Freitag, 21. Oktober 2022
Viola
Jetzt liege ich hier: beschädigt. Ich könnte alles aufklären, aber mich fragt ja niemand. Wenn ich so zurück denke, wie alles anfing, als ich frisch geboren aus der Werkstatt kam und man mich in die Hände eines Kindes legte, ein Kind, das vielleicht ein bisschen zu klein war oder ich war etwas zu groß, aber man sagte, das Kind würde wachsen und man könne nicht alles ständig neu anschaffen.
Und das Kind malträtierte mich, ich fürchtete um meine Stabilität. Aber es schaffte mich nicht. Nur verlor es irgendwann die Lust an mir und ließ mich liegen, irgendwo, in einer Ecke, sodass ich eines Tages aus den mir vertrauten Räumlichkeiten an einen anderen Ort verbracht wurde: in einen düsteren und muffigen Laden. Und wieder fürchtete ich um meine Stabilität, dass Pilze, die dort in der feuchten Luft herum schwirrten, mein Holz zersetzen würden. Aber sie taten es nicht, denn schon bald kam ein freundlicher, kleiner Mann in den Laden, der mich begeistert erwarb; doch nicht für sich, für seinen Sohn.
"Spiel Junge!", sagte er, "Lerne Geige spielen und das Leben wird sich viel leichter für dich anfühlen." Und das war wichtig, denn es war eine schwere Zeit für die Menschen.
Und der Junge begann zu üben und er war nicht schlecht, er ging auch pfleglich mit mir um. Aber dann wurde es schwierig für ihn. Er musste seine Heimat verlassen. Der Vater war im Krieg, die Mutter schwer krank und schließlich musste er ganz eilig aufbrechen an einen anderen Ort und schaffte es nicht mehr, alle Sachen zusammenzusuchen und ich blieb liegen, da wo ich war, an diesem Ort. Und ich bin sicher, der Vater ist nicht gut umgegangen mit seinem Sohn, dafür, dass er mich vergessen hatte. Und wieder fürchtete ich um meinen Körper.
Doch es passierte nichts. Alles war gut. Ich lag da und das Klima war nicht schlecht für mich und eines guten Tages wurde ich gefunden und ich ging durch viele Hände. Und immer ging alles gut.

Und dann kam ich zu ihr. Oh ich kann mich noch erinnern, wie es war, als ihre zarten Hände mich berührten und ich wusste: sie schätzte mich. Ja, sie schätzte mich, aber sie verstand mich nicht. Im Grunde tat sie nichts anderes als all die Kinder, die ein Instrument, wenn sie es das erste Mal in die Hand bekommen, malträtieren, unsachgemäß berühren, wo der Druck nicht stimmt, die Position, alles ist irgendwie falsch und fühlt sich nicht gut an. Wir waren nicht wirklich eins miteinander. Aber sie liebte mich. Sie war überzeugt davon, dass sie zu mir gehörte und ich zu ihr. Und das tröstete mich ein wenig über den Umstand hinweg, dass sie nicht wirklich fachkundig mit mir umging. Sei?s drum. Ich wurde gepflegt, wurde zum Fachmann gebracht, wenn sich etwas verzogen hatte, eigentlich war ich am Ort meiner Bestimmung angekommen. Und ich war ja nie ein so großartiges Geschöpf, dass ich für die Hände eines begnadeten Virtuosen in diese Welt gebracht worden war. Ich war eben ein Instrument für Leute, die das Geige Spielen lernen wollen, sich mit der Geige hin und wieder zurückziehen und in der Musik etwas Trost finden.
Fatalerweise sah sie sich an einer anderen Stelle. Sie hielt sich für jemanden, der gehört werden muss, von vielen Menschen, in der Öffentlichkeit. Sie tat das gemeinsam mit anderen und viele Jahre musizierten wir in Gemeinschaft mit einem Tasteninstrument, perkussiven Elementen, Gitarre und Flöte und wir machten schöne Musik miteinander. Sie hätte mir weitaus präzisere Töne entlocken können, aber es ging. Es ließ sich hören. Und so gingen die Jahre ins Land mit ihr und mir und den anderen und den Fachleuten, die mich hin und wieder zurecht ruckelten und es hätte eigentlich so bleiben können. Doch dann?

Warum hatte er auch immer nur geschwiegen? Warum hatte er nie irgendetwas gesagt? Von morgens bis abends plapperte sie: Sinnloses, Belangloses, hin und wieder Notwendiges, aber sehr sehr vieles, was die Stille einfach nur zerschnitt, in Momenten, in denen das Schweigen die Musik des Alltags hätte klingen lassen, in all ihrer Schönheit: das Vogelgezwitscher, der sanfte Wind, das Ticken einer Uhr, das Gurgeln des Heizkörpers, aber sie ertrug die Stille nicht. Sie musste sie immer und immer wieder durchbrechen mit Nichtigkeiten, Belanglosigkeiten, Ärgernissen, Zweifeln, langweiligen Geschichten, Nachfragen, Arbeitsaufträgen, kruden Überlegungen, die Liste ist endlos. Und er? Er schwieg dazu. Und wenn, dann gab er einsilbige Sätze von sich wie "Ja, stimmt.", "Vielleicht.", "Kann man machen.", aber er hatte eigentlich keine Meinung, keine Position und er setzte ihr nie etwas entgegen. Das war das, was sie an ihm offensichtlich liebte, dass er wie ich, das Instrument, etwas war, das sie in die Hand nahm und durch blinden Aktionismus zum Klingen brachte. Mal waren es sanfte Schwingungen, manchmal auch schrille Misstöne, so war sie eben, brachte ihn auch schon einmal auf die Palme, aber er ließ nicht sehr viel davon heraus oder auch nicht sehr viel an sich heran, dachte ich zumindest.

Dann kam der Tag. Irgendwie hörte sie überhaupt nicht mehr auf. Sie plapperte und plapperte und sie ignorierte, dass er gar nicht darauf reagierte, nicht darauf einging, sich nicht dazu äußerte, sich nicht dazu verhielt. Sie plapperte und plapperte und er öffnete sanft und leise meinen Koffer, nahm mich aus dem Koffer heraus, betrachtete mich. Hart umschloss seine rechte Hand meinen zarten Hals und für einen Augenblick hatte ich die schlimme Vision, dass er mich benutzen würde als einen Gegenstand der Zerstörung, wie einen Hammer, um damit über den Schädel seiner Frau zu fahren. Doch zum Glück tat er das nicht. Stattdessen löste er den Wirbel der G-Saite, langsam wickelte er sie ab, zog den Feinstimmer aus dem Saitenhalter und ließ mich mit drei Saiten zurück. Ich wusste nicht, was das sollte. Und jeder, der ein bisschen Ahnung von Geigen hat, weiß, dass man nicht einfach so eine Saite aufziehen kann, damit muss man zu einem Geigenbauer, das ist aufwändig und teuer. Und vor allen Dingen ist es vollkommen sinnlos, eine Saite einfach abzunehmen, wenn sie unbeschädigt ist und nach wie vor gut klingt. Und das tat sie. Er nahm also dies Saite und wickelte sie um die rechte Hand und das andere Ende um die linke Hand. Und zwischen seinen Händen spannte er sie wie eine Bogensehne. Dann trat er sachte, sehr leise von hinten an seine Frau heran, die sich gerade plappernd über den Herd beugte und im Topf mit allerlei Gemüse herumrührte, das unter Knistern und Brutzeln in gutem Pflanzenöl vor sich hin briet.
Er legte die Saite von hinten um ihren Hals und zog zu. Sie hörte augenblicklich auf zu plappern und er hätte ja jetzt einfach wieder loslassen können, aber wenn er das getan hätte, hätte sie natürlich umgehend weiter geplappert und das wollte er verhindern. Und er zog und zog, sie zuckte und versuchte, um sich zu schlagen, doch je länger er zog, umso mehr verlor sie die Kraft, bekam zu wenig Luft in ihre Lungen und zu wenig Blut in ihren Kopf und das, was drin war, konnte nicht zurück. Der Austausch von venösem und arteriellen Blut fand nicht mehr statt, das Gehirn wurde nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt und nach wenigen Minuten sackte sie leblos zusammen. Und er stand da und hielt meine G-Saite in den Händen, unschlüssig, stumm, so wie ich ihn kannte. Und dann sagte er nur ein einziges Wort: "So."
Er rollte die Saite zusammen, stopfte sie in einen leeren Joghurt-Becher und versenkte den im gelben Sack, wohl in der Hoffnung, dass er dort niemals gefunden würde oder dass die Saite dort niemals gefunden würde, vermute ich. Vielleicht dachte er auch nicht nach. Er schloss den Geigenkasten und stellte mich in meinem Sarg hinter ein Regal. Dann nahm er einen Schlüssel vom Brett und verließ die Wohnung.
Wie lange das zurückliegt? Ich weiß es nicht. Ich habe jedes Gefühl für Zeit verloren.

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