Freitag, 17. Mai 2024
Spoiler 25
2006
Seit dem Sommer 2005 war Astrid mit einer halben Stelle in die Arbeitswelt zurückgekehrt und Viola besuchte den Kindergarten in Häger. Nur an Astrids Dienstwochenenden wurde Ingrids Unterstützung bei Violas Betreuung benötigt und das war Astrid eigentlich schon zu viel. Ihre eigenen Eltern konnte sie leider nicht mehr einspannen, denn ihre Mutter war an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, sodass sie eher Astrids Fürsorge benötigte, ebenso wie der mit der Situation überforderte Vater.

Für Raimund änderte sich nicht viel. Vorher war seine Frau ganztägig in der Kinderbetreuung aufgegangen, jetzt schaffte sie halbtags Kohle ran und parkte die Kleine so lange im Kindergarten.

Ingrid war hingegen enttäuscht, dass die Kita die Erwerbszeiten der Mutter nahezu vollständig ausglich. Sie durfte ihr Enkelkind hin und wieder von der Kita abholen, wenn ihre Schwiegertochter sich verspätete und es war ihr gestattet einmal im Monat am Wochenende für ein paar Stunden ihren Platz einnehmen.

Im Februar wurde Astrid erneut schwanger, so konnte sie sich mit mehr als einem Jahr zwischen den Erziehungsurlauben ihre Stelle sichern.
Der Sommer 2006 war heiß und trocken, in ganz Deutschland waren alle aus dem Häuschen wegen der Fußballweltmeisterschaft. Wie in der letzten Schwangerschaft war Astrid reichlich mitgenommen von den Begleiterscheinungen der Hormonumstellung und benötigte viel Ruhe. Ingrid reagiert ungehalten auf Astrids Entschlossenheit, dennoch bis zum Beginn des Mutterschutzes zu arbeiten. So blieben nun viele unangenehme Aufgaben an ihr hängen, bei der Betreuung der Enkelin blieb sie dennoch meistens außen vor, was den Groll gegenüber ihrer Schwiegertochter stetig wachsen ließ. Wäre das Verhältnis zwischen den beiden Frauen weniger angespannt gewesen, hätten die Ereignisse womöglich einen gänzlich anderen Verlauf genommen.

Es war am frühen Abend, wenige Wochen vor Violas viertem Geburtstag. Sie war müde und aufgedreht, hatte noch nicht zu Abend gegessen, weil Astrid sich vor Erschöpfung zurückgezogen hatte und eingeschlafen war. Ingrid war noch nicht von einer Einladung zurückgekehrt und Raimund lag nach einem harten Arbeitstag auf dem Sofa und verfolgte mit Spannung ein Länderspiel. Er war auch hungrig, überbrückte dies aber mit Bier und Chips. Viola war verunsichert, lief im Wohnzimmer auf und ab und plapperte aufgeregt. Raimund wollte in Ruhe das Sportprogramm verfolgen.
"Jetzt halt endlich den Rand!", brüllte er seine kleine Tochter an.
Die zuckte zusammen, lief kurz aus dem Zimmer, aber nur, um ihre Lieblingspuppe und deren Essgeschirr zu holen. Dann demonstrierte sie an der Puppe genau das Abendritual, auf das sie schon seit etwa einer Stunde vergeblich wartete. "Ja, Lilli", beruhigte sie das Püppchen, "der Tee ist gleicht durchgezogen. Iss doch schon ein paar Gurkenscheiben. Willst du Leberwurst oder Frischkäse auf dein Brot?"
Dabei klapperte sie mit dem Puppengeschirr und lief geschäftig hin und her.
Da sein Gebrüll offenbar nicht gefruchtet hatte, platzte Raimund der Kragen. Er sprang vom Sofa auf und verpasste seiner Tochter einen Fußballer-Tritt in die Rippen, sodass sie quer durchs Zimmer geschleudert wurde. "Jetzt sei endlich still!", brüllte er hinterher.
Als das kleine Mädchen verängstigt und leise wimmernd liegen blieb, bekam er plötzlich Angst. Nicht etwa davor, dass er ihr innere Verletzungen zugefügt haben könne, vielmehr vor der Ächtung seines Ausbruchs durch seine Frau.
"Jetzt hör auf rum zu heulen!", blaffte er Viola an. "Das war noch gar nichts. Wenn du Mama das erzählst, dann passiert was, dann hast du Grund zu heulen. Erzähl Mama, dass du gefallen bist, beim Rumklettern auf dem Sessel."

Sein Plan ging auf. Violas Angst reichte so tief, dass sie sich in der gegenwärtigen Situation vollkommen still verhielt. Sie wagte nicht, irgendjemandem davon zu erzählen. Als Astrid sich in den kommenden Tagen schockiert erkundigte, wie sie zu dem riesigen blauen Fleck an ihrer Seite gekommen sei, erklärte sie: "Ich bin gefallen, beim Klettern, auf dem Sessel."
"Warum bist du nicht gleich zu mir gekommen?", fragte Astrid. "Das sieht ja schlimm aus."
"Ist nicht schlimm.", sagte Viola schnell und streckte die Arme nach oben, damit ihr die Mutter das Sommerkleid überstreifen konnte.
Astrid wurde nicht argwöhnisch. Eine derartige Brutalität, wie sie sich in ihrem Haus ereignet hatte, konnte sie sich nicht vorstellen. Und es wieder holte sich vorerst nicht. Viola ging Raimund aus dem Weg und war still in seiner Gegenwart. Er war zufrieden und fühlte sich in seinem Vorgehen bestätigt.

Im November brachte Astrid ihr zweites Kind zur Welt: Louis. Raimund war mächtig stolz und Ingrid freute sich über den männlichen Enkel, in dem sie von Anfang an ihren Sohn wiederzuerkennen meinte. Dieses Mal würde sie sich als Großmutter nicht derartig beiseite schieben lassen.
Violas Angst wuchs von Tag zu Tag. Durch die Geburt ihres Bruders fühlte sie sich wie ein abgenutztes Spielzeug. Alles drehte sich nur noch um das Baby. Ihre Mutter und engste Vertraute brauchte ihre ganze Kraft für den Säugling und bei Vater und Oma war sie ebenfalls abgeschrieben. Sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, was ihr drohte, aber sie fürchtete sich vor unbekannten Schrecken, die hinter jeder Tür lauern konnten, vor Gewalt und vor dem Vergessenwerden.

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