Freitag, 18. März 2022
Unter Wölfen
Er hielt sich dicht am Boden. Hier wo die Erde nahezu die gleichen Farbschattierungen aufwies wie sein graubraunes Fell, standen seine Chancen, nicht bemerkt zu werden, besonders gut. Es war ein fettes, altes Kaninchen. Es war langsam, schwerhörig und halbblind, das konnte gar nicht daneben gehen. Das durfte auch nicht daneben gehen, denn er brauchte dringend eine stärkende Mahlzeit. Seit drei Tagen schob er Hunger, genauso wie alle anderen. Dieses Kaninchen würde ihn satt machen und sein Mädchen dazu - zumindest vorerst. Dann hätte er wieder Kraft für weitere Strecken. Vielleicht ein Reh für das ganze Rudel, oder ein Schaf.

Der alte Klopfer kam immer näher. Seine Hinterläufe spannten sich an, sprungbereit, kraftvoll. Dann war die Beute so nah, dass er sie riechen konnte. Er schoss hervor, doch der Nager hatte ihn in letzter Minute gewittert und war blitzschnell in ein Erdloch geschlüpft. Das Tier würde heute nicht mehr heraus kommen.

Ermattet und verzweifelt drehte er sich um. Er sah in die Augen seines schwächsten Nachwuchses. Der hatte ihn die ganze Zeit über still beobachtet, hatte alles mitbekommen. Er hatte den alten Leitwolf in einem Moment der Schwäche erlebt, war Zeuge seines Versagens geworden. Ob er sich künftig weiter kleinhalten ließ? Er würde ihn aus dem Rudel jagen müssen, aber was, wenn er die anderen Wölfe spüren ließ, was er gesehen hatte? Wenn er keine Angst mehr hatte, keinen Respekt, wenn er aufbegehrte, obwohl er das schwächste Glied der Kette war?
Es half nichts. Er musste ihn ausschalten. So viel Kraft hatte er noch. Und dann gab es auch wieder Nahrung.

Der junge Wolf sah es in seinen Augen, aber er begriff zu spät. Der Leitwolf überlebte. Vorerst.

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