit ihnen zu tun haben könnte. Sie wussten nicht, dass sie beobachtet worden waren.
Schon seit Tagen wundern sich Passanten unweit der Schule, wundern sich, aber lassen alles wie es ist.
Mitten auf der Verkehrsinsel steht ein einzelner Schuh.
Er hatte das Schulgebäude gerade verlassen und freute sich auf die Ruhe seines Arbeitszimmers, eine Tasse Cappuccino und das Short Bread, das seine Schwester ihm gebacken hatte, da standen sie plötzlich vor ihm. Er spürte wie sein Gesicht vor Unsicherheit zuckte, aber er bemühte sich, unbeugsam zu wirken. „Was gibt’s denn noch?“, fragte er ungeduldig, da machte der grinsende Alex einen Schritt auf ihn zu und drückte etwas Kaltes und Hartes gegen seine Kehle. „Und bist du kitzelig?“, fragte der renitente Schüler.
„Könnte lebensgefährlich werden, wenn man mit dem Messer gekitzelt wird.“, gab der dicke Andres zu bedenken.
„Du gibst mir doch keine Fünf oder Sechs in Religion, Pastor?“, fragte Alex, „Denn sonst müsste ich dich kräftig durchkitzeln.“
„Nein, natürlich nicht.“, erwiderte der Berufsschulpfarrer geistesgegenwärtig.
„Da verlass ich mich jetzt aber drauf.“, sagte Alex. „Ein Pastor darf ja nicht lügen.“
„Und wenn doch“, mischte der dicke Andres sich ein, „Wird er von Gott bestraft. Und Gott hat ein Messer. Also ab nach Hause mit dir. Und schön vorsichtig.“
Die Schüler verschwanden in Richtung Stadtmitte, sein Heimweg verlief in entgegengesetzter Richtung. Wie ferngesteuert setzte er einen Fuß vor den anderen. Nur ein Stück die Straße herunter, dann auf die andere Seite, einen Moment an der Bushaltestelle warten, fünf Minuten Busfahrt, noch einmal ein Stück die Straße herunter, links abbiegen und dann lag es da gleich um die Ecke, das schöne Stadthaus, in dem sich seine Wohnung befand, mit der Espressomaschine und der mit Ornamenten verzierten Keksdose.
Der Schmerz kam diesmal ganz plötzlich, nicht in pulsierenden Wellen wie sonst, sondern wie ein Fausthieb, gewaltig, reißend und atemberaubend im wahrsten Sinne des Wortes. Sein linker Arm brannte. Instinktiv fasste er sich an die Brust. „Ich muss es bis zum Bus schaffen“, dachte er, dann brach er zusammen.
„Was willst du Pastor? Ich habe hier mit meinen Kumpels was Dringendes zu besprechen, also misch dich nicht ein.“
„Sie stören den Unterricht.“
„Welchen Unterricht? Erzähl doch den Foliengrillern deine Jesusgeschichten und lass uns hier in Ruhe unsere Geschäfte besprechen.“
„Können Sie mich hören? Versuchen Sie gleichmäßig zu atmen ein Rettungswagen ist unterwegs.“
Es klingelt. Er drückt den Summer und öffnet die Wohnungstür. Die Fußmatte steht in Flammen. Instinktiv tritt er das Feuer aus. Es riecht bestialisch. An seinem Schuh klebt Hundekot.
„Vielleicht ist der Schuldienst auch nicht das Richtige für Sie.“, überlegt der Superintendent. „In der Gemeindearbeit bleiben Sie von solchen Gestalten auf jeden Fall verschont. Die Konfirmanden sind noch nicht so abgebrüht, nicht einmal die ganz Frechen.“
„Aber Sie wissen doch, dass mir die ganze Verantwortung schnell zu viel wird. Darum bin ich ja in ein überschaubares Arbeitsfeld gewechselt.“
„I – A – Ananas, Edgar hat die Hosen nass!“, rufen die Mitschüler im Chor und er steht auf dem Schulhof und weiß nicht wohin mit seinen Blicken, seinen Händen und mit sich.
Er schreibt die wichtigsten Lebensdaten Luthers an die Tafel und spürt wie Papierkugeln in seinen Haaren landen. Er will es ignorieren, auch diese Stunde einfach nur überstehen. Sicher sieht er schon aus wie ein klassischer Salz-und-Pfeffer-Teppichboden.
Er hört seltsame Geräusche. Es piept unregelmäßig, da sind überall Leute. Er liegt und bewegt sich doch. Dann wird es dunkel.
Edgar Röthemeier liegt seit Tagen auf der Intensivstation. Aus dem Koma ist er immer noch nicht erwacht. Er brach nach einem langen Schultag auf dem Heimweg mitten auf der Straße zusammen. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten. Die Kollegen reagierten bestürzt, manch einer wunderte sich nicht, er sah ja schon seit längerem reichlich mitgenommen aus.
Alex Strobach und Andres Evers hatten in den nächsten Wochen keinen Religionsunterricht, wie der Rest der Klasse übrigens auch. Statt dessen mussten sie sich mit einer zusätzlichen Stunde Englisch herumärgern, das schmeckte ihnen nicht. Sie wussten nicht, warum ihr Berufsschulpfarrer fehlte und es war ihnen auch egal. Sie verschwendeten nicht einen Gedanken daran, dass es etwas mit ihnen zu tun haben könnte. Sie wussten nicht, dass sie beobachtet worden waren.
Schon seit Tagen wundern sich Passanten unweit der Schule, wundern sich, aber lassen alles wie es ist.
Mitten auf der Verkehrsinsel steht ein einzelner Schuh.
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Sonntag, 19. Juni 2016
Missgünstig – abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 21:52h
Zornig warf Verena Prakownik den Hörer zurück auf die Gabel. Es war unfassbar, schon wieder waren es Bernhard Prase und Gesine Krysa, die ihr Knüppel zwischen die Beine warfen.
Prase war ein gnadenloser Erbsenzähler, ein leitender, städtischer Angestellter der in seiner Freizeit die Rasenkanten mit der Schere trimmte, seine Nachbarn terrorisierte und sich berufen sah, in der Kirchengemeinde für die Durchsetzung von Recht und Ordnung zu sorgen.
Noch schlimmer war Krysa, die als Deutsch- und Religions-Lehrerin am altsprachlichen Gymnasium schon Generationen von Schülerinnen und Schülern in die Depression, den Alkoholismus oder die Anorexie getrieben hatte und keine Frau mit Abitur und Hochschulabschluss in ihrem Umfeld ertrug, ohne sie mit ständigen Kritteleien und Quertreibereien zu drangsalieren, schon gar nicht, wenn die Frau erfolgreich und anerkannt war.
Gerade hatte Dirk Malicherny ihr den aktuellen Presbyteriums-Beschluss telefonisch mitgeteilt – nicht etwa freiwillig, oh nein, sie selbst hatte nachgefragt, weil ihre Maulwürfe sie alarmiert hatten. Sie hatte sofort den Vorsitzenden angerufen und gefragt: „Sag mal, Dirk, habt Ihr im Presbyterium eigentlich schon besprochen, welchen zeitlichen Spielraum ihr mir für einen Auflösungsvertrag gewähren könnt?“
„Ach Verena, ja wir haben da tatsächlich vorgestern drüber gesprochen und du müsstest dich an die gesetzlichen Fristen halten.“
„Aber so lange im Voraus kann ich keine Bewerbungen schreiben. Die Ausschreibungen stehen ja oft erst ein bis zwei Monate vor Besetzungstermin in den Stellenanzeigen.“
„Tja, da müsstest du dann auf eigenes Risiko kündigen.“
„Aber wie stellt ihr euch das vor? Wenn ich auf eigenes Risiko kündige und dann nicht direkt eine neue Stelle habe, bekomme ich kein Arbeitslosengeld. Mein Mann übernimmt nach mir die Elternzeit. Wir ständen praktisch ohne Einkommen da.“
„Ach so. Das ist natürlich ein Problem. Da solltest du vielleicht noch einmal mit Herrn Prase und Frau Krysa sprechen, die hätten für deine Situation sicher Verständnis.“
Jetzt sollte sie also den zwei von ihr meistgehassten Presbytern in den Anus kriechen, damit sie vielleicht doch noch eine Chance hatte, jemals die Stelle zu wechseln, ohne direkt in die Privatinsolvenz zu rutschen. Sie hatte die mündliche Zusage bekommen, ein Auflösungsvertrag sei kein Problem. Sie hatte eine kostspielige Anzeige aufgegeben, auf die sie mehrere Zuschriften erhalten hatte. Daraufhin hatte sie Bewerbungen geschrieben und demnächst standen zwei Gespräche an. Sie wollte sich beruflich verändern, einen familienfreundlicheren Arbeitsplatz finden, auf dem sie auch problemlos älter werden konnte, was man ja von der gemeindlichen Kinder- und Jugendarbeit nicht behaupten konnte. Was blieb ihr also anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und zwei demütigende Telefongespräche zu führen.
„Zuerst Prase“, dachte sie, „zum warm laufen. Krysa ist auf nüchternen Magen zu hart.“
Er nahm schon nach dem zweiten Klingeln ab, als habe er bereits am Apparat gelauert.
„Prase“, meldete er sich unheilverkündend.
„Ja, guten Tag, hier ist Verena Prakownik.“
„Ach Frau Prakownik. Wie geht es denn dem Nachwuchs?“
„Prächtig, danke. Ich habe ein Anliegen, Herr Prase. Sie wissen ja, dass ich mich gern beruflich verändern würde. Jetzt habe ich soeben erfahren, dass das Presbyterium von mir verlangt, mich bei der Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses an die gesetzlichen Fristen zu halten. Normalerweise ist es in solchen Fällen durchaus üblich, einen Auflösungsvertrag zu machen, weil man sonst gar keine Möglichkeit hat, irgendwann die Stelle zu wechseln, denn wenn ich auf eigenes Risiko kündige, bekomme ich kein Arbeitslosengeld und meine Familie steht ohne Einkommen da.“
„Verdient Ihr Mann denn nichts?“
„Nein, der geht an meiner Stelle in Elternzeit. Wir wollen unser Kind nicht schon mit zwölf Monaten in die Kita geben.“
„Das ehrt Sie. Aber dann können Sie es doch versuchen, wenn Ihr Kind untergebracht ist und Ihr Mann wieder arbeiten kann.“
„Ich habe aber schon in eine Anzeige investiert, Bewerbungen geschrieben und demnächst zwei Gespräche.“
„Da sehen Sie. Sie finden sicher sofort was.“
„Aber wer weiß, wie der Arbeitsmarkt in zwei Jahren aussieht.“
„Ach, Frau Prakownik, so schnell ändert sich das nicht, lassen Sie sich das von einem alten Hasen gesagt sein. Aber ich muss das Gespräch jetzt beenden, ich habe gleich einen Termin. Nur Geduld. Da wird sich sicher irgendwann eine Lösung finden.“
Und schon hatte er aufgelegt. Wenn sie den gelegentlich von Vernunftanwandlungen heimgesuchten Prase nicht überzeugen konnte, brauchte sie es bei Gesine Krysa eigentlich gar nicht mehr versuchen. Aber vielleicht ließ die sich bändigen, wenn sie die Feminismus-Karte ausspielte.
Bei Familie Krysa dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sich endlich jemand meldete.
„Hier spricht Johann Hinrich Krysa. Wer ist da bitte?“, schnarrte der Sohn der an uferloser Selbstüberschätzung laborierenden Studienrätin in den Hörer.
„Hallo Johann“, antwortete Verena Prakownik. „Hier ist Verena. Ist deine Mutter zu sprechen?.“
„Ja, einen, Augenblick bitte.“
„Hallo, Frau Prakownik“, tönte es vom anderen Ende und Verena glaubte, das zu einer Maske wenig überzeugend zur Schau gestellter Freundlichkeit erstarrte Grinsen zu sehen, hinter dem Gesine Krysa ihre missgünstigen Triebe verbarg.
„Ich rufe an wegen des Presbyteriums-Beschlusses, der mich zwingt, im Rahmen der gesetzlichen Fristen zu kündigen, falls ich die Stelle wechseln will.“
„Niemand will Sie zu irgendetwas zwingen, Frau Prakownik. Wir sind doch keine Despoten.“
Verena musste sich auf die Zunge beißen, um nicht instinktiv zu widersprechen. Stattdessen sagte sie: „Das behaupte ich auch gar nicht, Frau Krysa, denn sonst hätte es ja keinen Zweck, das Gespräch zu suchen. Sehen Sie, ich bin in der misslichen Lage, für die nächste Zeit ein verlässliches Familieneinkommen sicherzustellen. Die Leute gehen immer noch davon aus, dass hierfür der Mann zuständig ist und die Frau nur arbeitet um das Grundgehalt aufzustocken oder um sich selbst zu verwirklichen. Nun ist es aber so, dass mit dem Ende der Elternzeit mein Mann die Betreuung unseres Kindes übernimmt und möglicherweise auch dann keine Stelle findet, wenn wir das Kind mit etwa drei Jahren in eine Kindertageseinrichtung geben. Wenn ich auf eigenes Risiko kündige, stehen wir ohne Einkommen da. Wenn ich mich beruflich nicht verändern kann, bin ich für den Arbeitsmarkt irgendwann verbrannt und dann haben sie eine alternde, teure Jugendreferentin, die sie bis zur Rente nicht mehr loswerden.“
„Also so dramatisch, wie Sie es jetzt darstellen ist die Situation ja nun nicht.“, antwortete Krysa und die Verärgerung war ihr deutlich anzumerken. „Sie müssen mir nichts von Vereinbarkeit von Beruf und Familie erklären, Frau Prakownik. Ich habe selbst drei Kinder und bin immer wieder nach kurzer Zeit in den Dienst zurückgekehrt, obwohl mein Mann voll gearbeitet hat. Emanzipation heißt nicht, dass es für uns Frauen leichter wird, wir müssen uns auch anstrengen und nach der Decke strecken und genau wie die Männer Risiken eingehen und um unseren Platz kämpfen. Und selbst, wenn es daneben gehen sollte. In unserem Land muss doch niemand verhungern. Machen Sie sich da mal nicht verrückt. Sie müssen auch verstehen, dass wir als Kirchengemeinde uns nicht von den plötzlichen Launen unserer Jugendreferentin abhängig machen können. Wir brauchen auch Verlässlichkeit, die Jugendarbeit ist uns nämlich wichtig, deswegen geben wir ja auch so viel Geld dafür aus. Vielleicht sollten Sie lieber dankbar sein, dass Sie als junge Mutter einen krisensicheren Arbeitsplatz innehaben. Bewerben Sie sich doch langfristig initiativ. Die Arbeitgeber werden es Ihnen danken, wenn Sie ihren aktuellen Brötchengeber nicht fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Vertragsbruch wird von niemandem geschätzt.“
Nach einigen Sekunden entgeisterten Schweigens fragte Verena: „Sie bleiben also bei Ihrer Haltung?“
„Aber selbstverständlich.“, erwiderte Gesine Krysa.
„Ja, dann einen schönen Tag noch.“, erwiderte die Jugendreferentin und legte auf.
Am Abend traf sich der Kirchenchor, in dem auch die beiden Presbyter sangen. Da sie dicht beieinander wohnten, gingen sie oft zu Fuß dorthin, so auch an diesem Abend. Nur kamen sie nie dort an.
Man fand sie noch in der Nacht, jemand hatte sie auf der Straße, die durch den Wald führte, angefahren und mehrmals mit dem PKW überrollt. Ärztliche Hilfe kam für beide zu spät.
Prase war ein gnadenloser Erbsenzähler, ein leitender, städtischer Angestellter der in seiner Freizeit die Rasenkanten mit der Schere trimmte, seine Nachbarn terrorisierte und sich berufen sah, in der Kirchengemeinde für die Durchsetzung von Recht und Ordnung zu sorgen.
Noch schlimmer war Krysa, die als Deutsch- und Religions-Lehrerin am altsprachlichen Gymnasium schon Generationen von Schülerinnen und Schülern in die Depression, den Alkoholismus oder die Anorexie getrieben hatte und keine Frau mit Abitur und Hochschulabschluss in ihrem Umfeld ertrug, ohne sie mit ständigen Kritteleien und Quertreibereien zu drangsalieren, schon gar nicht, wenn die Frau erfolgreich und anerkannt war.
Gerade hatte Dirk Malicherny ihr den aktuellen Presbyteriums-Beschluss telefonisch mitgeteilt – nicht etwa freiwillig, oh nein, sie selbst hatte nachgefragt, weil ihre Maulwürfe sie alarmiert hatten. Sie hatte sofort den Vorsitzenden angerufen und gefragt: „Sag mal, Dirk, habt Ihr im Presbyterium eigentlich schon besprochen, welchen zeitlichen Spielraum ihr mir für einen Auflösungsvertrag gewähren könnt?“
„Ach Verena, ja wir haben da tatsächlich vorgestern drüber gesprochen und du müsstest dich an die gesetzlichen Fristen halten.“
„Aber so lange im Voraus kann ich keine Bewerbungen schreiben. Die Ausschreibungen stehen ja oft erst ein bis zwei Monate vor Besetzungstermin in den Stellenanzeigen.“
„Tja, da müsstest du dann auf eigenes Risiko kündigen.“
„Aber wie stellt ihr euch das vor? Wenn ich auf eigenes Risiko kündige und dann nicht direkt eine neue Stelle habe, bekomme ich kein Arbeitslosengeld. Mein Mann übernimmt nach mir die Elternzeit. Wir ständen praktisch ohne Einkommen da.“
„Ach so. Das ist natürlich ein Problem. Da solltest du vielleicht noch einmal mit Herrn Prase und Frau Krysa sprechen, die hätten für deine Situation sicher Verständnis.“
Jetzt sollte sie also den zwei von ihr meistgehassten Presbytern in den Anus kriechen, damit sie vielleicht doch noch eine Chance hatte, jemals die Stelle zu wechseln, ohne direkt in die Privatinsolvenz zu rutschen. Sie hatte die mündliche Zusage bekommen, ein Auflösungsvertrag sei kein Problem. Sie hatte eine kostspielige Anzeige aufgegeben, auf die sie mehrere Zuschriften erhalten hatte. Daraufhin hatte sie Bewerbungen geschrieben und demnächst standen zwei Gespräche an. Sie wollte sich beruflich verändern, einen familienfreundlicheren Arbeitsplatz finden, auf dem sie auch problemlos älter werden konnte, was man ja von der gemeindlichen Kinder- und Jugendarbeit nicht behaupten konnte. Was blieb ihr also anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und zwei demütigende Telefongespräche zu führen.
„Zuerst Prase“, dachte sie, „zum warm laufen. Krysa ist auf nüchternen Magen zu hart.“
Er nahm schon nach dem zweiten Klingeln ab, als habe er bereits am Apparat gelauert.
„Prase“, meldete er sich unheilverkündend.
„Ja, guten Tag, hier ist Verena Prakownik.“
„Ach Frau Prakownik. Wie geht es denn dem Nachwuchs?“
„Prächtig, danke. Ich habe ein Anliegen, Herr Prase. Sie wissen ja, dass ich mich gern beruflich verändern würde. Jetzt habe ich soeben erfahren, dass das Presbyterium von mir verlangt, mich bei der Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses an die gesetzlichen Fristen zu halten. Normalerweise ist es in solchen Fällen durchaus üblich, einen Auflösungsvertrag zu machen, weil man sonst gar keine Möglichkeit hat, irgendwann die Stelle zu wechseln, denn wenn ich auf eigenes Risiko kündige, bekomme ich kein Arbeitslosengeld und meine Familie steht ohne Einkommen da.“
„Verdient Ihr Mann denn nichts?“
„Nein, der geht an meiner Stelle in Elternzeit. Wir wollen unser Kind nicht schon mit zwölf Monaten in die Kita geben.“
„Das ehrt Sie. Aber dann können Sie es doch versuchen, wenn Ihr Kind untergebracht ist und Ihr Mann wieder arbeiten kann.“
„Ich habe aber schon in eine Anzeige investiert, Bewerbungen geschrieben und demnächst zwei Gespräche.“
„Da sehen Sie. Sie finden sicher sofort was.“
„Aber wer weiß, wie der Arbeitsmarkt in zwei Jahren aussieht.“
„Ach, Frau Prakownik, so schnell ändert sich das nicht, lassen Sie sich das von einem alten Hasen gesagt sein. Aber ich muss das Gespräch jetzt beenden, ich habe gleich einen Termin. Nur Geduld. Da wird sich sicher irgendwann eine Lösung finden.“
Und schon hatte er aufgelegt. Wenn sie den gelegentlich von Vernunftanwandlungen heimgesuchten Prase nicht überzeugen konnte, brauchte sie es bei Gesine Krysa eigentlich gar nicht mehr versuchen. Aber vielleicht ließ die sich bändigen, wenn sie die Feminismus-Karte ausspielte.
Bei Familie Krysa dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sich endlich jemand meldete.
„Hier spricht Johann Hinrich Krysa. Wer ist da bitte?“, schnarrte der Sohn der an uferloser Selbstüberschätzung laborierenden Studienrätin in den Hörer.
„Hallo Johann“, antwortete Verena Prakownik. „Hier ist Verena. Ist deine Mutter zu sprechen?.“
„Ja, einen, Augenblick bitte.“
„Hallo, Frau Prakownik“, tönte es vom anderen Ende und Verena glaubte, das zu einer Maske wenig überzeugend zur Schau gestellter Freundlichkeit erstarrte Grinsen zu sehen, hinter dem Gesine Krysa ihre missgünstigen Triebe verbarg.
„Ich rufe an wegen des Presbyteriums-Beschlusses, der mich zwingt, im Rahmen der gesetzlichen Fristen zu kündigen, falls ich die Stelle wechseln will.“
„Niemand will Sie zu irgendetwas zwingen, Frau Prakownik. Wir sind doch keine Despoten.“
Verena musste sich auf die Zunge beißen, um nicht instinktiv zu widersprechen. Stattdessen sagte sie: „Das behaupte ich auch gar nicht, Frau Krysa, denn sonst hätte es ja keinen Zweck, das Gespräch zu suchen. Sehen Sie, ich bin in der misslichen Lage, für die nächste Zeit ein verlässliches Familieneinkommen sicherzustellen. Die Leute gehen immer noch davon aus, dass hierfür der Mann zuständig ist und die Frau nur arbeitet um das Grundgehalt aufzustocken oder um sich selbst zu verwirklichen. Nun ist es aber so, dass mit dem Ende der Elternzeit mein Mann die Betreuung unseres Kindes übernimmt und möglicherweise auch dann keine Stelle findet, wenn wir das Kind mit etwa drei Jahren in eine Kindertageseinrichtung geben. Wenn ich auf eigenes Risiko kündige, stehen wir ohne Einkommen da. Wenn ich mich beruflich nicht verändern kann, bin ich für den Arbeitsmarkt irgendwann verbrannt und dann haben sie eine alternde, teure Jugendreferentin, die sie bis zur Rente nicht mehr loswerden.“
„Also so dramatisch, wie Sie es jetzt darstellen ist die Situation ja nun nicht.“, antwortete Krysa und die Verärgerung war ihr deutlich anzumerken. „Sie müssen mir nichts von Vereinbarkeit von Beruf und Familie erklären, Frau Prakownik. Ich habe selbst drei Kinder und bin immer wieder nach kurzer Zeit in den Dienst zurückgekehrt, obwohl mein Mann voll gearbeitet hat. Emanzipation heißt nicht, dass es für uns Frauen leichter wird, wir müssen uns auch anstrengen und nach der Decke strecken und genau wie die Männer Risiken eingehen und um unseren Platz kämpfen. Und selbst, wenn es daneben gehen sollte. In unserem Land muss doch niemand verhungern. Machen Sie sich da mal nicht verrückt. Sie müssen auch verstehen, dass wir als Kirchengemeinde uns nicht von den plötzlichen Launen unserer Jugendreferentin abhängig machen können. Wir brauchen auch Verlässlichkeit, die Jugendarbeit ist uns nämlich wichtig, deswegen geben wir ja auch so viel Geld dafür aus. Vielleicht sollten Sie lieber dankbar sein, dass Sie als junge Mutter einen krisensicheren Arbeitsplatz innehaben. Bewerben Sie sich doch langfristig initiativ. Die Arbeitgeber werden es Ihnen danken, wenn Sie ihren aktuellen Brötchengeber nicht fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Vertragsbruch wird von niemandem geschätzt.“
Nach einigen Sekunden entgeisterten Schweigens fragte Verena: „Sie bleiben also bei Ihrer Haltung?“
„Aber selbstverständlich.“, erwiderte Gesine Krysa.
„Ja, dann einen schönen Tag noch.“, erwiderte die Jugendreferentin und legte auf.
Am Abend traf sich der Kirchenchor, in dem auch die beiden Presbyter sangen. Da sie dicht beieinander wohnten, gingen sie oft zu Fuß dorthin, so auch an diesem Abend. Nur kamen sie nie dort an.
Man fand sie noch in der Nacht, jemand hatte sie auf der Straße, die durch den Wald führte, angefahren und mehrmals mit dem PKW überrollt. Ärztliche Hilfe kam für beide zu spät.
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