Samstag, 7. September 2024
Schweinemarkt
Liz trug den Rucksack mit den paar Besorgungen aus dem Supermarkt nach Hause. Heute wählte sie den Weg über den Varkensmarkt – zu deutsch: Schweinemarkt. Die frisch pechschwarz gestrichene ehemalige Scheune mit angeschlossenem Schweinestall hatte Zuwachs bekommen: ein scheußlicher, nahezu blickdichter Zaun aus vermeintlichem Naturmaterial säumte ein riesiges Grundstück mitten im Ort, den Pfarrgarten. Die besonders gestrenge protestantische Gemeinde „De Levensbron“ (der Lebensbrunnen) hatte das Gemeindehaus renoviert und im ehemaligen Schweinestall eine luxuriöse Pfarrwohnung mit angrenzendem großzügigen Garten eingerichtet.
Liz linste durch die winzigen Lücken im Zaun und schüttelte mit dem Kopf. Überall war Material von bester Qualität verbaut worden und mitten auf der Rasenfläche befand sich ein fest installiertes Trampolin aus stabilen Gummisträngen, mit einer Vertiefung unterhalb. Wenn sie es leid waren, konnten sie einen Saunapool oder einen Teich daraus machen.
Irritierend erschien es ihr hingegen, dass ein Mann mit dem Kopf auf dem Trampolin ruhte, während der restliche Körper seltsam verrenkt im taufeuchten Gras lag. Liz lief ein Schauer des Grauens über den Rücken. Hier stimmte etwas nicht. Sie rief die Polizei.

Der grausame Tod ihres auf rätselhafte Weise ums Leben gekommenen Pfarrers verbreitete sich in Windeseile unter den Gemeindegliedern des Levensbron und sorgte für haltloses Entsetzen. Erdrosselt von einem Lederriemen, der sich im Trampolin verfangen hatte; welch ein grausames Schicksal für einen liebevollen Familienvater in der Blüte seiner Jahre. Und so ungerecht.

Bei den Gemeindegliedern der reformierten Kirche war das Entsetzen ebenfalls groß. Schließlich war ein Mensch ums Leben gekommen, dazu ein Christ, wenn er auch einem schauderhaft andersartigen Bekenntnis angehörte. Allerdings regten sich ebenfalls zynische Stimmen, die einen autoerotischen Unfall nicht ausschlossen. Bei diesen doppelt Gebrannten von der „Hervormde Kerk“ war die Tabuisierung vieler Sinnlichkeiten so ausgeprägt, dass dies leicht einmal Perversionen oder zumindest sexuelle Entgleisungen nach sich ziehen konnte.

Frederik staunte über das Aufgebot an Polizeiautos im Ortskern von Goedereede. Was konnte in so einem verschlafenen Nest schon los sein? Oder hatte sich am Ende ein Terrorist irgendwo hier verschanzt? Letzte Nacht hatte er noch eine gemütliche Runde in der friedlichen Stille gedreht, war einmal über den blickdichten Zaun beim Schweinemarkt gestiegen, um das dort angelegte architektonische Grauen aus der Nähe zu bestaunen und hatte dann noch einen Spaziergang um den Hafen unternommen. Ihm war nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

Afina fühlte sich wie ferngesteuert, als der Radiologe ihr die erschütternde Wahrheit übermittelte: Ein kirschgroßes Mammakarzinom, das offenkundig bereits metastasiert hatte. Das war auch die Erklärung für sämtliche Befindlichkeitsstörungen, Schwindelattacken und Ausfallerscheinungen. Die Metastasen hatten sich an vielen Organen gebildet, auch im Gehirn und der Arzt erklärte, dass ihr nach seiner Einschätzung bei Ausschöpfung aller therapeutischen Möglichkeiten noch maximal ein Jahr Lebenszeit bleibe. Er empfahl ihr, direkt Kontakt zu einem Palliativ-Zentrum aufzunehmen.
„Natürlich“, dachte sie. „Kinderlosigkeit ist ein Risikofaktor. Langstillerinnen erwischt es seltener. Dazu die hormonelle Berg- und Talfahrt, verursacht durch Frühschwangerschaft und Abbruch. Bestimmt gab es Leute, die darin die gerechte Strafe des Himmels vermuteten. Aber müsste der Vater dann nicht ebenfalls erkranken? Krebs und Verlust der Hände, mit deren Arbeit er eigentlich ein Kind hätte ernähren sollen? Sie weigerte sich, dieses Schicksal als Strafe zu begreifen. Sie war einfach nur unsagbar wütend.

Die Gemeindeleitung des Levensbron traf sich aus gegebenem Anlass zu einer Krisensitzung.
„Es sieht nach Mord aus.“, sagte Jan Dijkstra.
„Aber wer tut so etwas?“, fragte Laura De Wit mit großen Augen.
„Die Reformierten.“, erwiderte Piet van den Brock. „Deren Pastor guckt doch schon von Anfang an neidisch auf unser renoviertes Gemeindezentrum und die elegante Pfarrwohnung mit dem wunderschönen, großzügigen Garten. Der macht schon länger Druck, dass er auch so etwas haben will, und jetzt hat es einem gereicht und er denkt vielleicht, dass unser Pfarrer Schuld ist, dass es bei den Refomierten Gezänk gibt. Vielleicht denkt er, dass sein Pastor aufhört zu quengeln, wenn er sieht, wie es dem Kollegen ergeht, den er beneidet hat.“

Das Gemeindehaus der Reformierten Kirche blieb heute geschlossen, aber viele trafen sich beim Einkaufen im Supermarkt, den die vom Levensbron nicht betraten, weil der Besitzer ein Reformierter war.
„Die hatten genug von ihrem gierigen Pfarrer.“, erklärte Lisbeth Hoekstra. „Will frommer sein als wir Reformierten und kann vom Luxus nicht genug bekommen.“
„Na, das hätte unser Pastor ja auch gern, Lisbeth, das hast du doch neulich bei der Gemeindeversammlung mitbekommen.“, erklärte Aaltje Visser.
„Aber wir geben ihm das nicht.“, meinte Lisbeth. „Und vielleicht hatten die vom Levensbron das auch nicht vor. Wer weiß, womit der Pfarrer wen erpresst hat, damit er kriegt, was er will. Und vielleicht wollte er immer noch mehr und da hat der Erpresste eben ein Ende gemacht. Hört man doch immer wieder.“
„Wo hörst du denn sowas?“, fragte Aaltje.
„Im Fernsehen.“, meinte Lisbeth
„Ja, im Fernsehen.“, hielt Aaltje dagegen. „Das passiert dann vielleicht in Rotterdam, Utrecht oder Amsterdam, aber doch nicht hier auf Goeree. Das sind doch Räuberpistolen.“
„Irgendwer hat‘s getan.“, erwiderte Lisbeth und dieses Schlusswort verhallte in der betretenen Stille.

Ermittler:innen der Rotterdamer Mordkommission arbeiteten mit den örtlichen Polizeikräften zusammen. Nachbarn wurden ebenso befragt wie die Angehörigen des Opfers und die Mitglieder der Kirchengemeinde. Die kriminaltechnischen und pathologischen Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass der Pfarrer mit einem Lederriemen stranguliert worden war, den ein kleiner Engel aus blauem Halbedelstein zierte. Eine Halskette, die seine Frau jedoch nie zuvor gesehen haben wollte.
Nachbarn hatten in den frühen Nachtstunden beobachtet, wie jemand über den Zaun geklettert war. Sie hatten die Polizei nicht eingeschaltet, weil der Eindringling kurze Zeit später zurück geklettert sei und nichts bei sich hatte. Man konnte ja nicht wissen, ob es ein Angehöriger war, darum habe man kein unnötiges Getöse veranstalten wollen. Aber nun sei ja ein Mord geschehen und man habe vielleicht den Mörder beobachtet.
Die Anfertigung einer Phantomzeichnung erübrigte sich, als der Zeuge plötzlich in einem Passanten den nächtlichen Kletterer erkannte.

Afinas Gedanken kreisten um Maarten. Das hatten sie eigentlich immer getan. Er hatte ihr Herz erobert, obwohl sie ihm anfänglich nichts abgewinnen konnte. Danach hatte sie aus Rücksicht auf seinen Ehestand versucht, Abstand zu wahren, aber er hatte nicht locker gelassen, bis sie schließlich in Afinas Bett gelandet waren. Was im Affekt begann, wurde zu einer regelmäßigen Gewohnheit und obwohl er darauf drängte, es geheim zu halten, hatte sie gehofft, er brauche nur Zeit, um einen Weg zu finden, für immer mit ihr zusammen zu sein.
Mit ihrer Schwangerschaft wurde er einsilbig und distanziert. Er hatte ihr klar gemacht, dass er seine Frau nicht verlassen konnte, denn das wäre sein berufliches Ende gewesen. Sie hatte ihn angefleht, er könne doch auch irgendwie anders Geld verdienen, die Hauptsache sei doch, dass sie zusammen blieben. Aber das hatte er anders gesehen. Und so hatte sie sich damals zu dem Abbruch entschlossen, gegen ihre Überzeugung. Sie gab ihm die Schuld dafür. Er hatte sie nie zu dem Abbruch gedrängt, aber er hatte sie dazu getrieben, indem er sich weigerte, Verantwortung für die Frucht ihrer Liebe zu übernehmen. Es war seine Schuld, dass sie nun sterbenskrank war. So hatte er ihr Leben gleich dreifach zerstört.

Frederik zog die Augenbrauen hoch, als gleich drei Polizisten ihn umringten und ihn aufforderten, sie zu begleiten. Er war sich keines Vergehens bewusst und die Vernehmung zog sich eine ziemliche Weile hin, bis er schließlich begriff, was den Anlass zu seiner Verhaftung gegeben hatte. Er war ja wegen seiner großen Neugier nachts in den Garten geklettert, in dem kurz darauf jemand ermordet worden war. Dabei hatte ihn wohl jemand beobachtet. Und nun gelang es ihm nicht, die Polizei davon zu überzeugen, dass sein Ansinnen gänzlich harmloser Natur gewesen war, wenn es auch den Tatbestand des Hausfriedensbruchs erfüllte. Aber er hatte ja niemandes Frieden stören wollen, nur ein bisschen umsehen. Doch die Polizisten hatten dazu ihre ganz eigene Theorie. Was auch immer er in dem Garten gewollte habe, er sei wohl vom Pfarrer überrascht worden und habe ihn dann in einem Anflug von Panik erdrosselt.

Nach vielen Jahren kamen die Gemeindeglieder der Reformierten und des Levensbron wieder ins Gespräch und damit in ein friedliches Fahrwasser. Der Angriff eines unbekannten Zugezogenen auf einen braven Goedereeder Christenmenschen einte sie. Es hätte jeden von ihnen treffen können und der gemeinsame Feind machte sie solidarisch. Am Ende luden die vom Levensbron die Reformierten zum Gedenkgottesdienst ein und deren Pfarrer übernahm die Liturgie und die Predigt, um niemanden von außen bemühen zu müssen.

Als Piet van den Brock nach der Trauerandacht vor die Tür trat, traute er seinen Augen nicht: Frederik Smeets, der zugezogene, mutmaßliche Mörder lief frei und unbehelligt durch die Straßen. Er stürmte sofort zurück ins Gemeindezentrum, um alle zu warnen. Der Mörder sei ausgebrochen. Er alarmierte die Polizei.
Diese teilte ihm mit, mit Smeets Freiheit habe es seine Richtigkeit, die Faktenlage hätte ergeben, dass er als Täter nicht infrage käme. Wegen der noch laufenden Ermittlungen durfte der Polizist ihm nicht erklären, dass Frederik Smeets nachts um ein Uhr im Garten gesehen worden war und auch, wie er ihn nach wenigen Minuten wieder verlassen hatte, dass der Tod des Opfers aber frühestens um vier Uhr Morgens eingesetzt hatte.

Afina fand, sie habe ein Recht auf eine Begegnung, eine Konfrontation mit den Folgen der Zurückweisung. Sie musste keinerlei Nachforschungen anstellen, um herauszubekommen, wohin es Maarten verschlagen hatte. Sie wollte sich aber zunächst ein Bild von den örtlichen Gegebenheiten machen, damit sie sich besser auf das Gespräch vorbereiten konnte. Im Schutz der Dunkelheit suchte sie das schlafende Dorf auf, in dem er sich niedergelassen hatte. Sie schob etwas von dem Naturmaterial im dichten Gartenzaun beiseite. Mit der Taschenlampe ihres Mobiltelefons leuchtete sie das Gelände aus.
Ein Luxustrampolin. Er hatte also Kinder, zumindest eines. Seiner Frau bot er das Leben, das sie sich an seiner Seite erträumt hatte, während er Afina weggestoßen hatte. Sie wurde kreuzwütend. Alles hatte er ihr genommen und nun auch noch das Leben. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

In den Räumen des Levensbron summte es wie in einem Bienenstock. Hier herrschte aber keine segensreiche fröhliche Geschäftigkeit sondern wütender Aufruhr gegen einen Staat, der seine rechtschaffenen Bürger nicht vor gemeinen Verbrechern beschützte.
„Wenn die Polizei nichts unternimmt, müssen wir etwas tun. Nehmt, was ihr gerade findet und lasst uns die Sache selbst in die Hand nehmen.“, sagte Piet. Und so geschah es: Suppenkellen, Brotmesser, Gartengeräte, Schuhlöffel – alles, was als Hiebwaffe geeignet erschien, wurde gepackt. Dann setzte der christliche Mob sich in Bewegung, geeint durch den vermeintlich gerechten Zorn der vermeintlich Anständigen.
Sie kamen an Frederik Smeets Haus, brüllten, er solle heraus kommen. Und als er dem verständlicherweise nicht nachkam, drangen sie gewaltsam ein und schnappten ihn sich. Seinen Unschuldsbeteuerungen schenkte niemand Beachtung. Schläge, Tritte und Schnitte ließen ihn innerhalb von Minuten zu einem bewusstlosen Haufen Fleisch zusammensacken. Eine Nachbarin hatte sofort die Polizei gerufen und auch zu einem Krankenwagen geraten.
Frederik kam schwer verletzt ins Krankenhaus und der Christenmob wurde geschlossen in eine große Arrestzelle verbracht.

Afina glitt auf dem alten Boot ihrer Eltern in der Dämmerung über die sich sanft kräuselnde See. Sie hatten in den letzten Jahren keine Kraft mehr gehabt, es angemessen instand zu halten, vielleicht gab es irgendwo ein Leck im Rumpf, aber das spielte nun keine Rolle mehr. Die vergangenen Stunden ploppten in blitzartigen Momentaufnahmen immer wieder vor ihr auf. Der Blick auf das Trampolin. Der gepflegte Rasen, die hochwertigen Gartenmöbel auf der sauber gepflasterten Terrasse. Der Griff nach der Halskette, der letzten Verbindung zu Maarten, seinem letzten Geschenk an sie. Maarten, der in die Nacht hinaustrat, zum Morgengebet vor Sonnenaufgang. Das Ringen in ihrer Brust zwischen Entzücken und glühendem Zorn, zwischen uralter Sehnsucht und explosiver Wut. Wie ihre Lippen zunächst lautlos seinen Namen formten und ihn dann hinausschrien. Wie er sie herein gelassen hatte und sie dann gebeten, um Himmels Willen nicht so herumzuschreien. Wie sie ihn konfrontiert hatte, mit allem, ihrem Leiden, seinem perfekten Leben, den Folgen seines Rücksichtslosen Verhaltens; wie er alles von sich gewiesen hatte, weil es so lange zurücklag und man irgendwann auch wieder nach vorn schauen müsse. Sie hatte ihm die Kette hingehalten, den blauen Engel am schwarzen Lederband. Er hatte vorgegeben, das Kleinod nicht zu erkennen. Da war es aus ihr herausgebrochen. Alle Kräfte hatte sie auf einmal mobilisiert. Sie hatte ihn umgerannt, überwältigt, ihm den Lederriemen um den Hals geschlungen und weil er zufällig mit dem Kopf auf dem Trampolin gelandet war, hatte sie den Riemen mehrfach um die stabilen Gummistränge geschlungen, die ein grobmaschiges Netz bildeten.
Und dann war sie gesprungen wie eine verzweifelte Schwangere, die das ungewollte Leben aus ihrem Bauch schütteln will, so sprang sie wütend auf dem Kinderspielgerät auf und ab, bis sie alles Leben aus Maarten gedrückt hatte, auch den letzten kleinen Hauch.
Danach war sie geflohen, ans Meer, wo sich alles mit allem verbindet und intuitiv, wie ferngesteuert, zu dem Boot im Grevelinger Meer, durch die Schleuse in die offene See. Immer Richtung Horizont, den Blick auf die aufgehende Sonne gerichtet, immer geradeaus, in die Ewigkeit.

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