Freitag, 10. Juni 2016
Pilzmörder - Kurzkrimi in vier Teilen – Teil I
Die Fliegen schwirrten durch den Raum und das grauenvolle Surren bot den perfekten Soundtrack zu dem erschütternden Anblick, der sich Kriminalhauptkommissar Stefan Keller und seiner Kollegin Sabine Kerkenbrock bot. Das Opfer lag zwischen dem Couchtisch und seiner blutgetränkten Wohnlandschaft, der Hals war mit einer braunen Kruste geronnenen Blutes bedeckt und an der klaffenden Wunde weideten sich die Maden, aus denen sich in Kürze die nächsten fetten, schwarzen Fliegen entwickeln würden. Der Geruch war bestialisch, selbst bei geöffnetem Fenster. Ausgerechnet zu der Zeit, zu der die Ehefrau des Opfers und die beiden Kinder zur Mutter-Kind-Kur verreist waren, hatte der Täter zugeschlagen, darum hatte es auch mehrere Tage gedauert, bis die Nachbarin, zu der die alarmierte Ehefrau Kontakt aufgenommen hatte, bei einem Kontrollbesuch die Leiche entdeckte. Sie hatte die Polizei informiert und wurde noch immer vom Notfallseelsorger betreut.
Die Gerichtsmedizinerin Konstanze Flegel blickte sich zu den leitenden Ermittlern um und erklärte: „Die vermeintliche Tatwaffe haben wir bereits sichergestellt: Ein handelsübliches Pilzmesser. Dem Opfer wurden damit die Halsschlagader und die Hauptarterie im Oberschenkel durchtrennt. Was mich irritiert, ist die Tatsache, dass es überhaupt keine Kampfspuren zu geben scheint, als hätten Opfer und Täter sich zu einem Schlachtungsritual verabredet.“
„Könnte er nicht einfach nur ahnungslos und derartig überrascht gewesen sein, dass er gar nicht mehr dazu kam, Widerstand zu leisten?“, fragte Sabine Kerkenbrock.
„Unwahrscheinlich“, erwiderte Flegel. „So überrascht kann man gar nicht sein, zu irgendeiner Art von Widerstand treiben einen die Instinkte. Es sei denn, man ist nicht bei Bewusstsein. Offensichtlich haben Opfer und Täter zusammen etwas getrunken. Wir überprüfen die Gläser im Labor auf Barbiturate und Nervengifte.“
„Weiß die Nachbarin, wem das Pilzmesser gehört?“
„Tatsächlich glaubt sie das zu wissen. Sie sagt, es gehöre dem amtierenden Presbyter für Kirchenmusik, Hartmut Meissner, er sei ein passionierte Pilzsammler, halte auch gelegentlich Vorträge über Speisepilze und seine Initialen befinden sich auf dem Messer.“
„Oh, eine Bilderbuchermittlung mit dem Mörder auf dem Silbertablett.“ Bemerkte Keller ironisch. „Hat sie auch schon eine Hypothese bezüglich des Motivs?“
„Da müssen Sie die Kollegen fragen, die den Fall aufgenommen haben. Stehen da drüben.“
„Die Nachbarin, Frau Otterpohl hat ausgesagt, dass Sebastian Krämer, also das Opfer, für das Presbyterium kandidieren wollte und sich einer großen Fangemeinde erfreute, weil er die moderne Kirchenmusik nach vorne bringen wollte, darauf warten schon eine Menge Leute. Hartmut Meissner ist der amtierende Presbyter mit diesem Schwerpunkt und muss befürchten, nicht wiedergewählt zu werden, denn er ist nicht sonderlich beliebt, erregt viel Widerspruch und schützt den klassischen Kirchenchor und die traditionelle Posaunenarbeit gegenüber Initiativen wie Gospelchor oder Band. Frau Otterpohl meinte, er klebe an seinem Amt und bisher wurde er immer wieder gewählt, weil es nie mehr Kandidaten als Posten gab. Mit Krämers Kandidatur hätte sich das geändert. Aber ich kann mir, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, kaum vorstellen, dass man bereit ist für ein Ehrenamt einen Mord zu begehen.“
„Es gibt vieles, das wir uns nicht vorstellen können, wofür Menschen einen Mord begehen.“, erwiderte Keller trocken. „Dieser Meissner ist erst mal dringend tatverdächtig. Haben Sie die Adresse?“
Gewissenhaft hatte der aufstrebende, junge Beamte die Anschrift des Verdächtigen notiert.
„Bin gespannt, auf was für einen Kirchenkauz wir diesmal treffen, Kerkenbrock .Glauben Sie immer noch, dass Christen seltener morden als normale Menschen?“
„Christen sind normale Menschen und wer weiß, vielleicht hat unser Tatverdächtiger ja ein Alibi und wir müssen etwas tiefer schürfen.“
„In diesem Fall hätte ich ausnahmsweise mal nichts gegen Oberflächlichkeit.“, erwiderte Keller. „Kommen Sie, Kerkenbrock, bringen wir es hinter uns.“
FORTSETZUNG FOLGT

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Mittwoch, 8. Juni 2016
Angekommen
Endlich ist es so weit. Ich darf auf die Kanzel, zum ersten Mal der Gemeinde die Leviten lesen. Ich bin gut vorbereitet, ein toller Predigttext aus der Bergpredigt: Vom Tun des göttlichen Willens, Matthäus 7. Ich blicke auf meine Spiegelstriche, halte mich daran fest, erzähle zum Einstieg von dem biologischen Phänomen der Fischlarven, die lieber Mikroplastik fressen und daran zugrunde gehen, als nahrhaftes Plankton zu sich zu nehmen; von den Menschen, die lieber Junk-Food essen, als Vollwertkost und ihrem Körper damit nicht wieder gut zu Machendes antun und von Menschen, die ihr Seelenheil aufs Spiel setzen, weil sie lieber durch die bequeme, breite Pforte gehen, statt durch die enge, die für das moralisch Richtige, oft Mühsamere steht. Und dann brauche ich meine Spiegelstriche nicht mehr, denn es sprudelt geradezu aus mir heraus: „So weiß ich zum Beispiel, dass Pfarrer Christoph Grote, der mein Mentor ist, als verheirateter Familienvater nicht als mein Liebhaber in Frage kommt. Ich hätte ihn verführen können, wenn ich gewollt hätte, oh ja. Ich kenne diese Blicke, die ältere, künftige Kollegen auf ihre Praktikantinnen und Vikarinnen werfen. Ihre Worte weisen sie als anständige, zurückhaltende Männer aus, aber ihre Blicke verraten ihre tatsächlichen Absichten. Christoph Grote hätte nichts gegen eine kleine Affäre mit seiner Vikarin und ich finde diese Vorstellung auch durchaus reizvoll, aber das wäre der Weg durch die weite Pforte, der leichte und lustvolle, aber eben der falsche.“
Ich bin jetzt richtig in Fahrt, doch seltsamerweise spüre ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Ist es die Hand Gottes, die mir Mut macht, weiter zu sprechen? Ich sehe mich um und blicke in das Gesicht von Irmgard Lehmann, der Diakonie-Presbyterin. Was tut sie bei mir auf der Kanzel? Sie spricht mich an: „Kommen Sie, Frau Fink, Sie haben das gut gemacht, aber jetzt kümmern wir uns um Sie, kommen Sie.“
„Aber ich bin noch nicht fertig!“
„Doch. Sie haben alles Wesentliche gesagt. Das haben Sie gut gemacht.“
Alles wirkt so unwirklich. Die Leute in den Bänken sehen mich so seltsam an, ich kann gar nicht sagen wie, so hat mich noch nie jemand angesehen. Ist es, weil ich ihnen die Augen geöffnet habe? Ich blicke in das Gesicht von Christoph Grote, es wirkt verstört. Ja, so sehen sie aus, wenn sie entlarvt werden. Irmgard Lehman reicht mir ein Glas Wasser. Ich habe gar keinen Durst, aber sie will unbedingt, dass ich es trinke. Tu ich ihr den Gefallen? Und was, wenn sie mich vergiften will?
Alle flüstern. Es ist doch Gottesdienst! Und die Leute sind keine Konfirmanden, wissen die nicht mehr, wie man sich benimmt?
Dann kommen diese Leute, die mit mir reden, die sind sehr nett. „Kommen Sie“, sagt ein besonders hübscher junger Mann. „Bei uns sind Sie sicher und können sich ein wenig entspannen.“ Ich glaube ihm jedes Wort. Er hat so ehrliche Augen und eine angenehme Stimme, beides wie Samt.
Sie fahren mich mit dem Wagen wer weiß wohin. Dann bringen sie mich in ein Zimmer. Es wirkt ein bisschen steril, wie im Krankenhaus. Sie geben mir eine Tablette. Ich werde ganz müde.
Die Psychologin hat schon lange mit mir geredet. Jetzt lässt sie mich zurückgehen in die Dunkelheit, dahin wo etwas ist, das ich nicht kenne. Doch jetzt erkenne ich es deutlich:
Es war Richard Peschka bei dem ich das erste Gemeinde-Praktikum machte. Vom ersten Augenblick sah er mich an, wie mich nie zuvor ein Mann angesehen hatte. Ich wusste es gleich. Er zwang sich zur Zurückhaltung. Er wollte unbedingt durch die enge Pforte, aber er war nicht stark genug. Eines Abends kam er immer näher, dann war er ganz nah, dann auf mir, dann in mir und ich war im Himmel. Hinterher sagte er, das hätte niemals geschehen dürfen. Wenn irgendjemand davon erführe, wäre er beruflich erledigt. Wir müssten es sofort beenden. Ich beendete es. Ich beendete sein Leben. Ich war durch die weite Pforte gegangen, ich musste umkehren, um durch die enge zu gehen, endlich das Richtige tun. Niemand hat gemerkt, dass der Fön in der Badewanne kein Unfall war. Ich bekam eine zweite Chance, und siehe, ich habe mich bewährt. Jetzt bin ich hier zum Vorgespräch, um mich demnächst vor meinem Schöpfer zu verantworten. Ich bete, dass auch Christoph seine nächste Chance nutzt. Und dann können wir zusammen sein. Für immer und ewig.

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Dienstag, 7. Juni 2016
Männlich, sechzehn, damit wir klug werden - abgeschlossener Kurzkrimi
3.20 Uhr. Marvin ist immer noch nicht im Quartier angekommen, ans Handy geht er auch nicht. Vermutlich amüsiert er sich mit irgendwelchen neuen Bekanntschaften im Stadtpark, hat irgendwelche Gitarre spielenden Nachteulen aufgetan. In die Clubs lassen sie ihn sicher nicht hinein, die Kneipen sind geschlossen. Und so massenhaft alternative Subkultur wird es in Stuttgart wohl nicht geben. Der Kirchentag macht die sonst so eintönige, spießbürgerliche, vom Autoverkehr beherrschte Stadt so bunt, da vergeht den Einheimischen Hören und Sehen.
Ach wäre sie doch noch so lässig und entspannt wie damals beim ökumenischen Kirchentag in Berlin. Fabian war die ganze Nacht weggeblieben, stand erst beim Frühstück mit sehr kleinen Augen in der Schlange. Dass er fehlte, war ihr noch nicht einmal aufgefallen. Als er dann erzählte, dass er sich im Laufe des Abends so betrunken hatte, dass er sich nicht mehr getraut hatte, ins Quartier zurückzukehren, und darum die Nacht in der S-Bahn verbrachte hatte, die Nonstop im Kreis um Berlin fuhr, was ja aufgrund des Kirchentags-Tickets, das auch für den gesamten öffentlichen Nahverkehr galt, kein Problem gewesen war, hatte sie schallend gelacht. Er war ja schon siebzehn gewesen und kannte sich aus in Berlin, weil er vor kurzem noch dort gelebt hatte.
Sie versuchte sich zu beruhigen. Marvin war intelligent und nicht leicht einzuschüchtern. Er kannte seine Grenzen, an die er zwar gerne mal ging, die er aber nicht überschritt. Sicher hatte er gerade ein ganz tolles Erlebnis, von dem er morgen begeistert beichten würde. Und Stuttgart war ja nun wirklich eher das Gegenteil von einem lebensgefährlichen Sündenbabel, da hätte sie damals in Berlin erheblich mehr Grund zur Beunruhigung gehabt. Aber ja älter sie wurde, umso ängstlicher wurde sie. In jungen Jahren war sie mehr damit beschäftigt gewesen, nicht bei der Organisation der vielen wichtigen Details zu versagen, um die Unversehrtheit der Jugendlichen hatte sie sich kaum gesorgt, war sie doch kurz zuvor selbst in dem Alter gewesen und hatte gelernt, dass in der Regel nichts Gefährliches passierte. Aber mit der wachsenden Sicherheit, was die äußeren Rahmenbedingungen betraf schwand ihr Gottvertrauen in den Welpenschutz der ihr anvertrauten Heranwachsenden. Auch wenn sie bis jetzt keinen Fehler gemacht hatte, würde sie Marvins Eltern nicht ins Gesicht sehen können, wenn ihm etwas furchtbares widerfahren sein sollte.
Die Morgendämmerung lag über dem Stadtpark und Nebelschwaden stiegen von den Wiesen auf, an denen die junge Frau vor Arbeitsantritt entlang joggte. „Meine Güte!“, dachte sie. „Beim Evangelischen Kirchentag könnte man doch erwarten, dass anständige Leute in die Stadt kommen, statt dessen lagen überall Schnapsleichen herum. Als sie näher an die beiden Bündel kam, die dort auf der Decke lagen, bemerkte sie, dass sie seltsam verrenkt wirkten und ihre Körperhaltung alles andere als bequem schien. Auf einem der beiden lag eine Gitarre, deren Hals abgebrochen war. Dann sah sie das Blut und die starren, in den Himmel gerichteten Blicke und schrie so lange, bis irgendjemand sie an die Schulter fasste und sie von dem schrecklichen Szenario hinweg führte.
Beim Frühstück war Marvin immer noch nicht da. Sie wurde unruhig. Sollte sie zuerst die Polizei verständigen oder lieber zuerst die Eltern anrufen? Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, denn ihr Smartphone vibrierte in der Tasche. Es waren Marvins Eltern. Erleichtert meldete sie sich.
„Frau Förster?“
„Ja, ich bin hier.“
„Frau Förster, ist Marvin bei Ihnen?“, fragte die Mutter mit brüchiger Stimme.
„Nein.“, antwortete sie zitternd, „er ist letzte Nacht nicht zurückgekommen. Ich wollte Sie auch gerade anrufen, ob er sich bei Ihnen gemeldet hat. Als nächstes hätte ich die Polizei eingeschaltet.“
„Die ist schon eingeschaltet.“
„Wie bitte?“
„Sie haben Marvin im Park gefunden. Zusammen mit einem jungen Mann aus Dortmund. Jemand hat die beiden mit einer Gitarre erschlagen.“ Die letzten Worte waren der Mutter kaum noch über die Lippen gekommen, jetzt brach sie in Tränen aus und konnte nicht mehr weiter sprechen.
Die Täter wurden erst ein Jahr später gefasst, weil es sich um Wiederholungstäter handelte: junge Erwachsene, gescheiterte „Muschterländler“, die den Anschluss verpasst hatten und nun jeden dafür verantwortlich machten, der aus ihrer Sicht ein Parasit war, der einen Platz besetzte, der eigentlich ihnen zustand. Südländer bezeichneten sie als „Kanaken“, unkonventionelle Jugendliche als „Zecken“. Stuttgart war nicht stolz auf sie, jetzt erst recht nicht und genau das war ihr Problem: nie war jemand stolz auf sie gewesen.
Berlin und Wittenberg 2017. Das Motto wird lauten: „Du siehst mich.“ Für sie klingt es nur noch wie eine Drohung. Sie wird nicht dabei sein. Kein Kirchentag mehr. Nie wieder. Sie ist schon klug geworden.

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Montag, 6. Juni 2016
Little Red Rooster
Es war eine wilde Party gewesen, fast so wie früher. Jetzt stand er vor dem Gemeindehaus und stellte sich vor, wie es aussah, wenn in etwa ein bis zwei Stunden die Sonne über die Dächer stieg und die Wiese in goldenes Licht tauchte. Er dachte an die frühen Kindertage: mit Sören und Hennes im Sandkasten unter dem Glockenturm, Gemeindefeste mit Bratwurst und einem überwältigen Salatbuffet, inklusive Kuchen und Nachtisch. Er wusste, dass er im Kirchsaal getauft worden war, auch dass seine Eltern hier geheiratet hatten. Dann war er zur Grundschule gegangen und die Spielgruppe „Remmidemmis“ hatte einmal wöchentlich stattgefunden. Unzählige Male hatten sie auf der Wiese Fußball gespielt oder „A Zerlatscht“ ein Versteckspiel mit Fangen und Freischlagen. Sie waren zum Bude bauen in den Wald gegangen und bei nicht so gutem Wetter hatten sie im Haus Kreisspiele gemacht, gebastelt, Pizza gebacken oder Tischtennis gespielt. Zu Weihnachten hatte er mehrere Male beim Krippenspiel mitgewirkt: Den Josef, einen Hirten, den Wirt und einmal sogar einen Löwen. Als die Kinderzeit vorbei war, war er zum kirchlichen Unterricht gegangen, das war zwar oft ziemlich langweilig, aber man hatte wieder die alten Hasen aus der Grundschulzeit getroffen, die jetzt alle zu unterschiedlichen Schulen gingen. Zur Konfirmation wollten viele lieber in die große Kirche im Stadtteil nebenan, aber er hatte sich gefreut, dass es hier stattgefunden hatte, hier war er zu Hause, das fühlte sich richtig an. Als Jugendlicher hatte er mit seinen Freunden hier abgehangen, meistens auf der Wiese oder im Schutz des Kirchturms, aber einmal in der Woche hatte es einen Jugendtreff gegeben. Er war den Betreuungsangeboten entwachsen, hatte die Schule abgeschlossen, eine Ausbildung gemacht und war mittlerweile als Geselle übernommen worden. Eigentlich hatte er nicht mehr ans Gemeindehaus gedacht, Hochzeit und Kindtaufe waren noch weit weg, aber dann war er vor ein paar Wochen nach Hause gekommen und seine Mutter hatte da gestanden mit Tränen in den geröteten Augen.
„Sie wollen es schließen und abreißen:“, hatte sie gesagt. „Das ganze Gemeindehaus und das Pfarrhaus gleich mit. Und dann bauen sie Wohnungen auf dem Grundstück, auch auf der Wiese, auf der ihr immer gespielt habt.“
„Warum?“
„Die Gemeinde muss einsparen, sich verkleinern. Und wenn gespart werden muss, dann trifft es uns hier in unserem kleinen Ortsteil immer zuerst. Der Kirchmeister passt schon auf, dass es in ihrem „Dom“ an nichts fehlt. Die haben gerade ein komplett neues Dach bekommen. Das Gemeindehaus haben sie auch frisch gestrichen, während es hier nicht einmal für einen Eimer Farbe gereicht hat, um die Altarwand im Kirchsaal wieder schön zu machen. „Lohnt nicht!“, hat Kloppstock immer gesagt und unsere Fraktion im Presbyterium konnte so laut aufschreien wie sie wollte, die anderen haben uns immer überstimmt.“
„Aber wo sollen die Leute denn hin, wenn das Gemeindehaus abgerissen wird?“
„Ins große Gemeindehaus nach W. Da gibt es schließlich alles. Dann sollen wir uns den Gruppen da anschließen oder gucken, ob für unsere Gruppen zu deren Zeiten noch ein Raum frei ist.“
„Aber die in W. Sind doch total spießig.“
„Ja, und die sagen immer, dass wir irgendwie komisch sind. Die rümpfen die Nase, weil wir hier viel politischer und unkonventioneller sind. Eigentlich wollen die uns gar nicht bei sich haben, es ist wirklich verrückt. Und die Kinder, die hier einfach zu Fuß hingehen können, müssen jetzt von den Eltern nach W. gebracht werden. Das macht dann doch auch keiner. Dann sitzen sie am Ende alle allein vor ihren Computern.“
Jetzt stand er vor dem Haus voller Erinnerungen und es begann in ihm zu kochen. Wieso bekamen die in W. Immer alles und warum musste hier alles weichen? Mit welchem Recht, nahm man ihnen ihr Gemeindehaus weg? Wieso mussten sie alle nach W. gehen? Alle Welt sprach davon, dass die Kirchen immer mehr schrumpften. Am Ende würde man den Riesenkomplex in W. auch nicht mehr halten können und dann bliebe gar nichts übrig. Warum nicht gleich das kleine, günstigere Gemeindehaus mit integriertem Kirchsaal behalten? Da würde es nicht so schnell ungemütlich.
Er würde das Unausweichliche verhindern. Er würde Tatsachen schaffen. In der Garage stand ein Kanister Benzin und eine Kanne Öl. Leere Flaschen und alte Lapen gab es auch genug. „Zehn leere Flaschen Wein können schnell zehn Mollies sein.“, trällerte er vor sich hin. Er arbeitete zügig, denn er wollte in W. ankommen, bevor die Spießer Brötchen holen gingen.
„I'm a littler red rooster“, sang er, als die erste Flammen im inneren der großen Kirche aufzüngelten. Auch der Dachstuhl des Gemeindehauses brannte schneller, als er es erwartet hatte. Wenn er seine Mutter das nächste Mal weinen sähe, wären es Freudentränen. Er war zu betrunken um zu ahnen, dass es Tränen der Verzweiflung sein würden.

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