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Freitag, 2. Februar 2024
Spoiler 16 - nichts für Kinder
c. fabry, 09:15h
1989
Mittlerweile war Raimund zur Landjugend dazugestoßen. Jens Grankemeier lud ein, den Jahreswechsel mit einer rauschenden Silvesterparty einzuläuten. Am 30. Dezember halfen alle mit, die Scheune leer zu räumen und die Getränke heran zu karren, am 31. halfen ein paar wenige beim Einrichten und Schmücken und um 20.00 Uhr ging es los, mit Bratwurst, Salaten und dem ersten Bier.
Eigentlich schmeckte Raimund der bittere Gerstensaft überhaupt nicht, ebenso wenig wie die hastig gerauchten Zigaretten, die diesen Druck auf der Brust verursachten und eine leichte Übelkeit, die sich aber legte, sobald man eine Kleinigkeit gegessen hatte. Bei den Kurzen – so wurden allgemein alle Schnäpse tituliert – verlegte er sich auf Apfelkorn, da war ein vertrauter, positiv besetzter Geschmack, an den er andocken konnte. Korn oder Wacholder bekam er nicht hinunter. Aber trinken und rauchen musste man, wenn man ein Kerl sein und dazu gehören wollte. Zu Weihnachten hatte er ein bisschen Geld bekommen, sodass er sich den Kostenbeitrag zur Party leisten konnte. Die zwanzig Zigaretten, die er in dieser Nacht rauchte, waren hingegen von älteren Jungs zusammengeschnorrt. Wenn er so weitermachte, würde er irgendwann eigene kaufen müssen und da würde das Weihnachtsgeld nicht lange reichen. An die Konfirmationsgaben ließ Ingrid ihn nicht heran, das Sparbuch verwahrte sie. Er hatte sich eine günstige Stereoanlage kaufen dürfen und dann war Schluss gewesen.
1989 begann für Raimund mit kurzfristig zehn Bier und ungezählten Kurzen im Magen, unterlegt von einer fettigen Mischung aus Mettbrötchen, Bratwurst, Kartoffel- und Nudelsalat. Gegen 1.00 Uhr bahnte das alles sich den Weg in die Freiheit und zwar auf dem gleichen Gleis, in das es eingefahren worden war. Die Party war für ihn gelaufen, nach einer Viertelstunde tiefen Durchatmens war er nach Hause geschlichen, hatte sich ins Bett gelegt und bis weit in den Vormittag hinein geschlafen.
Im Februar traf man sich bei Rüdi in Rothenhagen. Rüdis Eltern waren mit dem Sportverein zu einem feuchtfröhlichen Wochenende in die Lüneburger Heide aufgebrochen und Videorekorder hatten keine Kindersicherung. Rüdis Eltern hatten ein reichhaltiges Angebot an pornographischem Filmmaterial, über das Rüdi während ihrer Abwesenheit frei verfügen konnte. Raimund war begeistert von den echten Kerlen, die den Weibern zeigten, wo es langging und ihnen das Maul stopften, wenn sie zu viel quasselten. Hier drängte sich keine sexuell frustrierte Mutter ihrem heranwachsenden Sohn auf. Hier waren die Männer die Akteure und die Frauen das Material. Es wurde viel gelacht, derbe Sprüche geklopft und reichlich Cola-Weinbrand gebechert. Zu fortgeschrittener Stunde wurden dann auch schon mal die Latten verglichen, erst mit Augenmaß, schließlich mit Zollstock. Raimund war sehr zufrieden, denn er lag im oberen Drittel.
„Eigentlich“, meinte Raimund, „könnte man mit so was doch echt Kohle machen.“
„Wie willst du das denn anstellen?“, fragte Rüdi. „Wir haben doch noch nicht mal einen Camcorder.“
„Man kann ja auch geile Fotos machen. So Sachen nachstellen, Fotografieren und die Abzüge in der Schule verkaufen.“
„Viel zu viel Risiko.“, meinte Eckhard. „Wenn Du so‘n 36er Film voll knippst, lass 30 Abzüge was werden, die müsstest du ja als Ansichtsmaterial behalten, bevor du nachbestellst, da musst Du erst mal mindestens 20 Mark ausgeben. Selbst wenn Du den Abzug für ‚nen Fünfer verkaufst, wer sagt denn, dass die überhaupt einer haben will? Und vor allem will ja keiner eine Woche warten, bis die Ware kommt. Dann bestellst du das und die haben sich das schon wieder anders überlegt. Dann bleibst du auf dem Zeug sitzen. Und dann gibt es vielleicht noch Ärger, weil die im Fotoladen sehen, was wir da fotografiert haben.“
Raimund räumte ein, dass es wohl ein Schnapsidee gewesen war. Aber der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Frauen sexuell ausbeuten und dabei auch noch vorführen. Das gefiel ihm. Das musste sich doch irgendwie umsetzen lassen.
Im April kam ihm der zündenden Gedanke. Live-Shows mit Eintritt. Zu Hause, auf dem Heuboden, Sonntag Nachmittags, wenn dort niemand zu tun hatte, reihum auf den Höfen. Er hatte sich lange den Kopf zerbrochen, wie er an Darstellerinnen kam. Die Mädchen in ihrem Alter würden sich kaum zu so etwas überreden lassen. Dann hatte er eine Idee. Kinder würden die Frauen spielen. Man lockte sie mit Süßigkeiten als Gage. Für Schokoriegel, Gummibärchen und Lollis machten Kinder alles. Das hielt die Kosten gering. Und wenn sie anfingen rumzuzicken, konnte man sie immer noch mit körperlicher Gewalt zwingen oder mit unliebsamen Konsequenzen drohen.
Als er seine Geschäftsidee bei der nächsten Pornorunde präsentierte, fand er keine Mitstreiter. „Du kannst doch nicht live Kinder poppen!“, wies Rüdi ihn zurecht. „Das ist nicht nur ekelhaft, das will sich auch keiner angucken. Da zeigt dich eher einer an.“
Raimund war enttäuscht. Er hatte kein Geld mehr für Zigaretten. Er brauchte dringend einen Job.
Den bekam er dann auch. Lisbeth hatte das für ihn aufgetan. Er musste alle zwei Wochen das Kirchenblatt verteilen. Es gefiel ihm überhaupt nicht, bei jedem Wetter durch die Dörfer zu radeln und den Frömmlern ihre Bravo für Verstrahlte zu bringen, aber wenigstens hatte er so eine regelmäßige Einkommensquelle; überschaubar, aber verlässlich.
Dann kam der Juli mit seinen scheinbar endlosen Sommerferien. Bei der Arbeit auf dem Hof musste er zwar mit anpacken – Oma Lisbeth bestand darauf, Ingrid hätte ihm erholsame Ferien gegönnt – aber die Aufgaben füllten keine ganzen Tage aus und während seine Kumpels entweder im Urlaub waren oder auf den elterlichen Höfen wesentlich härter eingespannt waren, lag Raimund auf dem Bett und hörte seine geliebten Heavy Metall-Platten und stellte sich dabei vor, wie er es den Frauen oben im Heu besorgte. Die Pornos in seinem Kopfkino gefielen ihm weitaus besser als die immer gleichen Rammelfilme auf dem Videorekorder von Rüdis Alten. Die Sache mit den Live-Shows konnte er natürlich vergessen. Das hatte er verstanden. Aber einfach so, für das eigene Vergnügen wäre es doch immerhin vorstellbar.
Er freute sich auf einen aufregenden Sommer. Mit Süßigkeiten lockte er die Kinder aus der weitläufigen Nachbarschaft auf den heimischen Strohboden.
„Wenn ihr einen großen Lolli haben wollt, müsst ihr euch ganz nackig ausziehen und den Ententanz tanzen.“
Die Kinder waren scharf auf die Lollis und legten ab. Tanzen wollten sie aber nicht.
„Keine halben Sachen!“ befahl Raimund mit der ganzen Autorität, die er in seine vom Stimmbruch nur noch gelegentlich gebrochene Stimme legen konnte. Er stürzte sich auf die Kinder, um sie wie lebende Gliederpuppen in die passenden Posen zu zwingen. Sie flohen schreiend und nackt und ließen ihn mit ihren Kleidern auf dem Strohboden zurück. Schlagartig wurde ihm klar, welche Folgen das für ihn haben könnte. Natürlich würde er alles abstreiten, das würde ihm aber nichts helfen, wenn die Beweismittel bei ihm gefunden oder er damit gesehen wurde. Er besorgte sich eine Plastiktüte, stopfte die Kindersachen hinein und radelte nach Werther. Dort gab es einen Altkleider-Container. Hier würde niemand nach den Klamotten suchen und gleichzeitig verschaffte er sich ein Alibi. Er setzte sich vor die Eisdiele und als Hildegard Bierhoff ihn ansprach: „Mensch Raimund, was sitzt du hier ohne ein Eis? Soll ich Dir eins kaufen?“, antwortete er: „Nee, danke. Ich hatte schon. Sitze hier schon seit einer Stunde. Ist so schön in der Sonne.“
Die Vorwürfe erreichten ihn trotzdem. Er stritt alles eisern ab. Niemand konnte ihm etwas nachweisen, aber ein Schatten blieb und wollte nicht mehr weichen. Der Sommer ging zu Ende und Raimund merkte, dass er, wo auch immer er hinkam, düstere Blicke erntete. Egal, wie er sich verhielt, die Leute hielten Abstand, waren einsilbig, begegneten ihm wenn nicht mit Abscheu, mindestens mit Argwohn. Das machte ihn wütend. Niemand durfte ihn verurteilen, in diesem Land galt die Unschuldsvermutung, doch sie bestraften ihn trotzdem, einfach so, auch ohne Beweise. Er würde es allen zeigen. Sie würden Dreck fressen und er würde lachen. Schade, dass er dem Pfarrer keine Abreibung mehr verpassen konnte, das hatte er immer verschoben und dann war der Hund einfach verschwunden, hatte die Gemeinde verlassen und Raimund hatte keine Ahnung, wohin er sich hatte versetzen lassen.
Am Ende fehlte ihm – dem Himmel sei Dank – die Phantasie für geeignete Rachefeldzüge. Man konnte es den Leuten auch zeigen, indem man etwas schaffte. Das Betriebspraktikum stand an und er absolvierte es in einem landwirtschaftlichen Großbetrieb. Auf einmal lief alles hervorragend und am Ende der zwei Wochen eröffnete ihm der Chef, dass er offene Türen einrenne, wenn er sich hier um einen Ausbildungsplatz bewerben würde. Wenn doch die leidige Schulzeit zu Ende wäre, dachte Raimund, er hätte am liebsten sofort angefangen.
Am 9. November fiel die Mauer in Berlin. An Raimund ging dieses historische Ereignis vorbei, wie der berühmte Sack Reis. Er konzentrierte sich auf die Schule. Er wollte auf keinen Fall noch einmal sitzen bleiben. Noch ein halbes Jahr in der Lernfabrik, dann war es geschafft.
Mittlerweile war Raimund zur Landjugend dazugestoßen. Jens Grankemeier lud ein, den Jahreswechsel mit einer rauschenden Silvesterparty einzuläuten. Am 30. Dezember halfen alle mit, die Scheune leer zu räumen und die Getränke heran zu karren, am 31. halfen ein paar wenige beim Einrichten und Schmücken und um 20.00 Uhr ging es los, mit Bratwurst, Salaten und dem ersten Bier.
Eigentlich schmeckte Raimund der bittere Gerstensaft überhaupt nicht, ebenso wenig wie die hastig gerauchten Zigaretten, die diesen Druck auf der Brust verursachten und eine leichte Übelkeit, die sich aber legte, sobald man eine Kleinigkeit gegessen hatte. Bei den Kurzen – so wurden allgemein alle Schnäpse tituliert – verlegte er sich auf Apfelkorn, da war ein vertrauter, positiv besetzter Geschmack, an den er andocken konnte. Korn oder Wacholder bekam er nicht hinunter. Aber trinken und rauchen musste man, wenn man ein Kerl sein und dazu gehören wollte. Zu Weihnachten hatte er ein bisschen Geld bekommen, sodass er sich den Kostenbeitrag zur Party leisten konnte. Die zwanzig Zigaretten, die er in dieser Nacht rauchte, waren hingegen von älteren Jungs zusammengeschnorrt. Wenn er so weitermachte, würde er irgendwann eigene kaufen müssen und da würde das Weihnachtsgeld nicht lange reichen. An die Konfirmationsgaben ließ Ingrid ihn nicht heran, das Sparbuch verwahrte sie. Er hatte sich eine günstige Stereoanlage kaufen dürfen und dann war Schluss gewesen.
1989 begann für Raimund mit kurzfristig zehn Bier und ungezählten Kurzen im Magen, unterlegt von einer fettigen Mischung aus Mettbrötchen, Bratwurst, Kartoffel- und Nudelsalat. Gegen 1.00 Uhr bahnte das alles sich den Weg in die Freiheit und zwar auf dem gleichen Gleis, in das es eingefahren worden war. Die Party war für ihn gelaufen, nach einer Viertelstunde tiefen Durchatmens war er nach Hause geschlichen, hatte sich ins Bett gelegt und bis weit in den Vormittag hinein geschlafen.
Im Februar traf man sich bei Rüdi in Rothenhagen. Rüdis Eltern waren mit dem Sportverein zu einem feuchtfröhlichen Wochenende in die Lüneburger Heide aufgebrochen und Videorekorder hatten keine Kindersicherung. Rüdis Eltern hatten ein reichhaltiges Angebot an pornographischem Filmmaterial, über das Rüdi während ihrer Abwesenheit frei verfügen konnte. Raimund war begeistert von den echten Kerlen, die den Weibern zeigten, wo es langging und ihnen das Maul stopften, wenn sie zu viel quasselten. Hier drängte sich keine sexuell frustrierte Mutter ihrem heranwachsenden Sohn auf. Hier waren die Männer die Akteure und die Frauen das Material. Es wurde viel gelacht, derbe Sprüche geklopft und reichlich Cola-Weinbrand gebechert. Zu fortgeschrittener Stunde wurden dann auch schon mal die Latten verglichen, erst mit Augenmaß, schließlich mit Zollstock. Raimund war sehr zufrieden, denn er lag im oberen Drittel.
„Eigentlich“, meinte Raimund, „könnte man mit so was doch echt Kohle machen.“
„Wie willst du das denn anstellen?“, fragte Rüdi. „Wir haben doch noch nicht mal einen Camcorder.“
„Man kann ja auch geile Fotos machen. So Sachen nachstellen, Fotografieren und die Abzüge in der Schule verkaufen.“
„Viel zu viel Risiko.“, meinte Eckhard. „Wenn Du so‘n 36er Film voll knippst, lass 30 Abzüge was werden, die müsstest du ja als Ansichtsmaterial behalten, bevor du nachbestellst, da musst Du erst mal mindestens 20 Mark ausgeben. Selbst wenn Du den Abzug für ‚nen Fünfer verkaufst, wer sagt denn, dass die überhaupt einer haben will? Und vor allem will ja keiner eine Woche warten, bis die Ware kommt. Dann bestellst du das und die haben sich das schon wieder anders überlegt. Dann bleibst du auf dem Zeug sitzen. Und dann gibt es vielleicht noch Ärger, weil die im Fotoladen sehen, was wir da fotografiert haben.“
Raimund räumte ein, dass es wohl ein Schnapsidee gewesen war. Aber der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Frauen sexuell ausbeuten und dabei auch noch vorführen. Das gefiel ihm. Das musste sich doch irgendwie umsetzen lassen.
Im April kam ihm der zündenden Gedanke. Live-Shows mit Eintritt. Zu Hause, auf dem Heuboden, Sonntag Nachmittags, wenn dort niemand zu tun hatte, reihum auf den Höfen. Er hatte sich lange den Kopf zerbrochen, wie er an Darstellerinnen kam. Die Mädchen in ihrem Alter würden sich kaum zu so etwas überreden lassen. Dann hatte er eine Idee. Kinder würden die Frauen spielen. Man lockte sie mit Süßigkeiten als Gage. Für Schokoriegel, Gummibärchen und Lollis machten Kinder alles. Das hielt die Kosten gering. Und wenn sie anfingen rumzuzicken, konnte man sie immer noch mit körperlicher Gewalt zwingen oder mit unliebsamen Konsequenzen drohen.
Als er seine Geschäftsidee bei der nächsten Pornorunde präsentierte, fand er keine Mitstreiter. „Du kannst doch nicht live Kinder poppen!“, wies Rüdi ihn zurecht. „Das ist nicht nur ekelhaft, das will sich auch keiner angucken. Da zeigt dich eher einer an.“
Raimund war enttäuscht. Er hatte kein Geld mehr für Zigaretten. Er brauchte dringend einen Job.
Den bekam er dann auch. Lisbeth hatte das für ihn aufgetan. Er musste alle zwei Wochen das Kirchenblatt verteilen. Es gefiel ihm überhaupt nicht, bei jedem Wetter durch die Dörfer zu radeln und den Frömmlern ihre Bravo für Verstrahlte zu bringen, aber wenigstens hatte er so eine regelmäßige Einkommensquelle; überschaubar, aber verlässlich.
Dann kam der Juli mit seinen scheinbar endlosen Sommerferien. Bei der Arbeit auf dem Hof musste er zwar mit anpacken – Oma Lisbeth bestand darauf, Ingrid hätte ihm erholsame Ferien gegönnt – aber die Aufgaben füllten keine ganzen Tage aus und während seine Kumpels entweder im Urlaub waren oder auf den elterlichen Höfen wesentlich härter eingespannt waren, lag Raimund auf dem Bett und hörte seine geliebten Heavy Metall-Platten und stellte sich dabei vor, wie er es den Frauen oben im Heu besorgte. Die Pornos in seinem Kopfkino gefielen ihm weitaus besser als die immer gleichen Rammelfilme auf dem Videorekorder von Rüdis Alten. Die Sache mit den Live-Shows konnte er natürlich vergessen. Das hatte er verstanden. Aber einfach so, für das eigene Vergnügen wäre es doch immerhin vorstellbar.
Er freute sich auf einen aufregenden Sommer. Mit Süßigkeiten lockte er die Kinder aus der weitläufigen Nachbarschaft auf den heimischen Strohboden.
„Wenn ihr einen großen Lolli haben wollt, müsst ihr euch ganz nackig ausziehen und den Ententanz tanzen.“
Die Kinder waren scharf auf die Lollis und legten ab. Tanzen wollten sie aber nicht.
„Keine halben Sachen!“ befahl Raimund mit der ganzen Autorität, die er in seine vom Stimmbruch nur noch gelegentlich gebrochene Stimme legen konnte. Er stürzte sich auf die Kinder, um sie wie lebende Gliederpuppen in die passenden Posen zu zwingen. Sie flohen schreiend und nackt und ließen ihn mit ihren Kleidern auf dem Strohboden zurück. Schlagartig wurde ihm klar, welche Folgen das für ihn haben könnte. Natürlich würde er alles abstreiten, das würde ihm aber nichts helfen, wenn die Beweismittel bei ihm gefunden oder er damit gesehen wurde. Er besorgte sich eine Plastiktüte, stopfte die Kindersachen hinein und radelte nach Werther. Dort gab es einen Altkleider-Container. Hier würde niemand nach den Klamotten suchen und gleichzeitig verschaffte er sich ein Alibi. Er setzte sich vor die Eisdiele und als Hildegard Bierhoff ihn ansprach: „Mensch Raimund, was sitzt du hier ohne ein Eis? Soll ich Dir eins kaufen?“, antwortete er: „Nee, danke. Ich hatte schon. Sitze hier schon seit einer Stunde. Ist so schön in der Sonne.“
Die Vorwürfe erreichten ihn trotzdem. Er stritt alles eisern ab. Niemand konnte ihm etwas nachweisen, aber ein Schatten blieb und wollte nicht mehr weichen. Der Sommer ging zu Ende und Raimund merkte, dass er, wo auch immer er hinkam, düstere Blicke erntete. Egal, wie er sich verhielt, die Leute hielten Abstand, waren einsilbig, begegneten ihm wenn nicht mit Abscheu, mindestens mit Argwohn. Das machte ihn wütend. Niemand durfte ihn verurteilen, in diesem Land galt die Unschuldsvermutung, doch sie bestraften ihn trotzdem, einfach so, auch ohne Beweise. Er würde es allen zeigen. Sie würden Dreck fressen und er würde lachen. Schade, dass er dem Pfarrer keine Abreibung mehr verpassen konnte, das hatte er immer verschoben und dann war der Hund einfach verschwunden, hatte die Gemeinde verlassen und Raimund hatte keine Ahnung, wohin er sich hatte versetzen lassen.
Am Ende fehlte ihm – dem Himmel sei Dank – die Phantasie für geeignete Rachefeldzüge. Man konnte es den Leuten auch zeigen, indem man etwas schaffte. Das Betriebspraktikum stand an und er absolvierte es in einem landwirtschaftlichen Großbetrieb. Auf einmal lief alles hervorragend und am Ende der zwei Wochen eröffnete ihm der Chef, dass er offene Türen einrenne, wenn er sich hier um einen Ausbildungsplatz bewerben würde. Wenn doch die leidige Schulzeit zu Ende wäre, dachte Raimund, er hätte am liebsten sofort angefangen.
Am 9. November fiel die Mauer in Berlin. An Raimund ging dieses historische Ereignis vorbei, wie der berühmte Sack Reis. Er konzentrierte sich auf die Schule. Er wollte auf keinen Fall noch einmal sitzen bleiben. Noch ein halbes Jahr in der Lernfabrik, dann war es geschafft.
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