Samstag, 30. April 2022
Königstag
Es war wie immer. Wimpel in den Farben der Trikolore und in Orange flatterten zwischen den Häusern, Fahnen wehten im frischen Mittagswind, die Kälte und der Schlafmangel der vergangenen Nacht steckte ihm noch in den Knochen, vom Hafen tönte die gotterdammte Blaskapelle und der Geruch von Pommes und Loempia stieg ihm in die Nase. Später würde Bier dazu kommen, Pisse und bessere Livemusik.

Doch nichts war wie immer. Thijs hatte es erwischt, der würde nie wieder mit ihm um die Häuser ziehen. Bei der siebten Runde hatte es ihn aus der Kurve getragen und dann stand der Baum im Weg. Joris fragte sich seit diesem Moment, ob es seine Schuld war. Sie hatten sich ein kleines Rennen gegönnt. Joris hatte Thijs links überholt. Hatte er ihn damit abgedrängt? Das würde sicher ein Nachspiel haben. Alle würden glauben, dass es Absicht war, wegen Lieke. Es gab keinen, der nicht wusste, wie verrückt Joris nach Lieke war, der Freundin seines besten Freundes Thijs. Und Thijs war jetzt aus dem Weg. Und stand doch mehr als unüberwindbares Hindernis da als je zuvor.

Auf den Strecken sah man überall die Spuren der vergangenen Nacht. So laut wie heute waren sie noch nie gewesen. 365 Mopeds ohne Auspuff, sieben Runden in drei-ein-halb Stunden. Goedereede, Ouddorp und zurück, ein Höllenlärm zum Geburtstag des Königs, die Art der Jugend ihrem Regenten Respekt zu zollen, so die offizielle Lesart. Im Grunde war es einfach nur eine Mordsgaudi und ein Kräftemessen unter Heranwachsenden; weitaus harmloser als der Silvester-Wettstreit zwischen Scheweningen und Duindorp - eigentlich, doch diesmal hatte es hier einen Toten gegeben.

Sie hätten alle zu Hause bleiben können: Joris, Jasper, Derk, Adrian, Mats, Lieke, Lotte, Tess und Sanne. Wegen Thijs, der nicht mehr dabei sein konnte. Sie alle und die anderen 355. Aus Trauer, Betroffenheit oder wenigstens aus Pietät. Aber gerade wegen Thijs gingen sie feiern, so, als wäre er dabei, mitten unter ihnen.

Als die ersten Bierbecher schon in den Gassen lagen und die Dunkelheit ihren kühlen Mantel auf den brodelnden Dorfplatz legte, hatte Lieke längst Trost gefunden, in den Armen Adrians, natürlich, Adrian war ein richtiger Kerl, Kraftsportler und Surfer, nicht so ein dürres Klappmesser wie Joris, mehr so ein Prachtkerl wie Thijs einer gewesen war. Ob sie Adrian jetzt verdächtigen würden?

Lieke schielte rüber zu Joris, nicht so ein Arschloch wie Thijs eins gewesen war und auch nicht so ein aufgeblasener Aufschneider wie der laute Adrian. Sie hatte nur nicht die Kraft gehabt, ihn abzuweisen, als er sie geschnappt hatte. Genau wie damals bei Thijs. Dem war sie auch einfach so in die Falle gegangen. Und dann hatte er sie immer mehr behandelt wie einen lästigen kleinen Hund. Treu war er auch nicht gewesen, hatte ihr aber Angst gemacht, wenn sie nur mit einem anderen geredet hatte.
Gestern hatte sie all ihren Mut zusammengenommen. Und es war ganz leicht gewesen, die Bremsleitung durchzuknipsen. Zur Not ginge das auch ein zweites Mal. Aber vielleicht war das auch gar nicht nötig. Sie nahm noch einmal allen Mut zusammen, wand sich aus Adrians Klammergriff, lief Kreuz und quer über den Platz bis sie Joris gefunden hatte. Der saß traurig auf der Hafenmauer und kippte sein sechstes Bier. Sie stellte sich neben ihn und fragte: "Joris, kannst du mich nach Hause bringen? Ich hab' keinen Bock mehr."
Joris saß da wie vom Donner gerührt.
"Was ist mit Adrian?", fragte er.
"Adrian ist ein selbstverliebtes Arschloch.", erwiderte Lieke.
"Aber ich kann nicht mehr fahren. ", sagte Joris. "Ich hätte schon sechs Bier."
"Und wie kommst du nach Hause?"
"Zu Fuß."
"Kannst Du mich denn zu Fuß nach Hause bringen oder ist das ein zu großer Umweg?"
"Ist kein Umweg."
"Also machst du's?"
Joris stand auf.
"Komm!", sagte er.

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