Donnerstag, 16. Juni 2016
Tod im Bibeldorf – abgeschlossener Kurzkrimi
Im mit Kräuterbeeten geschmückten, gepflegten Vorgarten einer als altertümliches israelisches Wohnhaus verkleideten Fertiggarage befand sich neben der aus Altmetall gefertigten, lebensecht wirkenden Skulptur einer Ziege und einem Haufen Brennholz ein irritierender Fremdkörper, d.h., dass sich dort ein menschlicher Körper befand, war nicht weiter überraschend, nur die Position und der Zustand dieses Körpers wirkten in der inszenierten Idylle absurd. Statt emsig jätend in den Beeten zu hocken oder sich stehend im Garten umzusehen, lag die Person auf der feuchten Erde und ein Zyniker hätte sie als reichlich derangiert bezeichnet, denn der Kopf befand sich nicht mehr dort, wo er ursprünglich hingehörte. Zwischen ihm und dem Körper, von dem man ihn abgetrennt hatte, stand ein wettergegerbter Hauklotz, in dessen Mitte eine archaische, in Handarbeit gefertigte Axt steckte und der mit klebrigem, glänzendem, frischen Blut besudelt war, das allmählich begann zu gerinnen und dicke schwarze Fliegen anzulocken. Der Kopf selbst war auf die Seite gerollt, die gebrochenen Augen blickten den Betrachter an wie die Glasaugen einer Puppe und der halb geöffnete Mund ließ einen erstickten Schrei erahnen. Gelblich bleich war die Gesichtshaut, wo sie nicht vom dunklen, klebrigen Blut beschmiert war. Am absurdesten erschien jedoch die Tatsache, dass der Kopf im traditionellen Helm eines römischen Legionärs steckte, als hätte jemand ausprobiert, wie es sich auswirkt, wenn man in bester Asterix-und-Obelix-Manier die Römer schrubbt.
Von weitem näherte sich eine Gruppe Schüler, die vom leitenden Pfarrer, der das Projekt Bibeldorf ins Leben gerufen hatte, durch das Freilichtmuseum geführt wurde, während eine andere Schüler-Gruppe in Sichtweite, aber außer Hörweite am Feuer saß und verkleidet als Legionäre eine Mahlzeit auf altrömische Weise zubereitete.
„Ja und hier seht ihr, wie ganz normale Menschen im alten Israel gelebt haben. Oft hielten sie eine Ziege, um Milch zum Trinken und für die Herstellung von Käse zu haben. Wer von euch weiß denn, warum die Leute ausgerechnet Ziegen und nicht Schafe oder Kühe hielten?“
„Was liegt da?“, fragte ein Junge mit ausdruckslosem Gesicht.
Der Pfarrer trat näher an den Garten heran und fuhr heftig zusammen. Er brauchte ein bis zwei Sekunden, um zu erfassen, was und wen er da entdeckte und weitere zwei Sekunden, um zu entscheiden, was nun zu tun war. Er war weiß Gott ein energischer und belastbarer Typ, tatkräftig, effektiv, reaktionsschnell und problemlösungsorientiert, aber das hier überforderte sogar ihn im ersten Moment.
„Geht bitte sofort da drüben in das Gebäude!“, ordnete er in einem scharfen Ton an, der keinen Widerspruch duldete. Er sah sich nach Mitarbeitern um, die ihn unterstützen konnten und entdeckte eine junge Helferin.
„Pauline, kannst du mich bitte einen Augenblick vertreten und mit dieser Gruppe in die Synagoge gehen?“
„Kein Problem.“
Er rückte näher an sie heran und flüsterte: „Halte sie möglichst lange mit Geschichten über das jüdische Gemeindeleben auf und gehe dann mit ihnen ins Café. Hier ist etwas Schlimmes passiert, ich weiß nur noch nicht genau was, einige von den Kindern haben das, glaube ich, schon gesehen.“
„Was denn?“
„Jetzt nicht. Ich komme später wieder zu euch. Wenn jemand was erzählen will, sag ihm, er soll damit warten, bis ich zurück bin. Ich muss selbst erst einmal herausfinden, was hier eigentlich los ist.“
Der Pfarrer, selbst als römischer Centurio verkleidet, eilte zurück zum Fundort. Die Leiche lag unverändert da. Es handelte sich eindeutig um den Lehrer der Schulklasse, die gerade fröhlich am Feuer kochte. Er musste sich kurz sammeln, um für sich zu klären, welche Schritte jetzt notwendig waren und vor allem in welcher Reihenfolge. Er rief seinen Küster herbei, damit der den Fundort so abriegelte, dass niemand etwas sah und gleichzeitig keine Spuren vernichtet wurden. Dann informierte er die Kriminalpolizei. Den schwersten Gang hatte er noch vor sich: Er musste die Schüler des Opfers informieren.
Die Schulklasse war guter Dinge und ein paar besonders forsche Jugendliche begrüßten den Pfarrer mit „Ave, Centurio.“
„Salvete.“, erwiderte er tonlos, dann sagte er: „Hört mal, ich habe Euch etwas sehr Ernstes mitzuteilen und bitte Euch, dass ihr dazu einmal alle Platz nehmt und ruhig werdet.“
Obwohl die Klasse aus einer Truppe als besonders renitent geltender Jugendlicher bestand, wirkte seine natürliche Autorität auf sie, insbesondere nach ihren Erlebnissen in den letzten 24 Stunden. Sie hatten im Bibeldorf übernachtet, einen Gewaltmarsch in römischen Rüstungen unternommen und hatten sich, wenn auch nur im Rollenspiel, der straffen Disziplin des Soldatenlebens unterordnen müssen. Sie respektierten ihren „Centurio“ und gehorchten seinen Befehlen. Er verstand es eben, Menschen zu führen. Dass dies nach wie vor funktionierte, verlieh ihm Sicherheit: „Es ist etwas Furchtbares geschehen.“, erklärte er. „Euer Klassenlehrer lebt nicht mehr.“
„Was?“, rief ein Mädchen ungläubig. „Aber was ist denn passiert?“
„Das weiß ich nicht.“, erklärte der Pfarrer. „Aber wir haben ihn eben gefunden und es sieht so aus, als ob ihn jemand ermordet hat.“
Wie auf ein Stichwort drehten sich gleich mehrere Schüler zu Sascha um, ein Junge mit niedriger Frustrationstoleranz und hoher Gewaltbereitschaft, dem es oft misslang, seine Impulse zu steuern. Er hatte sich schon vor der Klassenfahrt in einem schweren Konflikt mit seinem Lehrer befunden, weil der ihn so streng benotete, dass er in diesem Jahr nicht in die zehnte Klasse versetzt werden würde – und er hatte in der Vergangenheit bereits die siebte wiederholt. Gestern waren sie ebenfalls mehrfach wegen Nichtigkeiten aneinandergeraten und der Lehrer hatte gedroht, ihn vorzeitig von der Klassenfahrt abholen zu lassen. Dann hatte er ihn dem Pfarrer übergeben, der ihn Extrarunden hatte marschieren lassen und Sascha hatte dem Lehrer hinterher gebrüllt: „Ich bring dich um, du Sau!“
Jetzt zitterte Saschas Unterlippe und er stammelte: „Aber aber, ich hab nichts gemacht. Echt nicht.“
Tobias war direkt nach der Konfirmation zum Bibeldorf-Team hinzu gestoßen. Er hatte so viele Ideen gehabt, war so voller Tatendrang gewesen, aber der Pfarrer hatte ihn immer zur Vorsicht gemahnt, hatte gemeint, Tobias solle es langsam angehen lassen, sich nicht zu viel zumuten. Am Anfang verstand er die pastoralen Bremsmanöver als Fürsorge, im weiteren Verlauf bekam er jedoch zunehmend den Eindruck, dass der Museumsleiter gar nicht wollte, dass er hier seine Fähigkeiten unter Beweis stellte und je älter er wurde, umso mehr beschlich ihn das Gefühl, dass der Pfarrer in jedem wirklich kompetenten und kreativen Kopf einen Konkurrenten sah. Er wollte allein der Tausendsassa sein, der auf allen Hochzeiten tanzen konnte und alle Fäden in der Hand hielt. Die Mitarbeiter waren sein Kirchenchor oder seine Modelliermasse mit deren Hilfe er sich selbst verwirklichte und sich profilierte und präsentierte. Tobias wollte nicht nur Lehm sein, Tobias wollte Schöpfer sein und nach immerhin acht Jahren treuer, fleißiger und ausdauernder Mitarbeit hatte er dem Pfarrer dies mitgeteilt. Und was hatte der geantwortet? „Das Bibeldorf leite immer noch ich. Wenn dir das nicht passt und du dich für so einen genialen Kopf hältst, bau doch dein eigenes Bibeldorf. Es gibt noch nicht viele Kirchenkreise, die so etwas vorweisen können, genau genommen keinen einzigen weiteren. Also viel Erfolg.“
Er hatte ihn vor die Tür gesetzt, einfach ausgebootet, nach allem, was er für das Projekt getan hatte, was er zum Gelingen des dauerhaften Betriebes beigetragen hatte. Aber noch war er hier und jetzt wollte er mal nach der Schulklasse sehen, die sich in eine römische Legion verwandelt hatte. Als er sich näherte, stellte er fest, dass in der Gruppe eine ziemliche Aufregung war. Ihr Lehrer stand vor ihnen und hatte ihnen sicherlich gerade von der Leiche im Vorgarten berichtet. Kein Wunder, dass die Jugendlichen ganz aus dem Häuschen waren und der Lehrer hatte sie natürlich nicht im Griff, war sicher selbst ganz durcheinander. Er trat an ihn heran: „Wenn Sie wollen, kann ich das hier auch übernehmen.“, erbot er sich, „Vielleicht sollten Sie sich einen Augenblick sammeln und den Schock verarbeiten. Ich kann in der Zwischenzeit die Gruppe seelsorgerlich begleiten“
„Das mache ich wohl besser selbst.“, antwortete der Lehrer mit einer schnarrenden, vertrauten Stimme und drehte sich um. Entsetzt blickte Tobias in das Gesicht des Pfarrers. „Aber wer“, dachte er, „ist dann die kopflose Leiche im Vorgarten?“

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Mittwoch, 15. Juni 2016
Bloggershot – abgeschlossener Kurzkrimi
Sabine Kerkenbrock schlenderte zufrieden über den Platz der Matthäuskirche. Obwohl sie kirchlich sozialisiert war und schon seit drei Jahren hier wohnte, nahm sie mit dem Besuch des Sommerfestes zum ersten Mal an einer hiesigen Gemeindeveranstaltung teil. Dabei war es eine Gemeinde ganz nach ihrem Geschmack: politisch engagiert, fortschrittlich, betont menschlich, pragmatisch, offen und freundlich. Es war ein buntes Fest mit vielen Ständen zum Mitmachen, raffinierten kulinarischen Angeboten und kulturellen Darbietungen.
„Endlich mal ein langes, freies Wochenende bei bestem Sommerwetter.“, dachte die junge Kriminalkommissarin und genehmigte sich gerade einen alkoholfreien Cocktail, als eine Welle entsetzter Schreie und Rufe zu ihr hinüber schwappte.
„Was ist da los?“, fragte sie einen ihr entgegen eilenden, kreidebleichen jungen Mann.
„Ein Unfall!“, keuchte er. „Jemand ist durch die Absperrung am Bogenschießstand gestürzt und von einem Pfeil getroffen worden. Ich suche gerade Doktor Täubner.“
Langsam näherte die Kommissarin sich der Unfallstelle. Wo sie nun schon einmal da war, konnte sie auch gleich überprüfen, ob es hier tatsächlich nichts für sie und ihre Kollegen von der Mordkommission zu tun gab. Da sie zufällig ihren Dienstausweis in der Handtasche trug, drang sie mit seiner Hilfe zum Zentrum des Entsetzens vor. Sie sprach die Pfarrerin an, die von allen Anwesenden sicher am besten wusste, um wen es sich handelte und was sich da gerade abgespielt hatte. Sie stellte sich vor und fragte: „Kennen Sie das Unfallopfer?“
„Ja, natürlich. Das ist Carsten Lehmann. Der spielt im Posaunenchor. Ein netter, zurückhaltender junger Mann.“
„Wie genau ist das denn passiert?“
„Fragen Sie doch mal unseren Jugendmitarbeiter, Herrn Renyard. Der hat alles mit angesehen. - Simon, hier ist eine Dame von der Polizei. Kannst Du ihr bitte mal genau erzählen, was da eben passiert ist?“
Der Jugendreferent war noch sehr jung, blonde Dreadlocks standen wild von seinem Kopf ab, Nase und Augenbrauen waren mit Piercings geschmückt und zur dreiviertellangen Cargo-Hose trug er ein T-Shirt der Evangelischen Jugend. Er zitterte und antwortete:
„So genau weiß ich das ehrlich gesagt auch nicht. Gerade eben hat einer von den Jungs geschossen und auf einmal fiel Carsten in die Schusslinie. Ich verstehe das nicht, der war nicht betrunken und auch kein Kandidat für schwachen Kreislauf.“
Kerkenbrock sah sich den Verletzten aus der Nähe an, soweit das möglich war, denn der Arzt kniete schon über ihm, flüsterte aber schließlich: „Dem kann niemand mehr helfen. Einen Rettungswagen brauchen wir nicht mehr.“
Als der Arzt zurück trat, entdeckte Kerkenbrock auf dem Rücken des Opfers einen eindeutigen Hinweis, dass es sich hier höchstwahrscheinlich um ein Tötungsdelikt handelte: Auf dem hellen Oberhemd zeichnete sich im Rückenbereich der schmutzige Abdruck einer Hand ab.
„Er ist gestoßen worden.“, stellte sie an die Pfarrerin gewandt fest. „Könnten Sie bitte dafür sorgen, dass diese Nachricht möglichst nicht verbreitet wird? Sagen Sie einfach, Herr Lehmann sei verletzt worden, man habe ihn in die Ambulanz gebracht und er sei auf dem Weg der Besserung und er habe sich gewünscht, dass das Fest wie geplant weiter gehe. Ich vermute, es wird leichter für mich und meine Kollegen, wenn alle ganz entspannt ihren Geschäften nachgehen.“
In Godehard Sandjohanns Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Wann würde die Polizistin entdecken, dass seine Hände schwarz von der Grillkohle waren? Wann würde jemand damit heraus platzen, dass Carsten sich immer über ihn und seine Texte lustig gemacht hatte? Bei seinen Lesungen hatte er immer kopfschüttelnd mit einem überlegenem Grinsen in der letzten Reihe gesessen, statt einfach zu Hause zu bleiben und sich an der riesigen Menge der Follower seines Blogs hochzuziehen. Warum musste er heute hier auftauchen, wo er doch jedem, der es nicht wissen wollte, erzählt hatte, er hätte keine Zeit, zum Gemeindefest zu kommen, weil er an einem Poetry-Slam teilnehme. Hatte er ihm etwa eine Falle gestellt? Hatte er damit gerechnet, dass Godehard sich bei seinen Texten bedienen würde? So gut waren sie nun auch wieder nicht, nur dieser eine eben, der hatte sich so gut in die Kette seiner Gedanken eingefügt. Aber er hätte ihn unweigerlich erkannt. Und dann hätte er ihn bloßgestellt. Jetzt würde er wie geplant gar nichts mitbekommen von der Lesung und somit auch niemandem offenbaren, dass der Text, dem man zum Abschluss des Festes lauschen konnte, zum Teil aus seiner Feder und nicht aus der Godehard Sandjohanns stammte. Er konnte auch unmöglich bemerkt haben, wer ihm den Stoß versetzt hatte. Langsam beruhigte sich Godehard und nahm einen tiefen Zug aus seinem Bierglas.
Was Godehard nicht ahnte: Einer der begeistertsten Follower von Carsten Lehmanns Blog, der mit dem Künstlernamen „Herr Berger“ agierte, wie er auch von vielen Freunden und Bekannten genannt wurde, war hier auf dem Fest: Sabine Kerkenbrock.

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Dienstag, 14. Juni 2016
Mörderische Jugendkirche – abgeschlossener Kurzkrimi
Er rang nach Luft, als er in die Jugendkirche stolperte. Sprechen konnte er nicht mehr, dann stürzte er vornüber zu Boden. Ein Springmesser steckte zwischen Schulterblatt und Wirbelsäule und sein Blut hatte auf dem hellblauen T-Shirt schon einen gewaltigen Fleck hinterlassen.
„Maurice!“, schrie Sandra auf, nachdem sie ihn erkannt hatte; hielt sie ihn doch zunächst im Halbdunkel des Eingangsbereichs für einen betrunkenen Obdachlosen, wie sie häufiger in Hoffnung auf ein heimliches Schlafplätzchen in der in der Bielefelder Innenstadt gelegenen Jugendkirche aufkreuzten. Eigentlich hatte sie in einer Viertelstunde Feierabend machen und die Kirche schließen wollen. Nun eilte sie zu dem Schwerverletzten, setzte einen Notruf ab und redete dann ununterbrochen auf ihn ein. Zum Glück dauerte es wegen der Innenstadtlage bei ruhiger gewordenem Verkehr nur fünf Minuten bis der Krankenwagen eintraf. Die Polizei war ebenfalls zur Stelle und nahm die Aussage der Jugendreferentin auf. Maurice sei ein freundlicher und äußerst beliebter Jugendlicher, erklärte sie. Ihr seien keine Konflikte mit anderen Jugendlichen bekannt. In der Evangelischen Jugend käme es eigentlich auch nicht vor, dass Auseinandersetzungen gewaltsam geführt würden.
Durch einen hellen Tunnel ging er auf ein grelles Licht zu, das ihn aber seltsamerweise nicht schmerzte und blendete, sondern gleichzeitig magisch anzog und warm und weich einhüllte. Doch hinter sich hörte er eine Stimme: „Maurice, komm zurück!“. Es war Jules Stimme. Er wollte weitergehen, aber sein Gewissen war stärker, denn Jule klang so verzweifelt, sie brauchte seine Hilfe und er wusste, dass das Licht auf ihn warten würde, er könnte jederzeit dorthin zurückkehren.
Allerdings war die Richtung, aus der er kam, wenig attraktiv. Der Tunnel wirkte schmutzig grau und in der Ferne sah er sich selbst liegen, niedergestochen und aus der Schulter blutend. Doch von weiter hinten wedelte Jule aufgeregt mit den Armen. Jemand hielt sie an der Hüfte fest. Je näher er kam, umso deutlicher erkannte er, dass Jule zu ihm laufen wollte, aber nicht konnte, weil die Gestalt sie festhielt. An den Tunnelwänden blitzten überall Bilder wie bewegliche Werbetafeln auf: Jule am Baggersee, seine rasante Tour auf der Sommerrodelbahn während der Klassenfahrt in der Achten, der mittlerweile verstorbene Familienhund Floppy, das Baumhaus im Garten seiner Großeltern, mit Jule im Rohbau eines riesigen Wohngebäudes, während draußen ein Gewitter wütete, viele Freunde und bekannte Gesichter, zu denen ihm die Namen gerade nicht einfielen.
Jule war jetzt fast zum Greifen nah, da tauchte neben ihrem Kopf das Gesicht des Typen auf, der sie festhielt: Tillmann. Er sah ganz anders aus als sonst: Die Augen mehr schwarz als blau, der Mund verzerrt, die Nasenflügel bebten und an seinem sonst so glatten, blassen Hals wurden Sehnen und Adern sichtbar.
„Maurice, hörst du mich?“, rief eine sanfte weibliche Stimme. Das war nicht Jule, das war seine Mutter. Er schlug kurz die Augen auf. Er konnte sie erkennen. Sie strich ihm sanft durchs Haar. „Mama.“, sagte er leise, dann glitt er zurück in die Dunkelheit.
Als er das nächste Mal erwachte, hörte er eine brüchige Stimme sagen: „…jetzt muss ich es auch zu Ende bringen.“
Er schlug die Augen auf. Vor seinem Bett stand sein Kumpel Tillmann.
„Hi.“, krächzte er.
„Hi.“, antwortete Tillmann, nachdem er kurz zusammengezuckt war.
„Was musst du zu Ende bringen?“, fragte Maurice.
„Nichts.“, sagte Tillmann und zitterte. Er blickte ängstlich in Maurices müde Augen. Er war ja von hinten gekommen, Maurice hatte ihn nicht bemerkt. Sicher wusste er nicht, wer ihm das Messer in den Rücken gerammt hatte, zumal niemand es Tillmann zuordnen konnte, denn er hatte es gefunden. Gut, er hatte Fingerabdrücke am Griff hinterlassen, aber wer würde schon auf die Idee kommen, ausgerechnet seine Abdrücke mit denen auf dem Messer abzugleichen? Er hatte seine Begehrlichkeiten in Bezug auf Jule stets geheimgehalten. Wenn er jetzt einen kühlen Kopf bewahrte, drohten ihm keine Konsequenzen. Er würde genau wie vorher mit Maurice und Jule in der Band spielen, zusammen auf die Sommerfreizeit fahren, sich mit ihnen im offenen Café treffen und am Wochenende durch die Clubs ziehen. Er würde eben noch eine Weile warten, bis Jule von selbst merkte, dass kein hübscher Kopf auf einem durchtrainierten Körper bei durchschnittlicher Intelligenz auf Dauer hielt, was er versprach. Sie war klug, sie würde sich für den Klügeren entscheiden. Das Leben selbst würde es für ihn zu Ende bringen und er bekam eine zweite Chance. Darum entschloss er sich, Maurice weiterhin treue Freundschaft vorzuheucheln. Er erkundigte sich nach seinem Befinden, ermahnte ihn, sich zu schonen und berichtete, was sich am Vormittag alles in der Schule ereignet hatte. Dann erklärte er, er wolle Maurice nicht überstrapazieren, er käme am nächsten Tag wieder.
Als Tillmann gegangen war, spürte Maurice Eiseskälte in sich hochkriechen. Er wusste nicht, warum er es wusste, aber er war sich absolut sicher. Als seine Mutter sein Zimmer betrat, sagte er: „Mama, ich will mit der Polizei reden. Ich glaube, ich weiß, wer versucht hat, mich umzubringen.“

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Montag, 13. Juni 2016
Sommerkonzert – abgeschlossener Kurzkrimi
Gisela war die Erste, sonst waren nur die Starken und Emsigen vom Obst- und Gartenbau-Verein angerückt, die die Bierzeltgarnituren in Hagedorns Eichen aufbauten sowie den Verköstigungs-Pavillon mit Grill, Getränke-Kühlbox und Bierfass, denn nach Kaffee und Kuchen, für den der Frauenchor sorgte, sollte es einen zünftigen Ausklang geben.
Die Tradition des Sommerkonzerts in Hagedorns Eichen bestand erst seit etwa zehn Jahren, aber alle Beteiligten hatten das Gefühl, es sei schon ihr Leben lang so gewesen. Aus der Kirchengemeinde wirkten neben dem Frauenchor, dem Gisela angehörte, der Posaunenchor und der Kinderchor mit und in diesem Jahr zum ersten Mal der Gospelchor. Dazu kamen der Männer-Gesangsverein die Feuerwehr-Kapelle und der gemischte Kirchenchor aus dem Nachbarort. Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einer Andacht des Pfarrers und einem Lied des Frauenchores. Danach ging es bei Kaffee und Kuchen weiter.
Gisela hatte ihre traditionelle Friesen-Torte gebacken und sechs Kannen Kaffee gekocht. DA kam auch schon Ursula mit ihrem schlichten Gugelhupf. Die frau hatte wirklich nicht einen Funken Ehrgeiz. Karin kam endlich mit den Papier-Tischdecken, sie hatte auch Servietten, Kaffeebecher, Pappteller und Plastik-Gabeln dabei – und die neumodischen Fanta-Schnitten, die Gisela aus tiefster Seele verachtete. In null Komma nichts war das Buffet aufgebaut, die Torte geschnitten und der Blumenschmuck aus diversen Gärten auf den Tischen verteilt – hier hatten sich die Damen vom Obst- und Gartenbauverein nicht lumpen lassen.
Nun kam es zum akustischen Super-GAU, denn alle Chöre sangen sich gleichzeitig ein, nur die Bläser hatten sich auf den nahegelegenen Schulhof verzogen, um nicht alle anderen zu übertönen.
Es war bereits 14.30 Uhr, als alle mit den Füßen scharrten, weil der Pfarrer noch nicht da war. Das war umso verwunderlicher, weil er grundsätzlich dazu neigte, eine halbe Stunde früher da zu sein.
„Vielleicht hat er sich den Fuß verknackst.“, mutmaßte Luise. „Er kommt doch meistens zu Fuß in die Eichen.“
„Wo geht er denn dann lang?“, fragte Hannelore.
„Sein Auto stand eben noch beim Friedhof. Wenn er von da aus zu Fuß losgegangen ist, ist er bestimmt am Sportplatz vorbei gegangen. Vielleicht ist er aufm Feldweg umgeknickt. Sollte vielleicht mal einer losfahren und suchen.“
Während Sigrid den vermeintlichen Fußweg des Pfarrers abfuhr, ging Edeltraud noch einmal tiefer in das Eichenwäldchen, um im Unterholz frische Holunderblüten für die Bowle zu sammeln, die sie für den späten Nachmittag angesetzt hatte. Sie steuerte gerade auf ein paar besonders üppige Dolden zu, als sie an der Peripherie ihres Gesichtsfelds einen Schatten wahrnahm, der nicht so recht ins Bild passen wollte. Sie wandte sich dem Schatten zu und erstarrte augenblicklich. So ein grauenvoller Anblick hatte sich ihr nie zuvor geboten: Vor einer Eiche stand der Pfarrer mit gespaltenem Schädel. Die Axt, die jemand mit mächtiger Wucht in seinen Kopf getrieben hatte, steckte in dem Baum, an dem er lehnte. Eins der toten Augen starrte sie erbarmungslos an und das Blut aus der klaffenden Kopfwunde war den Hals hinab bis zum Kragen gesickert und hatte das sonst blütenweiße Beffchen dunkelrot gefärbt. Es sah absurd aus, wie der Talar-Träger da so barbarisch an den Baum genagelt worden war, unwirklich, wie eine Szene aus dem Mittelalter. Und warum trug er überhaupt sein Amts-Gewand? Er sollte doch nur eine Andacht halten, keinen Gottesdienst. War er in der Robe durch den Ort geschlendert oder hatte er sich etwas hier im Wald umgezogen?
Gisela hörte Edeltrauds Schreie zuerst und setzte sich augenblicklich in Bewegung, um ihr zur Hilfe zu eilen, kurz darauf stimmte sie mit ein und nach und nach kamen mehr Mutige, die alle aufgeregt durcheinanderschrien.
„Einer muss die Polizei rufen.“, sagte Gisela schließlich, nachdem sie sich einigermaßen gefasst hatte. „Buhrmesters Herbert hat doch so ’n Handy.“
Edeltraud, froh darüber, einen guten Grund zu haben, dem Ort des Grauens zu entkommen, leif zum Festplatz zurück, um Herbert zu suchen.
Von der anderen Seite näherte sich die dicke Frieda der entsetzten Gruppe. Im altmodischen Sonntagsstaat, mit blitzsauberer, weißer Bluse, dunkelblauem Faltenrock und polierten Schuhen kam sie mit einem fröhlichen Lachen näher. Frieda nahm keiner im Dorf so richtig ernst. Sie war nicht nur über die Maßen dick, so dass die Fahrradreifen auch dann platt wirkten, wenn sie stramm aufgepumpt waren und Frieda auf dem Sattel saß; sie war auch seltsam, war unverheiratet geblieben, sammelte Wildkräuter und alte Füllfederhalter, war abergläubisch und auch sonst irgendwie nicht von dieser Welt.
Als sie bei der Gruppe angekommen war, strahlte sie immer noch.
„Tach.“, sagte sie. „Seid ihr noch nicht angefangen?“
„Frieda!“, rief Gisela. „Hast du keine Augen im Kopf? Du siehst doch, dass einer unseren Pastor erschlagen hat!“
„Wurde ja auch Zeit.“, erwiderte Frieda ungerührt. Alle starrten sie entsetzt an.
„Der hat mir heute zum letzten Mal aufgelauert.“, fuhr sie triumphierend fort. „Der alte Schwarzkittel. Ich dachte ja, der macht das nicht mehr. Als ich groß wurde, hat er irgendwann damit aufgehört. Aber eben, als ich noch ein paar dicke Zweige für meine Bodenvase schlagen wollte, stand er da. Und er hat genauso gegrinst wie damals. Und ich dachte noch, gleich packt er mich wieder. Aber dann hab ich gedacht, du packst mich nicht mehr, du schwarzer Teufel. Und da hab ich ihm eine verpasst. Nur eine. Ein schwarzer Teufel auf einen Streich. Hat mächtig gespritzt. Den Kittel kann ich wegschmeißen, das geht nicht mehr raus. Aber der spritzt nicht mehr. Der hat ausgespritzt.“
Der unschuldige Pfarrer, der sich einen Spaß daraus machen wollte, die kurze Andacht in voller Amtstracht zu halten – ein effektvoller Aufhänger, der sich auf den Inhalt dessen bezog, was er sagen wollte - hatte ahnungslos die grauenvollen Bilder der Taten eines seiner Vorgänger heraufbeschworen und endete an einer Eiche. Friedas Leben, von eben diesem Vorgänger beschmutzt und zerstört, endete in der Psychiatrie. Und die Tradition des Sommerkonzertes, die eigentlich erst vor kurzem begonnen hatte, endete an diesem blutigen Sonntagnachmittag.

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