Sonntag, 19. Juni 2016
Missgünstig – abgeschlossener Kurzkrimi
Zornig warf Verena Prakownik den Hörer zurück auf die Gabel. Es war unfassbar, schon wieder waren es Bernhard Prase und Gesine Krysa, die ihr Knüppel zwischen die Beine warfen.
Prase war ein gnadenloser Erbsenzähler, ein leitender, städtischer Angestellter der in seiner Freizeit die Rasenkanten mit der Schere trimmte, seine Nachbarn terrorisierte und sich berufen sah, in der Kirchengemeinde für die Durchsetzung von Recht und Ordnung zu sorgen.
Noch schlimmer war Krysa, die als Deutsch- und Religions-Lehrerin am altsprachlichen Gymnasium schon Generationen von Schülerinnen und Schülern in die Depression, den Alkoholismus oder die Anorexie getrieben hatte und keine Frau mit Abitur und Hochschulabschluss in ihrem Umfeld ertrug, ohne sie mit ständigen Kritteleien und Quertreibereien zu drangsalieren, schon gar nicht, wenn die Frau erfolgreich und anerkannt war.
Gerade hatte Dirk Malicherny ihr den aktuellen Presbyteriums-Beschluss telefonisch mitgeteilt – nicht etwa freiwillig, oh nein, sie selbst hatte nachgefragt, weil ihre Maulwürfe sie alarmiert hatten. Sie hatte sofort den Vorsitzenden angerufen und gefragt: „Sag mal, Dirk, habt Ihr im Presbyterium eigentlich schon besprochen, welchen zeitlichen Spielraum ihr mir für einen Auflösungsvertrag gewähren könnt?“
„Ach Verena, ja wir haben da tatsächlich vorgestern drüber gesprochen und du müsstest dich an die gesetzlichen Fristen halten.“
„Aber so lange im Voraus kann ich keine Bewerbungen schreiben. Die Ausschreibungen stehen ja oft erst ein bis zwei Monate vor Besetzungstermin in den Stellenanzeigen.“
„Tja, da müsstest du dann auf eigenes Risiko kündigen.“
„Aber wie stellt ihr euch das vor? Wenn ich auf eigenes Risiko kündige und dann nicht direkt eine neue Stelle habe, bekomme ich kein Arbeitslosengeld. Mein Mann übernimmt nach mir die Elternzeit. Wir ständen praktisch ohne Einkommen da.“
„Ach so. Das ist natürlich ein Problem. Da solltest du vielleicht noch einmal mit Herrn Prase und Frau Krysa sprechen, die hätten für deine Situation sicher Verständnis.“
Jetzt sollte sie also den zwei von ihr meistgehassten Presbytern in den Anus kriechen, damit sie vielleicht doch noch eine Chance hatte, jemals die Stelle zu wechseln, ohne direkt in die Privatinsolvenz zu rutschen. Sie hatte die mündliche Zusage bekommen, ein Auflösungsvertrag sei kein Problem. Sie hatte eine kostspielige Anzeige aufgegeben, auf die sie mehrere Zuschriften erhalten hatte. Daraufhin hatte sie Bewerbungen geschrieben und demnächst standen zwei Gespräche an. Sie wollte sich beruflich verändern, einen familienfreundlicheren Arbeitsplatz finden, auf dem sie auch problemlos älter werden konnte, was man ja von der gemeindlichen Kinder- und Jugendarbeit nicht behaupten konnte. Was blieb ihr also anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und zwei demütigende Telefongespräche zu führen.
„Zuerst Prase“, dachte sie, „zum warm laufen. Krysa ist auf nüchternen Magen zu hart.“
Er nahm schon nach dem zweiten Klingeln ab, als habe er bereits am Apparat gelauert.
„Prase“, meldete er sich unheilverkündend.
„Ja, guten Tag, hier ist Verena Prakownik.“
„Ach Frau Prakownik. Wie geht es denn dem Nachwuchs?“
„Prächtig, danke. Ich habe ein Anliegen, Herr Prase. Sie wissen ja, dass ich mich gern beruflich verändern würde. Jetzt habe ich soeben erfahren, dass das Presbyterium von mir verlangt, mich bei der Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses an die gesetzlichen Fristen zu halten. Normalerweise ist es in solchen Fällen durchaus üblich, einen Auflösungsvertrag zu machen, weil man sonst gar keine Möglichkeit hat, irgendwann die Stelle zu wechseln, denn wenn ich auf eigenes Risiko kündige, bekomme ich kein Arbeitslosengeld und meine Familie steht ohne Einkommen da.“
„Verdient Ihr Mann denn nichts?“
„Nein, der geht an meiner Stelle in Elternzeit. Wir wollen unser Kind nicht schon mit zwölf Monaten in die Kita geben.“
„Das ehrt Sie. Aber dann können Sie es doch versuchen, wenn Ihr Kind untergebracht ist und Ihr Mann wieder arbeiten kann.“
„Ich habe aber schon in eine Anzeige investiert, Bewerbungen geschrieben und demnächst zwei Gespräche.“
„Da sehen Sie. Sie finden sicher sofort was.“
„Aber wer weiß, wie der Arbeitsmarkt in zwei Jahren aussieht.“
„Ach, Frau Prakownik, so schnell ändert sich das nicht, lassen Sie sich das von einem alten Hasen gesagt sein. Aber ich muss das Gespräch jetzt beenden, ich habe gleich einen Termin. Nur Geduld. Da wird sich sicher irgendwann eine Lösung finden.“
Und schon hatte er aufgelegt. Wenn sie den gelegentlich von Vernunftanwandlungen heimgesuchten Prase nicht überzeugen konnte, brauchte sie es bei Gesine Krysa eigentlich gar nicht mehr versuchen. Aber vielleicht ließ die sich bändigen, wenn sie die Feminismus-Karte ausspielte.
Bei Familie Krysa dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sich endlich jemand meldete.
„Hier spricht Johann Hinrich Krysa. Wer ist da bitte?“, schnarrte der Sohn der an uferloser Selbstüberschätzung laborierenden Studienrätin in den Hörer.
„Hallo Johann“, antwortete Verena Prakownik. „Hier ist Verena. Ist deine Mutter zu sprechen?.“
„Ja, einen, Augenblick bitte.“
„Hallo, Frau Prakownik“, tönte es vom anderen Ende und Verena glaubte, das zu einer Maske wenig überzeugend zur Schau gestellter Freundlichkeit erstarrte Grinsen zu sehen, hinter dem Gesine Krysa ihre missgünstigen Triebe verbarg.
„Ich rufe an wegen des Presbyteriums-Beschlusses, der mich zwingt, im Rahmen der gesetzlichen Fristen zu kündigen, falls ich die Stelle wechseln will.“
„Niemand will Sie zu irgendetwas zwingen, Frau Prakownik. Wir sind doch keine Despoten.“
Verena musste sich auf die Zunge beißen, um nicht instinktiv zu widersprechen. Stattdessen sagte sie: „Das behaupte ich auch gar nicht, Frau Krysa, denn sonst hätte es ja keinen Zweck, das Gespräch zu suchen. Sehen Sie, ich bin in der misslichen Lage, für die nächste Zeit ein verlässliches Familieneinkommen sicherzustellen. Die Leute gehen immer noch davon aus, dass hierfür der Mann zuständig ist und die Frau nur arbeitet um das Grundgehalt aufzustocken oder um sich selbst zu verwirklichen. Nun ist es aber so, dass mit dem Ende der Elternzeit mein Mann die Betreuung unseres Kindes übernimmt und möglicherweise auch dann keine Stelle findet, wenn wir das Kind mit etwa drei Jahren in eine Kindertageseinrichtung geben. Wenn ich auf eigenes Risiko kündige, stehen wir ohne Einkommen da. Wenn ich mich beruflich nicht verändern kann, bin ich für den Arbeitsmarkt irgendwann verbrannt und dann haben sie eine alternde, teure Jugendreferentin, die sie bis zur Rente nicht mehr loswerden.“
„Also so dramatisch, wie Sie es jetzt darstellen ist die Situation ja nun nicht.“, antwortete Krysa und die Verärgerung war ihr deutlich anzumerken. „Sie müssen mir nichts von Vereinbarkeit von Beruf und Familie erklären, Frau Prakownik. Ich habe selbst drei Kinder und bin immer wieder nach kurzer Zeit in den Dienst zurückgekehrt, obwohl mein Mann voll gearbeitet hat. Emanzipation heißt nicht, dass es für uns Frauen leichter wird, wir müssen uns auch anstrengen und nach der Decke strecken und genau wie die Männer Risiken eingehen und um unseren Platz kämpfen. Und selbst, wenn es daneben gehen sollte. In unserem Land muss doch niemand verhungern. Machen Sie sich da mal nicht verrückt. Sie müssen auch verstehen, dass wir als Kirchengemeinde uns nicht von den plötzlichen Launen unserer Jugendreferentin abhängig machen können. Wir brauchen auch Verlässlichkeit, die Jugendarbeit ist uns nämlich wichtig, deswegen geben wir ja auch so viel Geld dafür aus. Vielleicht sollten Sie lieber dankbar sein, dass Sie als junge Mutter einen krisensicheren Arbeitsplatz innehaben. Bewerben Sie sich doch langfristig initiativ. Die Arbeitgeber werden es Ihnen danken, wenn Sie ihren aktuellen Brötchengeber nicht fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Vertragsbruch wird von niemandem geschätzt.“
Nach einigen Sekunden entgeisterten Schweigens fragte Verena: „Sie bleiben also bei Ihrer Haltung?“
„Aber selbstverständlich.“, erwiderte Gesine Krysa.
„Ja, dann einen schönen Tag noch.“, erwiderte die Jugendreferentin und legte auf.
Am Abend traf sich der Kirchenchor, in dem auch die beiden Presbyter sangen. Da sie dicht beieinander wohnten, gingen sie oft zu Fuß dorthin, so auch an diesem Abend. Nur kamen sie nie dort an.
Man fand sie noch in der Nacht, jemand hatte sie auf der Straße, die durch den Wald führte, angefahren und mehrmals mit dem PKW überrollt. Ärztliche Hilfe kam für beide zu spät.

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Samstag, 18. Juni 2016
Unerhört - abgeschlossener Kurzkrimi
Nächste Woche würde Ingeborg die Klangschalentherapeutin einladen und dann könnten sie ja auch endlich mal den Ausflug zum Böckstiegel-Haus in Angriff nehmen. Endlich Schluss mit den ewigen Schnarch-Vorträgen von pensionierten Pfarrern bei Platenkuchen, Zitronenrolle und Filterkaffee. Seit zehn Jahren hatte sie immer wieder darauf gedrängt, dass die Frauenhilfe sich endlich neu erfinden müsse, wenn sie nicht schon bald untergehen wollte, wo sich selbst die Siebzigjährigen für das Angebot zu jung fühlten und lieber weiter zum Abendkreis gingen. Aber jeden von Ingeborgs Vorstößen in die richtige Richtung hatte Ursula blockiert. Als sie vorgeschlagen hatte, die Klangschalen-Therapeutin einzuladen, hatte Ursula genauso entschieden reagiert wie immer.
„So lange ich die Vorsitzende bin.“, hatte sie gesagt, „fangen wir mit so einem Tinnef gar nicht erst an. Schließlich sind wir die Frauenhilfe und keine Hippie-Kommune.“
Wegen der Blasenschwäche musste Ingeborg dringend zum Arzt. „Wenn man erst einmal siebzig ist“, dachte sie, „kommt man sich vor wie ein altes Auto, das ständig in die Werkstatt muss. Jetzt ist der Blutdruck wieder in Ordnung und die Schilddrüsenhormone richtig eingestellt, jetzt habe ich mit dieser ewigen Lauferei zum Klo zu tun und dann kommt kaum was. Ich kann doch jetzt noch nicht anfangen, Windeln zu tragen.“
Sie wusch sich die Hände und ging zurück in den Gemeindesaal. Wie zu erwarten, hatte sich ein großer Haufen Frauen um Ursula versammelt, doch Ingeborg trat mit dem Ausdruck größter Überraschung an die Menschentraube heran.
„Was ist denn hier auf einmal los?“, fragte sie.
„Ursula ist plötzlich zusammengebrochen.“, erklärte Hanna und blickte besorgt drein. „Ich habe schon den Notarzt alarmiert. Von diesen Handys habe ich ja nie viel gehalten, aber jetzt war es doch gut, dass ich eins hatte.“
„Die Ursula muss endlich einsehen, dass sie langsam kürzer treten muss.“, erklärte Ingeborg mit gespielter Besorgnis. „Man sieht ja, was passiert, wenn sie sich ständig übernimmt. Man muss einfach erkennen, wann die Zeit gekommen ist, Verantwortung abzugeben, aber da ist sie ja stur wie ein Esel.“
Entsetzt blickten die anderen Frauen sie an. Sie waren so erschüttert, dass keine einen Ton hervor brachte, aber alle waren schockiert, dass Ingeborg in diesem Moment Ursulas Leitungskompetenz infrage stellte. Plötzlich zusammenbrechen konnten auch junge Menschen, die noch eine lange, verantwortungsvolle Zeit vor sich hatten, jetzt waren doch erst einmal alle daran interessiert, ihrer Freundin und Vorsitzenden zu helfen, damit sie ihren Schwächeanfall möglichst unbeschadet überstand.
Diejenigen von ihnen, die noch am beweglichsten waren, waren damit beschäftigt, Ursula zu lagern, zu wärmen, ihre Hand zu halten und beruhigend auf sie einzureden. Hanna war zum Eingang gelaufen und nahm den Notarzt in Empfang.
Der untersuchte die Bewusstlose und stellte den umstehenden Frauen eine Menge Fragen. „Es sieht nach einem Zuckerschock aus. Ist sie Diabetikerin?“
Die Frauen bejahten seine Frage.
„Wissen Sie, was sie gegessen hat?“
„Den Diabetikerkuchen, nehme ich mal an.“, erwiderte Hanna.
„Nee“, mischte Helga sich ein. „Ich habe mich noch gewundert, warum Ursula die Erdbeerrolle auf dem Teller hatte, wo es doch für die Diabetiker heute den gedeckten Apfelkuchen gab. Ich wollte sie noch fragen, aber da kam Annegret und wir hatten uns länger nicht gesehen und erzählt und erzählt und auf einmal lag Ursula da.“
Der Notarzt gab Ursula ein Spritze, hatte auch schon einen Rettungswagen verständigt und überwachte nun soweit es ihm möglich war, ihre Vitalfunktionen.
Als der Rettungswagen eintraf, setzte er bereits den mobilen Defibrillator ein, doch auch das Rettungsteam konnte der alten Dame nicht mehr helfen.
Ingeborg brach der kalte Schweiß aus. Es war nur eine klitzekleine Lüge gewesen. Sie hatte nur beweisen wollen, wie hinfällig Ursula bereits war, dass man sich nicht mehr auf sie verlassen konnte. Nie im Leben hätte Ingeborg es für möglich gehalten, dass so ein bisschen Zucker so schwere Folgen nach sich ziehen konnte. Und welche Folgen das für sie selbst haben würde, konnte sie noch nicht absehen.

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Samstag, 18. Juni 2016
Zu späte Reue – abgeschlossener Kurzkrimi
Martin Beckmann war jemand, der immer da, wo es wirklich darauf ankam, überpünktlich war. Darum wunderte es seine engste Kollegin Johanna Husemann außerordentlich, dass er auch fünfzehn Minuten nach Beginn der Sitzung des kreissynodalen Finanzausschusses noch nicht anwesend war. Sicher stand er im Stau auf der Autobahn oder in der Gemeinde hatte ihn jemand aufgehalten, den er nicht abwimmeln konnte, was eher unwahrscheinlich war, weil er ein wahrer Meister darin war, lästigen Gemeindegliedern das Wort abzuschneiden und sich ihnen ohne nennenswerte Konsequenzen zu entziehen.
Er hatte das Zeug zum Superintendenten: Einen Blick für das Wesentliche, einen ausgeprägten Machtinstinkt, Wortgewandtheit, hinreichend profundes theologisches Fachwissen, um von seinen Kollegen respektiert und ernst genommen zu werden, ein selbstsicheres Auftreten und ein gewisses Fingerspitzengefühl für die Fallstricke diplomatischer Verwicklungen innerhalb des Kirchenkreises. Er konnte den richtigen Leuten nach dem Mund reden und mit den Unwichtigen hielt er sich einfach nicht auf.
Gerade heute ging es um die Erarbeitung eines Haushaltssanierungs-Konzeptes, innerhalb dessen die Personalkosten radikal reduziert würden: möglichst alle dem diakonischen Bereich zuzuordnenden Aufgaben (Kindertageseinrichtungen, Offene Jugendarbeit, Lebensberatung, Altentageseinrichtungen, Behindertenhilfe), die sich noch in kreiskirchlicher Trägerschaft befanden, sollten in die Diakonie ausgelagert werden, die nicht verpflichtet war, derartig horrenden Gehälter zu zahlen und auch überwiegend von Menschen geleitet wurde, die es verstanden, einen Wohlfahrtsverband unter wirtschaftlichen Aspekten erfolgreich in die Zukunft zu führen. Dass die Besoldung seiner Berufsgruppe - mit den mit Abstand höchsten Personalkosten - hauptursächlich für den bevorstehenden finanziellen Ruin der Evangelischen Kirche war, ignorierte er geflissentlich. Er sprach und agierte wie ein Top-Manager – und er predigte wie ein Fernsehmoderator, gab gefällige Standard-Worthülsen von sich, die auf den ersten Blick mutig, engagiert und kritisch daherkamen, aber wundersam den allgemeinen Durst nach ein bisschen Rebellion und Gegen-den-Strom-Schwimmen stillte, ohne wirklich anzuecken oder gar etwas zu riskieren.
Sein Sohn fand ihn auf dem Fußboden seines Arbeitszimmers. Neben seinem eingedrückten Schädel lag ein überdimensionales, schlichtes Granitkreuz, das sonst immer auf seinem Schreibtisch stand. Die Pathologen stellten später fest, dass zwischen dem Erleiden des Schädel-Hirn-Traumas und dem Eintritt des Todes ein bis zwei Stunden lagen. In diesem Zeitfenster, als also die Durchblutung des Körpers noch einwandfrei funktionierte, war nicht nur massenhaft Blut aus seiner Kopfwunde in den hellen Teppich gesickert, es waren auch furchtbare Hämatome im Genitalbereich entstanden, ausgelöst vermutlich durch brutale Tritte.
Nach umfassenden Zeugenbefragungen gelangte die Kriminalpolizei zu der Schlussfolgerung, der oder die Täter hätten unter großer emotionaler Anspannung gestanden, seien voller Hass auf das Opfer gewesen, der sich schließlich im Einschlagen des Schädels und im Eintreten auf das bereits am Boden liegende Opfer entladen hatte.
Beckmann hatte viele Feinde, und es lag auf der Hand, dass die Person, die diese Gewalttat verübt hatte, im beruflichen Umfeld des Opfers zu finden war. So saß eine Woche nach dem tödlichen Anschlag Annette Zöllner-Baltruweit im Verhörzimmer und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sie einknicken und das Tötungsdelikt gestehen würde.
„Fangen wir noch einmal von vorne an“, stöhnte der leitende Ermittler Stefan Keller. „Sie wollten als Leiterin der KiTa Rosengarten im Anstellungsbereich der Kirchengemeinde bleiben oder zumindest direkt beim Kirchkreis beschäftigt werden.“
„Ja das ist richtig.“, antwortete die blasse Sozialpädagogin, „und ich wusste auch, dass Pfarrer Beckmann uns alle in die Diakonie schieben wollte und dass nicht nur er das wollte. Aber das ist doch kein Grund, jemanden zu töten.“
„Wie sind Sie ins Haus gekommen?“
„Ich war es nicht.“
„Aber Sie waren im Haus.“
„Ja. Aber als ich in sein Arbeitszimmer kam, lag er bereits da.“
„Und warum haben Sie keinen Krankenwagen verständigt?“
„Weil es offensichtlich war, dass er nicht mehr lebte. Das Blut fing an zu trocknen, er atmete nicht, seine Augen waren starr.“
„So genau haben Sie ihn sich angesehen?“
„Ja, ich wollte ihm ja zuerst helfen, aber als ich gesehen habe, was passiert ist, hatte ich Angst, direkt in Verdacht zu geraten.“
„Warum? Ich denke, Sie halten es für absurd, wegen eines Trägerwechsels zu morden.“
„Das ist ja auch absurd. Aber es gibt ja auch noch andere Gründe, die man haben könnte.“
„Und der wäre in Ihrem Fall?“
„Er hat mit mir Schluss gemacht.“
„Sie hatten eine Affäre?“
„Allerdings.“
„Seit wann?“
„Seit zweieinhalb Jahren.“
„Wie hat er Schluss gemacht?“
„Er hat mich zum Essen eingeladen, wurde auf einmal sehr ernst und erklärte, dass er sich als künftiger Superintendent keine Fehler erlauben dürfe. Einem Gemeindepfarrer würde man so ein kleines Techtelmechtel mit der Kita-Leitung noch nachsehen, einem Superintendenten aber nicht. Ein kleines Techtelmechtel nannte er das. Sie hätten ihn mal hören sollen als es mit uns anfing: Schwüre und Rezitationen wie in der altpersischen Liebeslyrik. Und jetzt das. Ich kam mir vor wie ein ausgedientes Kleidungsstück.
„Und da wollten Sie ihn noch einmal zur Rede stellen?“
„Nein, ich war da wegen einer Unterschrift, nichts weiter.“
„Aber wie kamen Sie hinein?“
„Ich hatte noch einen Hausschlüssel. Den wollte ich ihm bei der Gelegenheit ebenfalls zurückgeben.“
„Hatten Sie keine Angst, seiner Ehefrau zu begegnen?“
„Nein, die war kurz vorher aus dem Haus gegangen, das hatte ich gesehen. Sie hatte ihre Schwimmtasche dabei, sie geht regelmäßig ins Hallenbad.“
Hier wurde Keller stutzig. Hatte er doch den Hinweis aus dem örtlichen Spaßbad erhalten, man habe im Mülleimer ein mit Blut bespritztes Kleid entdeckt. Er las die Details noch einmal nach: Leinen-Baumwoll-Gewebe, Hellrot, etwa Knielang und mit Dreiviertelarm, Größe 38. Er sah sich die Sozialpädagogin an. Sie machte nicht den Eindruck, dass sie in Größe 38 hineinpasste, auch nicht dass sie knielange Leinen-Kleider trug.
„Wissen Sie wo Frau Beckmann regelmäßig Schwimmen geht?“
„Im Ishara, glaube ich.“
Keller griff zum Telefon und kontaktierte seine Kollegin. „Kerkenbrock, können Sie sich für einen Außeneinsatz bereit machen?“
„Ja, sofort.“, antwortete die. „Warum? Was gibt’s Neues?“
„Ich denke wir müssen Frau Beckmann ins Präsidium holen.“

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Donnerstag, 16. Juni 2016
Tod im Bibeldorf – abgeschlossener Kurzkrimi
Im mit Kräuterbeeten geschmückten, gepflegten Vorgarten einer als altertümliches israelisches Wohnhaus verkleideten Fertiggarage befand sich neben der aus Altmetall gefertigten, lebensecht wirkenden Skulptur einer Ziege und einem Haufen Brennholz ein irritierender Fremdkörper, d.h., dass sich dort ein menschlicher Körper befand, war nicht weiter überraschend, nur die Position und der Zustand dieses Körpers wirkten in der inszenierten Idylle absurd. Statt emsig jätend in den Beeten zu hocken oder sich stehend im Garten umzusehen, lag die Person auf der feuchten Erde und ein Zyniker hätte sie als reichlich derangiert bezeichnet, denn der Kopf befand sich nicht mehr dort, wo er ursprünglich hingehörte. Zwischen ihm und dem Körper, von dem man ihn abgetrennt hatte, stand ein wettergegerbter Hauklotz, in dessen Mitte eine archaische, in Handarbeit gefertigte Axt steckte und der mit klebrigem, glänzendem, frischen Blut besudelt war, das allmählich begann zu gerinnen und dicke schwarze Fliegen anzulocken. Der Kopf selbst war auf die Seite gerollt, die gebrochenen Augen blickten den Betrachter an wie die Glasaugen einer Puppe und der halb geöffnete Mund ließ einen erstickten Schrei erahnen. Gelblich bleich war die Gesichtshaut, wo sie nicht vom dunklen, klebrigen Blut beschmiert war. Am absurdesten erschien jedoch die Tatsache, dass der Kopf im traditionellen Helm eines römischen Legionärs steckte, als hätte jemand ausprobiert, wie es sich auswirkt, wenn man in bester Asterix-und-Obelix-Manier die Römer schrubbt.
Von weitem näherte sich eine Gruppe Schüler, die vom leitenden Pfarrer, der das Projekt Bibeldorf ins Leben gerufen hatte, durch das Freilichtmuseum geführt wurde, während eine andere Schüler-Gruppe in Sichtweite, aber außer Hörweite am Feuer saß und verkleidet als Legionäre eine Mahlzeit auf altrömische Weise zubereitete.
„Ja und hier seht ihr, wie ganz normale Menschen im alten Israel gelebt haben. Oft hielten sie eine Ziege, um Milch zum Trinken und für die Herstellung von Käse zu haben. Wer von euch weiß denn, warum die Leute ausgerechnet Ziegen und nicht Schafe oder Kühe hielten?“
„Was liegt da?“, fragte ein Junge mit ausdruckslosem Gesicht.
Der Pfarrer trat näher an den Garten heran und fuhr heftig zusammen. Er brauchte ein bis zwei Sekunden, um zu erfassen, was und wen er da entdeckte und weitere zwei Sekunden, um zu entscheiden, was nun zu tun war. Er war weiß Gott ein energischer und belastbarer Typ, tatkräftig, effektiv, reaktionsschnell und problemlösungsorientiert, aber das hier überforderte sogar ihn im ersten Moment.
„Geht bitte sofort da drüben in das Gebäude!“, ordnete er in einem scharfen Ton an, der keinen Widerspruch duldete. Er sah sich nach Mitarbeitern um, die ihn unterstützen konnten und entdeckte eine junge Helferin.
„Pauline, kannst du mich bitte einen Augenblick vertreten und mit dieser Gruppe in die Synagoge gehen?“
„Kein Problem.“
Er rückte näher an sie heran und flüsterte: „Halte sie möglichst lange mit Geschichten über das jüdische Gemeindeleben auf und gehe dann mit ihnen ins Café. Hier ist etwas Schlimmes passiert, ich weiß nur noch nicht genau was, einige von den Kindern haben das, glaube ich, schon gesehen.“
„Was denn?“
„Jetzt nicht. Ich komme später wieder zu euch. Wenn jemand was erzählen will, sag ihm, er soll damit warten, bis ich zurück bin. Ich muss selbst erst einmal herausfinden, was hier eigentlich los ist.“
Der Pfarrer, selbst als römischer Centurio verkleidet, eilte zurück zum Fundort. Die Leiche lag unverändert da. Es handelte sich eindeutig um den Lehrer der Schulklasse, die gerade fröhlich am Feuer kochte. Er musste sich kurz sammeln, um für sich zu klären, welche Schritte jetzt notwendig waren und vor allem in welcher Reihenfolge. Er rief seinen Küster herbei, damit der den Fundort so abriegelte, dass niemand etwas sah und gleichzeitig keine Spuren vernichtet wurden. Dann informierte er die Kriminalpolizei. Den schwersten Gang hatte er noch vor sich: Er musste die Schüler des Opfers informieren.
Die Schulklasse war guter Dinge und ein paar besonders forsche Jugendliche begrüßten den Pfarrer mit „Ave, Centurio.“
„Salvete.“, erwiderte er tonlos, dann sagte er: „Hört mal, ich habe Euch etwas sehr Ernstes mitzuteilen und bitte Euch, dass ihr dazu einmal alle Platz nehmt und ruhig werdet.“
Obwohl die Klasse aus einer Truppe als besonders renitent geltender Jugendlicher bestand, wirkte seine natürliche Autorität auf sie, insbesondere nach ihren Erlebnissen in den letzten 24 Stunden. Sie hatten im Bibeldorf übernachtet, einen Gewaltmarsch in römischen Rüstungen unternommen und hatten sich, wenn auch nur im Rollenspiel, der straffen Disziplin des Soldatenlebens unterordnen müssen. Sie respektierten ihren „Centurio“ und gehorchten seinen Befehlen. Er verstand es eben, Menschen zu führen. Dass dies nach wie vor funktionierte, verlieh ihm Sicherheit: „Es ist etwas Furchtbares geschehen.“, erklärte er. „Euer Klassenlehrer lebt nicht mehr.“
„Was?“, rief ein Mädchen ungläubig. „Aber was ist denn passiert?“
„Das weiß ich nicht.“, erklärte der Pfarrer. „Aber wir haben ihn eben gefunden und es sieht so aus, als ob ihn jemand ermordet hat.“
Wie auf ein Stichwort drehten sich gleich mehrere Schüler zu Sascha um, ein Junge mit niedriger Frustrationstoleranz und hoher Gewaltbereitschaft, dem es oft misslang, seine Impulse zu steuern. Er hatte sich schon vor der Klassenfahrt in einem schweren Konflikt mit seinem Lehrer befunden, weil der ihn so streng benotete, dass er in diesem Jahr nicht in die zehnte Klasse versetzt werden würde – und er hatte in der Vergangenheit bereits die siebte wiederholt. Gestern waren sie ebenfalls mehrfach wegen Nichtigkeiten aneinandergeraten und der Lehrer hatte gedroht, ihn vorzeitig von der Klassenfahrt abholen zu lassen. Dann hatte er ihn dem Pfarrer übergeben, der ihn Extrarunden hatte marschieren lassen und Sascha hatte dem Lehrer hinterher gebrüllt: „Ich bring dich um, du Sau!“
Jetzt zitterte Saschas Unterlippe und er stammelte: „Aber aber, ich hab nichts gemacht. Echt nicht.“
Tobias war direkt nach der Konfirmation zum Bibeldorf-Team hinzu gestoßen. Er hatte so viele Ideen gehabt, war so voller Tatendrang gewesen, aber der Pfarrer hatte ihn immer zur Vorsicht gemahnt, hatte gemeint, Tobias solle es langsam angehen lassen, sich nicht zu viel zumuten. Am Anfang verstand er die pastoralen Bremsmanöver als Fürsorge, im weiteren Verlauf bekam er jedoch zunehmend den Eindruck, dass der Museumsleiter gar nicht wollte, dass er hier seine Fähigkeiten unter Beweis stellte und je älter er wurde, umso mehr beschlich ihn das Gefühl, dass der Pfarrer in jedem wirklich kompetenten und kreativen Kopf einen Konkurrenten sah. Er wollte allein der Tausendsassa sein, der auf allen Hochzeiten tanzen konnte und alle Fäden in der Hand hielt. Die Mitarbeiter waren sein Kirchenchor oder seine Modelliermasse mit deren Hilfe er sich selbst verwirklichte und sich profilierte und präsentierte. Tobias wollte nicht nur Lehm sein, Tobias wollte Schöpfer sein und nach immerhin acht Jahren treuer, fleißiger und ausdauernder Mitarbeit hatte er dem Pfarrer dies mitgeteilt. Und was hatte der geantwortet? „Das Bibeldorf leite immer noch ich. Wenn dir das nicht passt und du dich für so einen genialen Kopf hältst, bau doch dein eigenes Bibeldorf. Es gibt noch nicht viele Kirchenkreise, die so etwas vorweisen können, genau genommen keinen einzigen weiteren. Also viel Erfolg.“
Er hatte ihn vor die Tür gesetzt, einfach ausgebootet, nach allem, was er für das Projekt getan hatte, was er zum Gelingen des dauerhaften Betriebes beigetragen hatte. Aber noch war er hier und jetzt wollte er mal nach der Schulklasse sehen, die sich in eine römische Legion verwandelt hatte. Als er sich näherte, stellte er fest, dass in der Gruppe eine ziemliche Aufregung war. Ihr Lehrer stand vor ihnen und hatte ihnen sicherlich gerade von der Leiche im Vorgarten berichtet. Kein Wunder, dass die Jugendlichen ganz aus dem Häuschen waren und der Lehrer hatte sie natürlich nicht im Griff, war sicher selbst ganz durcheinander. Er trat an ihn heran: „Wenn Sie wollen, kann ich das hier auch übernehmen.“, erbot er sich, „Vielleicht sollten Sie sich einen Augenblick sammeln und den Schock verarbeiten. Ich kann in der Zwischenzeit die Gruppe seelsorgerlich begleiten“
„Das mache ich wohl besser selbst.“, antwortete der Lehrer mit einer schnarrenden, vertrauten Stimme und drehte sich um. Entsetzt blickte Tobias in das Gesicht des Pfarrers. „Aber wer“, dachte er, „ist dann die kopflose Leiche im Vorgarten?“

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