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Freitag, 3. Juni 2016
Ein Pfarrer verschwindet – Kurzkrimi in vier Teilen – Teil II
c. fabry, 14:46h
Da die muntere Runde nichts Zielführendes beizusteuern hatte, wanderten die Kommissare in die Jugendetage, wo zwei schüchterne Schülerinnen eine Jungschargruppe vorbereiteten. „Ich habe ihn letzte Woche Mittwoch abends am Obersee getroffen, da wirkte er irgendwie abwesend.“, erklärte eines der Mädchen.
„So als hätte er etwas Schlimmes erlebt?“, erkundigte sich Kerkenbrock.
„Nein, mehr so, als würde er über etwas nachdenken und gar nicht merken, was um ihn herum passiert. Er sah auch eher fröhlich als verschreckt aus.“
Sie suchten den Kirchmeister auf, denn im Gemeindehaus würde in den kommenden Stunden niemand anrücken, mit dem zu reden sich lohnen könnte.
Der Kirchmeister war ein seit sechs Monaten in den Ruhestand versetzter, ehemaliger Industriekaufmann, der aber bereits seit einer Legislaturperiode die Finanzen der Gemeinde verwaltete und vor kurzem wieder gewählt worden war. Gastfreundlich wie kirchliche Menschen meistens sind, bot er den Beamten Kaffee und Gebäck an und nahm mit ihnen im Wohnzimmer Platz.
„Gibt es aus Ihrer Sicht irgendwelche Vorkommnisse oder Auffälligkeiten, die ein Verschwinden Ihres Pfarrers erklären könnten?“, fragte Keller den Presbyter.
„Ich glaube, da kann ich Ihnen leider nicht weiter helfen. Ich kann mir selbst nicht erklären, wie jemand einfach so spurlos verschwinden kann. Dienstag Morgen hat meine Frau ihn noch beim Brötchen holen getroffen und er machte einen ungewöhnlich fröhlichen Eindruck auf sie. Am frühen Abend hatten wir dann eine Besprechung angesetzt, zu der er nicht erschien und ich dachte, er habe es einfach vergessen, aber dann hörte ich, dass er am Nachmittag auch die Konfirmandengruppe versetzt hatte. Ich habe bei ihm zu Hause angerufen, um zu fragen, was los sei und seine Frau fiel aus allen Wolken, weil sie überzeugt war, er sei dienstlich unterwegs. Sie hat dann sofort die Polizei verständigt, aber da hat man ihr ja mitgeteilt, dass vor Ablauf von 24 Stunden ohne besonderen Grund niemand nach einem Erwachsenen suche. Sie ist wohl selbst überall herum gefahren, nachdem sie stundenlang telefoniert hat, aber alles ohne Erfolg und ohne jegliche Spur von ihrem Mann. Na ja, und Mittwoch Nachmittag waren Sie dann ja bei ihr. Also wir sind alle ganz verzweifelt.“
„Seine Frau hatte vielleicht weniger Ahnung von seinen Geschäften als Sie als Kirchmeister. Als Pfarrer wird man doch sicher nicht von allen geliebt, da macht man sich doch auch mal Feinde. Gerade in Zeiten knapper Finanzmittel gibt es doch jede Menge Konflikte. Hat er sich mit irgendwem angelegt?“
„Nein, so einer war er nicht. Wenn er sich überhaupt Feinde gemacht hat, dann eher dadurch, dass er den Konflikten aus dem Weg gegangen ist. Ich glaube, er ist Pfarrer geworden, weil er es nur noch mit den Guten zu tun haben wollte. Als er dann feststellen musste, dass es in der Kirche auch gelegentlich sehr böse Menschen gibt, hat er einfach die Augen davor verschlossen. Er war ein Träumer und manchmal hat ihm das jemand übel genommen, weil Missstände einfach nicht angegangen wurden.“
„Wer zum Beispiel?“
„Zum Beispiel der Elternrat im Kindergarten. Es gab da wohl eine Mitarbeiterin, die bei den Kindern sehr beliebt war, aber vom gesamten Team gemobbt wurde. Die Leitung bekam das auch nicht in den Griff. Am Ende hat die Mitarbeiterin gekündigt und musste sich in psychologische Behandlung begeben. Das KiTa-Team gilt nach wie vor als äußerst stutenbissig, wenn ich das mal so sagen darf – das muss natürlich unter uns bleiben - und er als Dienststellenleiter müsste da eigentlich Maßnahmen ergreifen, also die Verursacherinnen ermitteln und abmahnen, Teambildungs-Maßnahmen anordnen, seelsorgerliche Gespräche mit Betroffenen führen. Aber er wischte die Probleme beiseite, sagte, das werde alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht würde und renke sich schon wieder ein. Er ging lieber einmal die Woche dort hin, hielt seine Andacht für die Kinder, repräsentierte die Gemeinde bei Festen und betonte im Presbyterium immer wieder, dass er sich als Vorgesetzter hinter seine Mitarbeiterinnen stellen müsse.“
„Wie kommt er mit der Leiterin aus?“, fragte Kerkenbrock.
„Die haben ein gutes Verhältnis. Er ist auf ihrer Seite und sie weiß das zu schätzen.“
„Halten Sie es für vorstellbar, dass Pfarrer Sornig eine Liebesaffäre zu der Kindergartenleiterin oder einer anderen Frau unterhält?“
Der Kirchmeister blickte konsterniert drein. „Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte er.
„Uns sind da Gerüchte zu Ohren gekommen.“
„Ja, so etwas denken die Leute sich gern aus. Es passiert ja auch nicht viel in unserem kleinen, verschlafenen Stadtteil, außer dass im Ghetto nebenan zwei Betrunkene sich gegenseitig verprügeln. Ich denke, Pastor Sornig ist nicht der Typ für so etwas. Meine Hand für ihn ins Feuer legen kann ich natürlich nicht, aber ich denke, da hat irgendjemand eins und eins zusammengezählt und vier herausbekommen.“
„Tja, dann vielen Dank erst einmal. Wären Sie vielleicht so nett, Ihre Finanzen noch einmal gründlich zu prüfen, ob es da irgendwelche Unregelmäßigkeiten gibt?“
„Gäbe es da irgendwelche Unregelmäßigkeiten, wüsste ich es längst, da muss ich nichts prüfen. Pastor Sornig hat so gut wie keinen Zugriff auf die Finanzen, falls sie erwägen, er könne mit der Kollekte durchgebrannt sein.“
FORTSETUNG FOLGT MORGEN.
„So als hätte er etwas Schlimmes erlebt?“, erkundigte sich Kerkenbrock.
„Nein, mehr so, als würde er über etwas nachdenken und gar nicht merken, was um ihn herum passiert. Er sah auch eher fröhlich als verschreckt aus.“
Sie suchten den Kirchmeister auf, denn im Gemeindehaus würde in den kommenden Stunden niemand anrücken, mit dem zu reden sich lohnen könnte.
Der Kirchmeister war ein seit sechs Monaten in den Ruhestand versetzter, ehemaliger Industriekaufmann, der aber bereits seit einer Legislaturperiode die Finanzen der Gemeinde verwaltete und vor kurzem wieder gewählt worden war. Gastfreundlich wie kirchliche Menschen meistens sind, bot er den Beamten Kaffee und Gebäck an und nahm mit ihnen im Wohnzimmer Platz.
„Gibt es aus Ihrer Sicht irgendwelche Vorkommnisse oder Auffälligkeiten, die ein Verschwinden Ihres Pfarrers erklären könnten?“, fragte Keller den Presbyter.
„Ich glaube, da kann ich Ihnen leider nicht weiter helfen. Ich kann mir selbst nicht erklären, wie jemand einfach so spurlos verschwinden kann. Dienstag Morgen hat meine Frau ihn noch beim Brötchen holen getroffen und er machte einen ungewöhnlich fröhlichen Eindruck auf sie. Am frühen Abend hatten wir dann eine Besprechung angesetzt, zu der er nicht erschien und ich dachte, er habe es einfach vergessen, aber dann hörte ich, dass er am Nachmittag auch die Konfirmandengruppe versetzt hatte. Ich habe bei ihm zu Hause angerufen, um zu fragen, was los sei und seine Frau fiel aus allen Wolken, weil sie überzeugt war, er sei dienstlich unterwegs. Sie hat dann sofort die Polizei verständigt, aber da hat man ihr ja mitgeteilt, dass vor Ablauf von 24 Stunden ohne besonderen Grund niemand nach einem Erwachsenen suche. Sie ist wohl selbst überall herum gefahren, nachdem sie stundenlang telefoniert hat, aber alles ohne Erfolg und ohne jegliche Spur von ihrem Mann. Na ja, und Mittwoch Nachmittag waren Sie dann ja bei ihr. Also wir sind alle ganz verzweifelt.“
„Seine Frau hatte vielleicht weniger Ahnung von seinen Geschäften als Sie als Kirchmeister. Als Pfarrer wird man doch sicher nicht von allen geliebt, da macht man sich doch auch mal Feinde. Gerade in Zeiten knapper Finanzmittel gibt es doch jede Menge Konflikte. Hat er sich mit irgendwem angelegt?“
„Nein, so einer war er nicht. Wenn er sich überhaupt Feinde gemacht hat, dann eher dadurch, dass er den Konflikten aus dem Weg gegangen ist. Ich glaube, er ist Pfarrer geworden, weil er es nur noch mit den Guten zu tun haben wollte. Als er dann feststellen musste, dass es in der Kirche auch gelegentlich sehr böse Menschen gibt, hat er einfach die Augen davor verschlossen. Er war ein Träumer und manchmal hat ihm das jemand übel genommen, weil Missstände einfach nicht angegangen wurden.“
„Wer zum Beispiel?“
„Zum Beispiel der Elternrat im Kindergarten. Es gab da wohl eine Mitarbeiterin, die bei den Kindern sehr beliebt war, aber vom gesamten Team gemobbt wurde. Die Leitung bekam das auch nicht in den Griff. Am Ende hat die Mitarbeiterin gekündigt und musste sich in psychologische Behandlung begeben. Das KiTa-Team gilt nach wie vor als äußerst stutenbissig, wenn ich das mal so sagen darf – das muss natürlich unter uns bleiben - und er als Dienststellenleiter müsste da eigentlich Maßnahmen ergreifen, also die Verursacherinnen ermitteln und abmahnen, Teambildungs-Maßnahmen anordnen, seelsorgerliche Gespräche mit Betroffenen führen. Aber er wischte die Probleme beiseite, sagte, das werde alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht würde und renke sich schon wieder ein. Er ging lieber einmal die Woche dort hin, hielt seine Andacht für die Kinder, repräsentierte die Gemeinde bei Festen und betonte im Presbyterium immer wieder, dass er sich als Vorgesetzter hinter seine Mitarbeiterinnen stellen müsse.“
„Wie kommt er mit der Leiterin aus?“, fragte Kerkenbrock.
„Die haben ein gutes Verhältnis. Er ist auf ihrer Seite und sie weiß das zu schätzen.“
„Halten Sie es für vorstellbar, dass Pfarrer Sornig eine Liebesaffäre zu der Kindergartenleiterin oder einer anderen Frau unterhält?“
Der Kirchmeister blickte konsterniert drein. „Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte er.
„Uns sind da Gerüchte zu Ohren gekommen.“
„Ja, so etwas denken die Leute sich gern aus. Es passiert ja auch nicht viel in unserem kleinen, verschlafenen Stadtteil, außer dass im Ghetto nebenan zwei Betrunkene sich gegenseitig verprügeln. Ich denke, Pastor Sornig ist nicht der Typ für so etwas. Meine Hand für ihn ins Feuer legen kann ich natürlich nicht, aber ich denke, da hat irgendjemand eins und eins zusammengezählt und vier herausbekommen.“
„Tja, dann vielen Dank erst einmal. Wären Sie vielleicht so nett, Ihre Finanzen noch einmal gründlich zu prüfen, ob es da irgendwelche Unregelmäßigkeiten gibt?“
„Gäbe es da irgendwelche Unregelmäßigkeiten, wüsste ich es längst, da muss ich nichts prüfen. Pastor Sornig hat so gut wie keinen Zugriff auf die Finanzen, falls sie erwägen, er könne mit der Kollekte durchgebrannt sein.“
FORTSETUNG FOLGT MORGEN.
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Donnerstag, 2. Juni 2016
Ein Pfarrer verschwindet – Kurzkrimi in vier Teilen – Teil I
c. fabry, 14:21h
„Rüdiger Sornig“ stand in großen Lettern auf dem Flip-Chart. Darunter sammelte Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock Stichworte wann, wo und von wem zuletzt gesehen, allgemeiner Gemütszustand, Feinde, Geheimnisse.
„Die Familie haben wir letzte Woche ja nun wirklich schon genug malträtiert.“, sagte sie, „Aber vielleicht findet sich ein Hinweis an seinem Arbeitsplatz.“
„Welchen Arbeitsplatz meinen Sie, Kerkenbrock?“, fragte Kriminalhauptkommissar Stefan Keller unwirsch, „Die Kanzel, das Gemeindehaus, das Pfarrbüro oder das Kreiskirchenamt?“
„Ich spreche nicht von Steinen, Sie alter Erbsenzähler, ich spreche von Menschen. Wir müssen alle befragen, die sich in der Kirchengemeinde auskennen: Verwaltungsfachkraft, Kirchenmusik, Kirchmeister, Vorsitzende der Frauenhilfe, Jugendmitarbeiter...“
„Hören Sie bloß auf! Ich habe dieses Christenpack zum Kotzen satt. Wahrscheinlich ist der Pastor beim Nacktbaden im Baggersee ertrunken und taucht in wenigen Tagen oder Wochen als schmucke Wasserleiche wieder auf.“
„Dann müssen wir ihn doch aber trotzdem suchen.“
„Nicht wir. Die Vermisstenstelle. Wir sind die Mordkommission.“
„Aber wir müssen doch zumindest prüfen...“
„Falsch! Die Vermisstenstelle muss prüfen. Wenn die einen deutlichen Hinweis auf Mord finden, können sie den Fall an uns weiterreichen. Aber Köhnemann ist wie eh und je unfähig, darum hat Matzek uns den Fall übertragen, denn Pfarrer gehen nicht mal eben Zigaretten holen. So hat er es jedenfalls ausgedrückt.“
„Also müssen wir doch ermitteln.“
„Ja, müssen wir. Am besten wir klappern heute Vormittag Gemeindebüro, Küster, Kirchenmusik und Kreiskirchenamt ab und begeben uns nachmittags und abends ins Gemeindehaus; vorausgesetzt, da treffen sich welche.“
Im Kreiskirchenamt wusste man wenig über Rüdiger Sornig zu sagen. Er sei ganz normal, sagten die Verwaltungskräfte, wie ein Pfarrer eben normal sein könne. Etwas kauzig vielleicht, mehr so ein Künstler, denn ein Seelsorger, manchmal sei es schwierig, ihm Verwaltungsabläufe klar zu machen, an die auch er sich halten müsse. Aber er sei immer freundlich, immer angemessen im Umgang.
Die Superintendentin schätzte ihn als verlässlichen Kollegen, der auch theologisch eine Menge drauf habe. Sie könne sich sein Verschwinden nicht erklären, ihm müsse etwas zugestoßen sein.
Der Küster sagte, er habe kein Problem mit dem Pfarrer, man arbeite friedvoll zusammen, da hätte er schon ganz andere erlebt. Die Mitarbeiterin im Gemeindebüro erklärte, er sei ein wenig schusselig und manchmal nicht ganz Herr der Lage, aber kein depressiver Typ, der sich etwas antun würde, schlimmstenfalls ein wenig antriebsschwach. Die Kirchenmusikerin, so gab sie Auskunft, sei nur nebenamtlich tätig, aber zur abendlichen Chorprobe wieder im Haus.
Keller und Kerkenbrock gönnten sich einen Mittagsimbiss im örtlichen China-Restaurant, bevor sie gegen 15.00 Uhr ins Gemeindehaus zurückkehrten. Dort traf sich die Frauenhilfe, für die eigentlich ein Referat des Pfarrers über die Entstehung des Buches Ruthvorgesehen war. Keller hatte den Eindruck, dass sie nicht gerade unglücklich darüber waren, anstelle eines mittelmäßigen, theologischen Vortrags eine spannende polizeiliche Befragung zu erleben und außerdem mehr Zeit für angeregte Gespräche bei Kaffee und Kuchen zu haben. Er blickte in ein Meer aus pflegeleichten Blümchenkleidern und Betonfrisuren und eine Wolke längst aus dem Sortiment genommen geglaubter Duftkombinationen waberte durch den Raum und stieg mal dezent, mal penetrant in seine Nase. Aufgeregt und trotz Blutdruck senkender Mittel erstaunlich rotwangig schnatterten die Damen jenseits der siebzig – in der Mehrheit sogar jenseits der achtzig – durcheinander, bis Keller um ihre Aufmerksamkeit bat. „Ist Ihnen an Ihrem Gemeindepfarrer in der letzten Zeit etwas Besonderes aufgefallen?“, fragte er in die Runde.
Betretenes Schweigen. Nach einer Weile hob sich zaghaft die Hand einer zarten Person, die sich zu Wort meldete.
„Sprechen Sie einfach.“, sagte Kerkenbrock. „Sie sind ja nicht mehr in der Schule.“
Ein amüsiertes Raunen ging durch die Reihen.
„Früher hat er manchmal ein bisschen im Garten gearbeitet. In letzter Zeit hat er das nur noch seiner Frau überlassen. Wenn man ihn überhaupt mal hinterm Haus gesehen hat, dann saß er in der Sonne und hat gelesen oder vor sich hin gestarrt.“
„Wird auch älter“, bemerkte eine vorwitzige, russisch Gold gefärbte Geronto-Blondine.
Einige wenige wagten ein leises Kichern.
„Also, so oft wie der am Obersee spazieren geht, glaube ich nicht, dass der noch viel mit seiner Frau zu schaffen hat.“, bemerkte eine rundliche Dame mit schneeweißer Kurzhaar-Frisur.
„Also Erika Winterhoff hat ja erzählt, dass sein Auto schon öfter am Tierpark stand und das von der Kindergarten-Leiterin direkt daneben.“
„Was macht Erika denn in Olderdissen?“, fragte eine aufgebrezelte Mittsiebzigerin, die ihre tiefen Gesichtsfalten mit Make-up auszugleichen versuchte und das unausweichliche Ergrauen der Kopfhaare mit einem aufregenden Auberginenton verdeckt hatte.
„Die kümmert sich doch um ihre Enkel und fährt mit denen oft da hin. Und da hat sie die beiden Autos wohl schon öfter nebeneinander stehen sehen.“
„Denkst du, der trifft sich mit seinem Liebchen in Olderdissen zum Schäferstündchen und die Bären dürfen zugucken?“, fragte die Auberginen-Oma und Laute der Entrüstung mischten sich mit zotigem Gelächter.
„Ach, das glaube ich alles nicht.“, mischte sich eine besonders vernünftig wirken wollende Dame ein. „Sicher haben die mal in Ruhe etwas besprechen wollen und das hat sich mit dem Tierpark irgendwie so ergeben. Vielleicht war es einmal Zufall, beim nächsten Mal verabredet. Und aus zwei Mal beide Autos am gleichen Ort wird dann schnell ein dauernd.“
„Durchgebrannt ist er mit der Hillenkötter jedenfalls nicht.“, bemerkte die Auberginen-Oma. „Die habe ich heute Morgen noch gesehen.“
FORTSETZUNG FOLGT MORGEN
„Die Familie haben wir letzte Woche ja nun wirklich schon genug malträtiert.“, sagte sie, „Aber vielleicht findet sich ein Hinweis an seinem Arbeitsplatz.“
„Welchen Arbeitsplatz meinen Sie, Kerkenbrock?“, fragte Kriminalhauptkommissar Stefan Keller unwirsch, „Die Kanzel, das Gemeindehaus, das Pfarrbüro oder das Kreiskirchenamt?“
„Ich spreche nicht von Steinen, Sie alter Erbsenzähler, ich spreche von Menschen. Wir müssen alle befragen, die sich in der Kirchengemeinde auskennen: Verwaltungsfachkraft, Kirchenmusik, Kirchmeister, Vorsitzende der Frauenhilfe, Jugendmitarbeiter...“
„Hören Sie bloß auf! Ich habe dieses Christenpack zum Kotzen satt. Wahrscheinlich ist der Pastor beim Nacktbaden im Baggersee ertrunken und taucht in wenigen Tagen oder Wochen als schmucke Wasserleiche wieder auf.“
„Dann müssen wir ihn doch aber trotzdem suchen.“
„Nicht wir. Die Vermisstenstelle. Wir sind die Mordkommission.“
„Aber wir müssen doch zumindest prüfen...“
„Falsch! Die Vermisstenstelle muss prüfen. Wenn die einen deutlichen Hinweis auf Mord finden, können sie den Fall an uns weiterreichen. Aber Köhnemann ist wie eh und je unfähig, darum hat Matzek uns den Fall übertragen, denn Pfarrer gehen nicht mal eben Zigaretten holen. So hat er es jedenfalls ausgedrückt.“
„Also müssen wir doch ermitteln.“
„Ja, müssen wir. Am besten wir klappern heute Vormittag Gemeindebüro, Küster, Kirchenmusik und Kreiskirchenamt ab und begeben uns nachmittags und abends ins Gemeindehaus; vorausgesetzt, da treffen sich welche.“
Im Kreiskirchenamt wusste man wenig über Rüdiger Sornig zu sagen. Er sei ganz normal, sagten die Verwaltungskräfte, wie ein Pfarrer eben normal sein könne. Etwas kauzig vielleicht, mehr so ein Künstler, denn ein Seelsorger, manchmal sei es schwierig, ihm Verwaltungsabläufe klar zu machen, an die auch er sich halten müsse. Aber er sei immer freundlich, immer angemessen im Umgang.
Die Superintendentin schätzte ihn als verlässlichen Kollegen, der auch theologisch eine Menge drauf habe. Sie könne sich sein Verschwinden nicht erklären, ihm müsse etwas zugestoßen sein.
Der Küster sagte, er habe kein Problem mit dem Pfarrer, man arbeite friedvoll zusammen, da hätte er schon ganz andere erlebt. Die Mitarbeiterin im Gemeindebüro erklärte, er sei ein wenig schusselig und manchmal nicht ganz Herr der Lage, aber kein depressiver Typ, der sich etwas antun würde, schlimmstenfalls ein wenig antriebsschwach. Die Kirchenmusikerin, so gab sie Auskunft, sei nur nebenamtlich tätig, aber zur abendlichen Chorprobe wieder im Haus.
Keller und Kerkenbrock gönnten sich einen Mittagsimbiss im örtlichen China-Restaurant, bevor sie gegen 15.00 Uhr ins Gemeindehaus zurückkehrten. Dort traf sich die Frauenhilfe, für die eigentlich ein Referat des Pfarrers über die Entstehung des Buches Ruthvorgesehen war. Keller hatte den Eindruck, dass sie nicht gerade unglücklich darüber waren, anstelle eines mittelmäßigen, theologischen Vortrags eine spannende polizeiliche Befragung zu erleben und außerdem mehr Zeit für angeregte Gespräche bei Kaffee und Kuchen zu haben. Er blickte in ein Meer aus pflegeleichten Blümchenkleidern und Betonfrisuren und eine Wolke längst aus dem Sortiment genommen geglaubter Duftkombinationen waberte durch den Raum und stieg mal dezent, mal penetrant in seine Nase. Aufgeregt und trotz Blutdruck senkender Mittel erstaunlich rotwangig schnatterten die Damen jenseits der siebzig – in der Mehrheit sogar jenseits der achtzig – durcheinander, bis Keller um ihre Aufmerksamkeit bat. „Ist Ihnen an Ihrem Gemeindepfarrer in der letzten Zeit etwas Besonderes aufgefallen?“, fragte er in die Runde.
Betretenes Schweigen. Nach einer Weile hob sich zaghaft die Hand einer zarten Person, die sich zu Wort meldete.
„Sprechen Sie einfach.“, sagte Kerkenbrock. „Sie sind ja nicht mehr in der Schule.“
Ein amüsiertes Raunen ging durch die Reihen.
„Früher hat er manchmal ein bisschen im Garten gearbeitet. In letzter Zeit hat er das nur noch seiner Frau überlassen. Wenn man ihn überhaupt mal hinterm Haus gesehen hat, dann saß er in der Sonne und hat gelesen oder vor sich hin gestarrt.“
„Wird auch älter“, bemerkte eine vorwitzige, russisch Gold gefärbte Geronto-Blondine.
Einige wenige wagten ein leises Kichern.
„Also, so oft wie der am Obersee spazieren geht, glaube ich nicht, dass der noch viel mit seiner Frau zu schaffen hat.“, bemerkte eine rundliche Dame mit schneeweißer Kurzhaar-Frisur.
„Also Erika Winterhoff hat ja erzählt, dass sein Auto schon öfter am Tierpark stand und das von der Kindergarten-Leiterin direkt daneben.“
„Was macht Erika denn in Olderdissen?“, fragte eine aufgebrezelte Mittsiebzigerin, die ihre tiefen Gesichtsfalten mit Make-up auszugleichen versuchte und das unausweichliche Ergrauen der Kopfhaare mit einem aufregenden Auberginenton verdeckt hatte.
„Die kümmert sich doch um ihre Enkel und fährt mit denen oft da hin. Und da hat sie die beiden Autos wohl schon öfter nebeneinander stehen sehen.“
„Denkst du, der trifft sich mit seinem Liebchen in Olderdissen zum Schäferstündchen und die Bären dürfen zugucken?“, fragte die Auberginen-Oma und Laute der Entrüstung mischten sich mit zotigem Gelächter.
„Ach, das glaube ich alles nicht.“, mischte sich eine besonders vernünftig wirken wollende Dame ein. „Sicher haben die mal in Ruhe etwas besprechen wollen und das hat sich mit dem Tierpark irgendwie so ergeben. Vielleicht war es einmal Zufall, beim nächsten Mal verabredet. Und aus zwei Mal beide Autos am gleichen Ort wird dann schnell ein dauernd.“
„Durchgebrannt ist er mit der Hillenkötter jedenfalls nicht.“, bemerkte die Auberginen-Oma. „Die habe ich heute Morgen noch gesehen.“
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Mittwoch, 1. Juni 2016
Sommer 2015 - abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 18:27h
Luft! Schnell Luft ansaugen, bevor die Gelegenheit vorbei ist. Die Lungen schmerzen, es gurgelt in der Brust. Schon wieder vorbei. So kalt. Gleich platzt der Kopf. Überall Hammerschläge, an den Schläfen, im Hals, in der Brust. Innen ist es heiß, außen kalt, dazwischen Kribbeln. Kann nicht mehr zwischen Brennen und Eiseskälte unterscheiden. Kann nicht mehr. Muss atmen. Kalter Schmerz. Dunkelheit.
Ich schrecke auf. Ich bin noch da. Alles ist nass. Aber hier ist kein Wasser. Ich kann tief durchatmen, da gurgelt auch nichts. Die Dunkelheit weicht schemenhaften Umrissen: über mir gleichförmiges Grau, wohl wegen der Dunkelheit, bei Tageslicht ist es weiß. Da sind Stangen und kompakte Klumpen. Neben mir weiche, unförmige Haufen, die sich minimal bewegen. Ich atme auf. Ich liege im Zelt, neben mir Marek und Malte, da stehen unsere Taschen. Wir sind in Schweden, in dem Land, in dem am wenigsten in ganz Europa Kinder misshandelt werden, darum gibt es hier auch insgesamt weniger Gewalt, auch wenn die skandinavischen Krimis den Eindruck machen, die Nordmänner würden sich alle gegenseitig aufs Abscheulichste dahin meucheln. Nein, diese Kirchenfreizeit ist einer der sichersten Orte der Welt – solange man nicht in das Visier eines Breivik gerät.
Doch was war das? Da rührt sich etwas im See. Im Februar haben wir eine Horrorfilmnacht gemacht: „Freitag der Dreizehnte“. Wir hatten keine Angst, so ein Schwachsinn, so etwas passiert nicht, das denken sich nur kranke Köpfe aus. Es plätschert wieder. Sicher gehen die Mitarbeiter zum Mondschein-Schwimmen. Ja, das wird es sein. Und die Nachtwache ärgert sich, dass sie nicht mitmachen kann. Ich schließe die Augen. Reiße sie wieder auf. Das klingt nicht wie fröhliches Planschen, das klingt nach Todeskampf. Ich schäle mich aus dem Schlafsack. Scheiße, ich bin nicht nur nass geschwitzt, ich habe mir in die Hosen gepisst. Verdammt! Ich schnappe mir die Decke, die zwischen Plane und Luftmatratze liegt, damit die Matratze auf der Plane nicht so quietscht und knatscht. Ist dick, die Wolldecke, da riecht man hoffentlich nichts und wenn ich ins Wasser springen muss, um wen auch immer zu retten, ist danach alles ausgewaschen. Also nichts wie raus aus dem Zelt. Auf dem Platz brennt das Lagerfeuer. Da sitzt die Wache. Die Flammen beleuchten sein Gesicht, es ist Marco. Ich gehe langsam auf ihn zu. Marco wirkt ganz entspannt. Er sieht mich an: „Leon, was ist los?“, fragt er.
„Da plätschert was. Hast du das nicht gehört?“
„Cora und Selina. Die Schwimmen. Aber sag‘s keinem weiter. Bist du davon etwa aufgewacht?“
„Nee. Ich hab‘ schlecht geträumt.“
„Setz dich ans Feuer und erzähl. Mir is‘ langweilig.“
Ich bin dem Traum noch immer nicht vollständig entkommen. Ich beschreibe genau, woran ich mich erinnere. Marco sagt kein Wort. Während ich erzähle, werden die Bilder immer klarer: „Etwas hält mich, ich meine jemand. Er drückt meinen Kopf unter Wasser. Ich kann nicht hoch, er ist stärker als ich. Das Wasser steht nicht, es rauscht. Etwas drückt kalt und hart gegen meine Brust. Alles ist weiß. Und immer wenn ich denke, jetzt hört es auf, geht es wieder von vorne los. Ich sehe die Jeans von einem. Jedes Mal wenn der zuckt, kommt kurz danach das Wasser.“
Marco sitzt da wie versteinert. Das einzige, was sich bewegt ist sein Brustkorb. Ich höre seinen hektischen Atem. Er war die ganze Zeit still. Jetzt starrt er mich an, sagt immer noch nichts.
„War nur’n scheiß Alptraum.“, sage ich und blicke ins Feuer.
„Nee.“, sagt Marco. „War nicht nur ‘n scheiß Alptraum. War 2005.“
„2005?“
„Euskirchen, Kinderfreizeit. Da warst du doch auch mit.“
„Ja, klar.“
„Und Marcel. Marcel Behneke.“
„Oh Scheiße, ja. Die alte Ratte.“
„Genau.“
„Meinst du, der hat mich im Freibad gedöppt?“
„Nicht im Freibad.“
„Wo dann?“
„Vergiss es. Ist bestimmt besser, wenn du es nicht mehr weißt.“
Ich sehe es genau vor mir. Ich habe den Geruch wieder in der Nase, höre das Rauschen, bekomme keine Luft, die gleiche Todesangst. Ich kralle mich an Marco fest: „Verdammt!“, zische ich. „Jetzt sag mir endlich, was du weißt. Was ist in Euskirchen passiert?“
„So genau weiß das keiner.“, antwortet Marco erschrocken. „Wir haben dich gefunden, neben der Kloschüssel, bewusstlos und mit nassem Kopf. Thorben hat dich geschüttelt und da bist du wieder zu dir gekommen. Wir waren alle sicher, dass Marcel dahinter steckte, aber wir konnten es ihm nicht beweisen. Und nach dem, woran du dich erinnerst, müssen sie ja mindestens zu zweit gewesen sein.“
„Ihr habt nichts gemacht?“
„Was sollten wir denn machen? Wir wussten doch gar nicht was passiert war. Hätte ja auch sein können, dass du dich selbst im Klo ertränken wolltest. Du wusstest nicht einmal mehr, wie du da hingekommen warst.“
„So ein Schwachsinn! Mich selbst im Klo ertränken.“
„Du glaubst nicht, zu was für Schwachsinn manche Kinder fähig sind. Außerdem warst du danach wieder ganz normal und es ist auch nichts mehr vorgefallen.“
„Wer hat denn damals die Freizeit geleitet?“
„Lena.“
„Ach ja, stimmt, jetzt weiß ich’s wieder. Was hat die denn dazu gesagt?“
„Die hat das gar nicht mitgekriegt.“
„Wie kann man so was nicht mitkriegen?“
„Die hat gerade ein Waldspiel vorbereitet, als wir dich gefunden haben und irgendwie hatten wir Schiss, dass die uns voll ans Kreuz nagelt, weil wir nicht auf dich aufgepasst haben, da haben wir lieber die Klappe gehalten. An dir war ja noch alles dran.“
NW Samstag, 17. Oktober 2015
Bielefeld.
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag haben zwei brutale Gewalttäter einen Jugendlichen im Bereich des neuen Bahnhofsviertels brutal zusammengeschlagen. Sie rangen das Opfer mit Fausthieben zu Boden, rissen ihm dann die Kleider vom Leib und ritzten mit einer Glasscherbe Wunden in Form obszöner Bilder und Begriffe in Brust, Bauch und Rücken. Als eine Gruppe jugendlicher Passanten auf die Szene aufmerksam wurde und sich ihnen rufend näherte, ließen sie von ihrem Opfer ab und ergriffen die Flucht. Mit Hilfe von Handy-Aufnahmen konnten die bereits polizeibekannten Täter schließlich kurze Zeit später gestellt werden. Dario S. 20 und Marcel B. 19 befinden sich zur Zeit in Untersuchungshaft. Beide fielen schon in der Vergangenheit durch Gewaltdelikte auf, jedoch bisher nicht in diesem Ausmaß. Auf die Frage nach dem Tatmotiv äußerte sich nur der 19-Jährige. Es habe sich um Kunst gehandelt, sie hätten nur ein schönes Bild malen wollen und das Opfer ein wenig betäubt, damit es still hielt. Ausgewählt hätten sie ihn, weil er so einen schönen, großflächigen Oberkörper gehabt habe und sie außerdem verächtlich betrachtet hätte. So etwas lasse er sich nicht mehr bieten.
Ich träume wieder von Marcel. Aber er steckt meinen Kopf nicht mehr in die Kloschüssel. Er hält eine blutige Glasscherbe in der Hand und grinst verzückt meinen Oberkörper an. Ich blicke an mir herunter und sehe die Zeichnung eines Phallus auf meinem Oberkörper, aus dem Blut sickert.
„Ich fick dich, Leon.“, sagt er, „Und ich höre nie mehr damit auf.“
Ich schrecke auf. Ich bin noch da. Alles ist nass. Aber hier ist kein Wasser. Ich kann tief durchatmen, da gurgelt auch nichts. Die Dunkelheit weicht schemenhaften Umrissen: über mir gleichförmiges Grau, wohl wegen der Dunkelheit, bei Tageslicht ist es weiß. Da sind Stangen und kompakte Klumpen. Neben mir weiche, unförmige Haufen, die sich minimal bewegen. Ich atme auf. Ich liege im Zelt, neben mir Marek und Malte, da stehen unsere Taschen. Wir sind in Schweden, in dem Land, in dem am wenigsten in ganz Europa Kinder misshandelt werden, darum gibt es hier auch insgesamt weniger Gewalt, auch wenn die skandinavischen Krimis den Eindruck machen, die Nordmänner würden sich alle gegenseitig aufs Abscheulichste dahin meucheln. Nein, diese Kirchenfreizeit ist einer der sichersten Orte der Welt – solange man nicht in das Visier eines Breivik gerät.
Doch was war das? Da rührt sich etwas im See. Im Februar haben wir eine Horrorfilmnacht gemacht: „Freitag der Dreizehnte“. Wir hatten keine Angst, so ein Schwachsinn, so etwas passiert nicht, das denken sich nur kranke Köpfe aus. Es plätschert wieder. Sicher gehen die Mitarbeiter zum Mondschein-Schwimmen. Ja, das wird es sein. Und die Nachtwache ärgert sich, dass sie nicht mitmachen kann. Ich schließe die Augen. Reiße sie wieder auf. Das klingt nicht wie fröhliches Planschen, das klingt nach Todeskampf. Ich schäle mich aus dem Schlafsack. Scheiße, ich bin nicht nur nass geschwitzt, ich habe mir in die Hosen gepisst. Verdammt! Ich schnappe mir die Decke, die zwischen Plane und Luftmatratze liegt, damit die Matratze auf der Plane nicht so quietscht und knatscht. Ist dick, die Wolldecke, da riecht man hoffentlich nichts und wenn ich ins Wasser springen muss, um wen auch immer zu retten, ist danach alles ausgewaschen. Also nichts wie raus aus dem Zelt. Auf dem Platz brennt das Lagerfeuer. Da sitzt die Wache. Die Flammen beleuchten sein Gesicht, es ist Marco. Ich gehe langsam auf ihn zu. Marco wirkt ganz entspannt. Er sieht mich an: „Leon, was ist los?“, fragt er.
„Da plätschert was. Hast du das nicht gehört?“
„Cora und Selina. Die Schwimmen. Aber sag‘s keinem weiter. Bist du davon etwa aufgewacht?“
„Nee. Ich hab‘ schlecht geträumt.“
„Setz dich ans Feuer und erzähl. Mir is‘ langweilig.“
Ich bin dem Traum noch immer nicht vollständig entkommen. Ich beschreibe genau, woran ich mich erinnere. Marco sagt kein Wort. Während ich erzähle, werden die Bilder immer klarer: „Etwas hält mich, ich meine jemand. Er drückt meinen Kopf unter Wasser. Ich kann nicht hoch, er ist stärker als ich. Das Wasser steht nicht, es rauscht. Etwas drückt kalt und hart gegen meine Brust. Alles ist weiß. Und immer wenn ich denke, jetzt hört es auf, geht es wieder von vorne los. Ich sehe die Jeans von einem. Jedes Mal wenn der zuckt, kommt kurz danach das Wasser.“
Marco sitzt da wie versteinert. Das einzige, was sich bewegt ist sein Brustkorb. Ich höre seinen hektischen Atem. Er war die ganze Zeit still. Jetzt starrt er mich an, sagt immer noch nichts.
„War nur’n scheiß Alptraum.“, sage ich und blicke ins Feuer.
„Nee.“, sagt Marco. „War nicht nur ‘n scheiß Alptraum. War 2005.“
„2005?“
„Euskirchen, Kinderfreizeit. Da warst du doch auch mit.“
„Ja, klar.“
„Und Marcel. Marcel Behneke.“
„Oh Scheiße, ja. Die alte Ratte.“
„Genau.“
„Meinst du, der hat mich im Freibad gedöppt?“
„Nicht im Freibad.“
„Wo dann?“
„Vergiss es. Ist bestimmt besser, wenn du es nicht mehr weißt.“
Ich sehe es genau vor mir. Ich habe den Geruch wieder in der Nase, höre das Rauschen, bekomme keine Luft, die gleiche Todesangst. Ich kralle mich an Marco fest: „Verdammt!“, zische ich. „Jetzt sag mir endlich, was du weißt. Was ist in Euskirchen passiert?“
„So genau weiß das keiner.“, antwortet Marco erschrocken. „Wir haben dich gefunden, neben der Kloschüssel, bewusstlos und mit nassem Kopf. Thorben hat dich geschüttelt und da bist du wieder zu dir gekommen. Wir waren alle sicher, dass Marcel dahinter steckte, aber wir konnten es ihm nicht beweisen. Und nach dem, woran du dich erinnerst, müssen sie ja mindestens zu zweit gewesen sein.“
„Ihr habt nichts gemacht?“
„Was sollten wir denn machen? Wir wussten doch gar nicht was passiert war. Hätte ja auch sein können, dass du dich selbst im Klo ertränken wolltest. Du wusstest nicht einmal mehr, wie du da hingekommen warst.“
„So ein Schwachsinn! Mich selbst im Klo ertränken.“
„Du glaubst nicht, zu was für Schwachsinn manche Kinder fähig sind. Außerdem warst du danach wieder ganz normal und es ist auch nichts mehr vorgefallen.“
„Wer hat denn damals die Freizeit geleitet?“
„Lena.“
„Ach ja, stimmt, jetzt weiß ich’s wieder. Was hat die denn dazu gesagt?“
„Die hat das gar nicht mitgekriegt.“
„Wie kann man so was nicht mitkriegen?“
„Die hat gerade ein Waldspiel vorbereitet, als wir dich gefunden haben und irgendwie hatten wir Schiss, dass die uns voll ans Kreuz nagelt, weil wir nicht auf dich aufgepasst haben, da haben wir lieber die Klappe gehalten. An dir war ja noch alles dran.“
NW Samstag, 17. Oktober 2015
Bielefeld.
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag haben zwei brutale Gewalttäter einen Jugendlichen im Bereich des neuen Bahnhofsviertels brutal zusammengeschlagen. Sie rangen das Opfer mit Fausthieben zu Boden, rissen ihm dann die Kleider vom Leib und ritzten mit einer Glasscherbe Wunden in Form obszöner Bilder und Begriffe in Brust, Bauch und Rücken. Als eine Gruppe jugendlicher Passanten auf die Szene aufmerksam wurde und sich ihnen rufend näherte, ließen sie von ihrem Opfer ab und ergriffen die Flucht. Mit Hilfe von Handy-Aufnahmen konnten die bereits polizeibekannten Täter schließlich kurze Zeit später gestellt werden. Dario S. 20 und Marcel B. 19 befinden sich zur Zeit in Untersuchungshaft. Beide fielen schon in der Vergangenheit durch Gewaltdelikte auf, jedoch bisher nicht in diesem Ausmaß. Auf die Frage nach dem Tatmotiv äußerte sich nur der 19-Jährige. Es habe sich um Kunst gehandelt, sie hätten nur ein schönes Bild malen wollen und das Opfer ein wenig betäubt, damit es still hielt. Ausgewählt hätten sie ihn, weil er so einen schönen, großflächigen Oberkörper gehabt habe und sie außerdem verächtlich betrachtet hätte. So etwas lasse er sich nicht mehr bieten.
Ich träume wieder von Marcel. Aber er steckt meinen Kopf nicht mehr in die Kloschüssel. Er hält eine blutige Glasscherbe in der Hand und grinst verzückt meinen Oberkörper an. Ich blicke an mir herunter und sehe die Zeichnung eines Phallus auf meinem Oberkörper, aus dem Blut sickert.
„Ich fick dich, Leon.“, sagt er, „Und ich höre nie mehr damit auf.“
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Dienstag, 31. Mai 2016
Endstation Apfelbaum – Kurzkrimi Teil II
c. fabry, 11:18h
„Dieser Fedder hat auf jeden Fall ein wasserdichtes Alibi.“, beklagte Kerkenbrock sich enttäuscht.
„Er muss ja nicht selbst an den Bremsen manipuliert haben.“, überlegte Keller. „So ein Sesselpupser wie der ist dazu vermutlich auch gar nicht in der Lage. Bestimmt gibt es unter den harten Jungs im Jugendzentrum den einen oder anderen, der noch eine Rechnung mit Unger offen hatte und den hat er angeheuert.“
„Dazu müsste er Kontakt zu den Jugendlichen haben, aber dafür ist er sich sicher zu fein. Der stellt sich effektvoll aufs Foto und weiß hinterher nur, wer neben ihm stand, weil die Presseleute das unters Foto geschrieben haben. Aber vielleicht kennt er jemanden, der jemanden kennt...“
Zufrieden zündete Jan-Hendrik sich eine Zigarette an. Die Polizei ermittelte also in Richtung Diakonie, bestenfalls noch unter den Schwarzköpfen im Jugendzentrum. Tja, so musste es Martin gehen: Wer sich immer wieder betont von der Kirchengemeinde distanzierte, der musste sich nicht wundern, wenn er nicht mehr mit ihr in Verbindung gebracht wurde. Jetzt würde bald ein anderer Wind wehen. Julia würde sich auch an einen völlig anders gestrickten Kollegen anpassen, die wollte einfach nur ihre Ruhe haben. Mit Murat, das hatte ja auch schon reibungslos funktioniert, seit Jochen da war, wehte auch bei dem Erfolgsprojekt ein anderer Wind. Er hätte Martin ja auch gern was angehängt, damit man ihn raus warf, aber der war einfach viel zu sehr auf der Hut gewesen. Musste er eben den finalen Abgang machen, das hatte er jetzt davon. Und wer kam schon darauf, dass einer, der am Wochenende an seinem Modellauto bastelt, sich auch mit großen Motoren auskennt, wenn er doch die Woche über am Schreibtisch sitzt? Wenn sie überhaupt einen dingfest machen würden, dann einen von den verfluchten Schwarzköpfen, am besten gleich den ganzen Haufen und dann würde hier vielleicht endlich mal wieder so etwas wie Gemeindejugendarbeit entstehen.
Konstanze Flegel betrat das Büro der Kriminalkommissare. „Die haben bei der KTU was Unglaubliches gefunden: Im Motorblock steckte ein Stofftaschentuch. Ist noch nicht ganz verkohlt und jede Menge Rotz drin, aus dem ich die DNA isolieren kann.“
Keller stöhnte genervt und sagte dann: „Ohne Ermittlungsansatz ist das aber die berühmte Nadel im Heuhaufen. Außerdem war der Mörder entweder ein totaler Idiot, dass er sein Taschentuch vergessen hat oder er hat gezielt das Taschentuch eines Anderen platziert, um den Verdacht auf ihn zu lenken.“
„Wer rechnet denn damit, dass von der Rotzfahne was übrig bleibt?“, fragte Kerkenbrock unwirsch.
„Gibt's ein Monogramm?“, erkundigte sich Keller.
Konstanze Flegel blickte ihn ungläubig an: „Sind wir Teil eines sechziger Jahre-Krimis?“
„Hätte ja sein können. Aber wer benutzt heute noch Stofftaschentücher?“
„Ein paar Nerds und vermutlich adrette, unauffällige Reaktionäre“, überlegte Kerkenbrock. „die sich nach den guten alten Zeiten sehnen, ihre Bakelit-Lichtschalter bei Manufactum bestellen und heimlich AfD wählen.“
„Meinen Sie, solchen Vögeln wäre Unger ein Dorn im Auge?“, fragte Keller.
„Aber ganz bestimmt. Die wollen Konfirmanden-Gruppen in ihrem Jugendzentrum sehen, keine perspektivlosen, kirchenfernen Jugendlichen, schon gar nicht solche aus einem anderen Kulturkreis.“
„Aber ist die Suche da nicht auch uferlos?“
„Nicht unbedingt. Wir fangen beim Kern der Kirchengemeinde an: Pfarrer und Presbyterium und arbeiten uns dann in konzentrischen Kreisen immer weiter nach außen vor, aber vielleicht wird das gar nicht nötig sein und wir werden schon am Anfang fündig.“
Keller streckte sich so gut es eben ging auf dem Beifahrersitz aus. Er war ein ganze Stunde bei der Kriminaltechnik gewesen und hatte sich eingehend mit den Spuren am Autowrack beschäftigt. „Zu wem fahren wir jetzt eigentlich?“, fragte er seine junge Kollegin. „Ich habe Sie die ganze Zeit machen lassen und bin gar nicht im Bilde. Haben Sie das Presbyterium zusammen getrommelt?“
„Nein, wir suchen zuerst den Jugendpresbyter auf, der wird sicher mehr wissen als alle anderen.“
„Und wie heißt der?“
„Jan-Hendrik Ohlendorf.“
ENDE
„Er muss ja nicht selbst an den Bremsen manipuliert haben.“, überlegte Keller. „So ein Sesselpupser wie der ist dazu vermutlich auch gar nicht in der Lage. Bestimmt gibt es unter den harten Jungs im Jugendzentrum den einen oder anderen, der noch eine Rechnung mit Unger offen hatte und den hat er angeheuert.“
„Dazu müsste er Kontakt zu den Jugendlichen haben, aber dafür ist er sich sicher zu fein. Der stellt sich effektvoll aufs Foto und weiß hinterher nur, wer neben ihm stand, weil die Presseleute das unters Foto geschrieben haben. Aber vielleicht kennt er jemanden, der jemanden kennt...“
Zufrieden zündete Jan-Hendrik sich eine Zigarette an. Die Polizei ermittelte also in Richtung Diakonie, bestenfalls noch unter den Schwarzköpfen im Jugendzentrum. Tja, so musste es Martin gehen: Wer sich immer wieder betont von der Kirchengemeinde distanzierte, der musste sich nicht wundern, wenn er nicht mehr mit ihr in Verbindung gebracht wurde. Jetzt würde bald ein anderer Wind wehen. Julia würde sich auch an einen völlig anders gestrickten Kollegen anpassen, die wollte einfach nur ihre Ruhe haben. Mit Murat, das hatte ja auch schon reibungslos funktioniert, seit Jochen da war, wehte auch bei dem Erfolgsprojekt ein anderer Wind. Er hätte Martin ja auch gern was angehängt, damit man ihn raus warf, aber der war einfach viel zu sehr auf der Hut gewesen. Musste er eben den finalen Abgang machen, das hatte er jetzt davon. Und wer kam schon darauf, dass einer, der am Wochenende an seinem Modellauto bastelt, sich auch mit großen Motoren auskennt, wenn er doch die Woche über am Schreibtisch sitzt? Wenn sie überhaupt einen dingfest machen würden, dann einen von den verfluchten Schwarzköpfen, am besten gleich den ganzen Haufen und dann würde hier vielleicht endlich mal wieder so etwas wie Gemeindejugendarbeit entstehen.
Konstanze Flegel betrat das Büro der Kriminalkommissare. „Die haben bei der KTU was Unglaubliches gefunden: Im Motorblock steckte ein Stofftaschentuch. Ist noch nicht ganz verkohlt und jede Menge Rotz drin, aus dem ich die DNA isolieren kann.“
Keller stöhnte genervt und sagte dann: „Ohne Ermittlungsansatz ist das aber die berühmte Nadel im Heuhaufen. Außerdem war der Mörder entweder ein totaler Idiot, dass er sein Taschentuch vergessen hat oder er hat gezielt das Taschentuch eines Anderen platziert, um den Verdacht auf ihn zu lenken.“
„Wer rechnet denn damit, dass von der Rotzfahne was übrig bleibt?“, fragte Kerkenbrock unwirsch.
„Gibt's ein Monogramm?“, erkundigte sich Keller.
Konstanze Flegel blickte ihn ungläubig an: „Sind wir Teil eines sechziger Jahre-Krimis?“
„Hätte ja sein können. Aber wer benutzt heute noch Stofftaschentücher?“
„Ein paar Nerds und vermutlich adrette, unauffällige Reaktionäre“, überlegte Kerkenbrock. „die sich nach den guten alten Zeiten sehnen, ihre Bakelit-Lichtschalter bei Manufactum bestellen und heimlich AfD wählen.“
„Meinen Sie, solchen Vögeln wäre Unger ein Dorn im Auge?“, fragte Keller.
„Aber ganz bestimmt. Die wollen Konfirmanden-Gruppen in ihrem Jugendzentrum sehen, keine perspektivlosen, kirchenfernen Jugendlichen, schon gar nicht solche aus einem anderen Kulturkreis.“
„Aber ist die Suche da nicht auch uferlos?“
„Nicht unbedingt. Wir fangen beim Kern der Kirchengemeinde an: Pfarrer und Presbyterium und arbeiten uns dann in konzentrischen Kreisen immer weiter nach außen vor, aber vielleicht wird das gar nicht nötig sein und wir werden schon am Anfang fündig.“
Keller streckte sich so gut es eben ging auf dem Beifahrersitz aus. Er war ein ganze Stunde bei der Kriminaltechnik gewesen und hatte sich eingehend mit den Spuren am Autowrack beschäftigt. „Zu wem fahren wir jetzt eigentlich?“, fragte er seine junge Kollegin. „Ich habe Sie die ganze Zeit machen lassen und bin gar nicht im Bilde. Haben Sie das Presbyterium zusammen getrommelt?“
„Nein, wir suchen zuerst den Jugendpresbyter auf, der wird sicher mehr wissen als alle anderen.“
„Und wie heißt der?“
„Jan-Hendrik Ohlendorf.“
ENDE
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