Samstag, 21. Juni 2025
2nd Spoiler 18
1989
Von den historisch bedeutsamen Momenten des Jahres 1989 bekam Ulrich nichts mehr mit. Er starb bereits im düsteren Januar, mitten in einem Winter des Abschieds und des kraftlosen Dahindämmerns. Für Renate war der frühe Tod ihres Ehemannes mehr als sie ertragen konnte. Sie war antriebslos und reizbar und brach sehr oft in Tränen aus.
Auch für Sigrid fühlte der Verlust des Vaters sich an wie das Ende aller Dinge.
Die 69-jährige Hildegard war die Einzige, die die schwierige Situation ertrug und der es gelang, das Leben in der Familie und im Gasthof aufrechtzuerhalten. Sie musste funktionieren, sagte sie sich. Es ging ja nicht anders. Sie machte Ansagen, erteilte Anweisungen und organisierte Hilfe von außen. Nachbarinnen, die mit kochten und kellnerten, Freunde und Verwandte, die Einkäufe erledigten, den Pfarrer, damit er sich einmal professionell mit den Trauernden unterhielt, den Hausarztbesuch, wenn ihre Tochter oder Enkelin gar nicht mehr aus dem Bett kamen.
Weil sie so eine gute Seele war, bekam sie auch sehr viel Unterstützung, doch sie wusste, dass dieser Zustand nicht lange andauern durfte, das hielt niemand durch.

So sehr Sigrid auch unter dem Verlust ihres engsten Vertrauten und Verbündeten litt: die in ihrer hilflosen Trauer gefangene Mutter mobilisierte Kräfte in ihr, die sie wieder aktiv werden ließen und diese Selbstwirksamkeit half ihr, die eigenen Wunden zu heilen.
Renate lag in Embryostellung bitterlich weinend in ihrer Hälfte des Ehebettes. Instinktiv vermied Sigrid es, sich auf die leere Hälfte ihres Vaters zu legen. Stattdessen setzte sie sich neben ihre Mutter und streichelte tröstend ihren Rücken.
„Soll ich uns Kakao machen, Mama?“, fragte sie leise und liebevoll. „Oma hat einen Marmorkuchen gebacken.“
„Gute Idee.“, seufzte Renate und obwohl sie sich am liebsten für immer in diesem Ehebett vergraben hätte, erkannte sie die Bemühung und die Liebe, die hinter der zaghaften Frage ihrer Tochter steckte. Sie musste sich zusammenreißen, die dargebotene Geste dankbar annehmen und am Leben bleiben.

Was zu einem Bruch im Verhältnis zwischen Mutter und Tochter hätte werden können, verstärkte stattdessen die Bindung und ließ das gegenseitige Mitgefühl stetig wachsen.

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