Freitag, 8. November 2024
2nd Spoiler 8
1970
Erste Lieben halten oft nicht länger als zwei Jahre. Die streitbare Renate wurde Klaus irgendwann zu anstrengend; man musste das, was man wollte, doch auch bekommen können, ohne stetige Schimpftiraden und unvorhergesehene Vulkanausbrüche. Schon bald verliebte er sich in ein sanfteres Wesen und beendete die Beziehung zu Renate.
„Gut, dass ich auf mich aufgepasst habe und keinen Bastard von dir an der Backe habe.“, lautete ihr einziger Kommentar. Doch innerlich war sie tief getroffen und verletzt von der unerwarteten Zurückweisung. Sie fühlte sich abgewertet, ausrangiert, benutzt und weggeworfen. Doch sie war zu stolz, sich diese demütigende Verletzlichkeit anmerken zu lassen.

Der Liebeskummer hätte Renate zum Fallstrick werden können, aber das gönnte sie Klaus nicht. Sie stürzte sich stattdessen mit aller Kraft in die Vorbereitungen für ihre Gesellinnen-Prüfung und schloss sie glücklich mit sehr guten Bewertungen ab. Für großartige Feierlichkeiten oder irgendeine Auszeit gab es aber keinen Raum. Im Gasthof musste ein Ereignis nach dem anderen bewältigt werden und Aushilfen waren knapp, weil die Erntezeit alle brauchbaren Landfrauen auf ihren Höfen in Anspruch nahm. Renate hatte vom Betrieb ein Übernahme-Angebot bekommen und dazu ein paar Wochen Bedenkzeit, aber sie fand nie den passenden Augenblick, ihren Eltern diese wunderbare Perspektive zu eröffnen, weil die nun vor allem froh waren, dass ihre Ausbildung abgeschlossen war und sie über die volle Arbeitskraft ihrer Tochter verfügen konnten.

Renate war fest entschlossen, ihrem Ausbildungsbetrieb zuzusagen, aber nicht, bevor sie diesen Entschluss nicht ihren Eltern mitgeteilt und deren Segen erhalten hatte. Sie fand, dass so ein geregeltes Einkommen in der Familie ja auch kein schlechtes Standbein war, falls die Geschäfte einmal nicht so liefen, wie sie sollten.

Anfang November hatte sich eine große Jagdgesellschaft angekündigt. Es gab unendlich viel zu tun mit Einkäufen, Bestellungen, umfangreichen Vorbereitungen in der Küche und bei der Dekoration der Gasträume. Darüber hinaus war abzusehen, dass im Anschluss ein exorbitanter Putzmarathon anstand, denn die Jäger schleppten einen halben Acker und ein kleines Waldstück an ihren Stiefeln in den Gasthof und die letzten sauberen Flächen wurden von den verdreckten Hunden verschmutzt. Entsprechend hoch war der Stresspegel bei Hildegard und Heinrich und übertrug sich auch auf Renate.
Es gab Schwierigkeiten mit dem Bierlieferanten, viel Aufregung und Ärger, bis die Fässer in letzter Minute doch noch in den Keller gerollt wurden.
Für die Jagdgesellschaft selbst war diese Anspannung nicht erkennbar. Sie verlebten einen formidablen Abend voller Horridos, voller deftiger Teller, zischender Biere und bitterer Schnäpse.
Als der letzte Gast gegangen war, atmete Heinrich einmal tief ein und wieder aus. Der nächste Atemzug wollte nicht recht gelingen, da klemmte etwas im Gebälk, er sah das gedämpfte Licht im Schankraum schwächer werden und schließlich ganz verlöschen.

Hildegard räumte noch immer gemeinsam mit Renate die Küche auf und wunderte sich irgendwann, dass aus dem Gastraum so gar kein Gläserklappern oder Stühlerücken mehr zu vernehmen war. Sie sah nach ihrem Mann und konnte ihn zunächst nirgends finden, doch dann entdeckte sie seine Schuhe, die hinter der Theke hervorlugten.Blick und wusste schlagartig, dass nichts mehr so werden würde, wie es war.

Nach der ersten Aufregung und ein paar Stunden unruhigen Schlafes stand Hildegard in der Dunkelheit auf und schaffte Ordnung, kochte sich einen starken Kaffee und als die ersten Sonnenstrahlen die Verbindung zur Außenwelt wiederherstellten, schlüpfte sie in ihren Mantel, schlug ein wollenes Tuch um den Kopf und ging an die frische Luft. Einen Spaziergang in der Natur hatte sie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht unternommen. Während sie einen Fuß vor den anderen setzte und die eisige Morgenluft einsog, als wollte sie die trüben Gedanken in ihrem Kopf hinaus lüften, klärte sie für sich, welche Schritte als nächstes zu unternehmen waren und wie es künftig weitergehen könnte mit ihrem Leben, dem Gasthof und Renate.

Renate dagegen blieb an diesem Morgen so lange es ging im Bett liegen. Hellwach aber wie gelähmt von dem gewaltsamen Hieb des Todes, dessen plötzlicher Einbruch sie mit einer solchen Wucht getroffen hatte, dass sie sogar im Liegen taumelte, entsetzt, fassungslos, ohne jegliche Orientierung. Ihre Gedanken kreisten zunächst ausschließlich um die Ungeheuerlichkeit, dass die Existenz ihres Vaters von einem Augenblick auf den anderen ausgelöscht war. Unwiderruflich. Für immer.
Das zu begreifen, kostete sie weitaus mehr Kraft, als sie sich jemals hätte vorstellen können.
Dann beschritt sie die nächste Stufe: Wie würde in ihrem Zuhause das Leben weitergehen? Würde es überhaupt weitergehen? Auf welche Veränderungen musste sie sich einstellen? Wie würde ihre Mutter diesen Schicksalsschlag verkraften?
Und schließlich beschäftigte sie sich mit ihrer eigenen Rolle in diesem Drama je länger sie darüber nachdachte, umso unausweichlicher schien ihr die Verpflichtung, ihre Mutter mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft zu unterstützen. Schweren Herzens nahm sie Abschied vom Traum von einer eigenständigen Berufstätigkeit, einer inhaltlichen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit, einer eigenen Identität losgelöst vom Elternhaus. Sie wurde gebraucht und konnte ihre Mutter nicht hängen lassen.

Als Hildegard vom Spaziergang zurückkehrte, hatte Renate bereits den Frühstückstisch gedeckt.
„Mama“, sagte sie. „Ich halte zu dir. Zusammen halten wir den Laden zusammen. Und jetzt musst du was esse, damit du bei Kräften bleibst. Ich brauche dich noch.“
Hildegard sank schluchzend in die Arme ihrer so schnell erwachsen gewordenen Tochter. „Ja“, dachte sie, „zusammen können wir das schaffen, mein Mädchen und ich.“

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