Freitag, 4. Februar 2022
# Eiskalter Januar - Kurzkrimi in vier Teilen - 4. Hoffnung
Er würde jämmerlich ertrinken, vielleicht vorher schon erfrieren, denn seine Zähne klapperten fürchterlich, er spürte seine Finger schon nicht mehr, was angesichts der Verletzungen, die er sich beim Durchtrennen der Handfesseln zugezogen hatte, der einzige Vorteil in seiner Lage war. Wie kam man eigenständig aus dem Schlick, wenn man mit einem Fuß eingesunken war? Da gab es doch einen Trick. Hinlegen, um das Gewicht günstiger zu verteilen. Und dann über die Seite rollen. Schuhe stecken lassen. Und dann kleine, schnelle Schritte, um aus dem Treibsand-Gebiet herauszukommen, ohne direkt wieder einzusinken. Er brauchte ein Weile, aber es ging voran. Langsam konnte er das Bein wieder aus dem Schlamm ziehen. Den Schuh musste er verloren geben, den anderen zog er auch aus. Dann richtete er sich vorsichtig auf, spürte, ob der Sand ihn an der gewählten Stelle trug, und lief nun mit kleinen, kurzen, aber zügigen Schritten auf ein paar kleine Lichter zu, die aus dem Ortskern von Horumersiel hinüber schienen.

Da war wieder Hoffnung, ein Triumph-Gefühl, er war dem Schicksal von der Schippe gesprungen oder hatte dem Tod ein Schnippchen geschlagen oder umgekehrt. Solche Spitzfindigkeiten waren ihm jetzt egal, Hauptsache, er erreichte das rettende Ufer und menschliche Behausungen, in denen er sich rasch Hilfe holen konnte. Noch ein paar Schritte und er hatte den rettenden Deich erreicht. Er rannte die Steigung hinauf und spürte den eisigen Wind auf seiner bereits ausgekühlten, feuchten Haut. Die nasse Kleidung tat ihr Übriges. Er zitterte gegen den Kältetod an, klapperte mit den Zähnen und stolperte den Deich entlang, seinen Rettern entgegen.

Plötzlich nahm er von hinten Geräusche wahr. Er konnte sie nicht einordnen, aber sie wurden nicht vom Wind verursacht. So etwas wie Hufgetrappel, aber im falschen Rhythmus, und dumpfer. War ihm da eine Schafherde auf den Fersen, weil er vom Leithammel als Bedrohung eingestuft worden war? Das wäre ja jämmerlich, wenn er nach all den Torturen von den Symbolen christlicher Opferbereitschaft und Schicksalsergebenheit zu Tode getrampelt würde. Über den Haufen gerannt von den Lämmern Gottes. Die Rache der Lämmer. Ihm schoss nur noch Schwachsinn durch den Kopf. Verdammt, er musste sich konzentrieren. Vielleicht einfach runter vom Deich, Richtung Straße, über den Zaun und er wäre sicher vor den aufgescheuchten Tieren. Er schoss den Hang hinunter, kletterte hektisch über den Schafdraht, zum Glück keine Stacheln und kein Strom, dachte er, rannte nun auf der Straße, langsam wurde ihm wieder wärmer, er dachte auch gar nicht mehr an das Risiko eines Muskelrisses, er wollte sich nur noch in Sicherheit bringen.

Das Getrappel war immer noch zu hören. Und es kam näher.

Schließlich hörte er Stimmen. Kein Geblöke, menschliche Stimmen. Männliche Stimmen aus rauen Kehlen.
"Gleich haben wir ihn!", hörte er.
"Los Bruni, zieh der Ratte eins über."
Die Schritte kamen bedrohlich nahe. "Gleich", dachte Jan, "Gleich haut der Stinkmorchelkopf mir mit seinem Baseballschläger den Schädel ein. Aber ich will nicht! Ich will nicht!"
Er holte alles aus sich heraus, was noch da war. Seine Lunge brannte wie Feuer. Wütendes Bellen ertönte, kam näher. Von der Seite kamen zwei deutsche Schäferhunde angesprungen. Wo hatten sie die beiden Tölen denn bisher versteckt gehalten? Im Kofferraum? Das war das Ende. Nazis mit Nazihunden auf den Fersen, denen konnte nicht einmal der sportliche Jan entkommen. Er machte noch einen verzweifelten Schritt, stolperte über ein Schlagloch und fiel hin. Er stand nicht wieder auf. Wie ein gejagtes Wildtier ergab er sich in ein Schicksal, er war nur noch Beute. Gleich würden die Hunde ihn zerreißen und er war das Lamm, das die Schmerzen ertrug. Es würde nicht lange dauern.

Aber die Hunde kamen nicht zu ihm. Er hörte aufgeregtes Stimmengewirr. "Ruf deine Scheiß Köter zurück, du Sau!"
"Fuck, die Bestie hat mich gebissen! Das wird teuer!"
"Au! Scheiße, was ist das?"
"Taser.", antwortete eine ruhige, friesische Männerstimme. "Eigentlich für die Schafe, wenn die ausbüxen. Geht aber auch für Lumpenhunde."
Der Hundebesitzer ging auf Jan zu.
"Mensch bist du nicht der Pastor?"
"Ja", stieß Jan hervor.
"Ich bin der Hanno vom Hansenhof. Kannst du mit diese neumodischen Telefone umgehen? Ich hab dem Burschen da seins abgenommen."
"Ja", antwortete Jan, "aber warum?"
"Kannst doch mal die Polizei rufen."
"Stimmt.", sagte Jan. "Das geht sogar ohne PIN."
Hanno reichte ihm das Mobiltelefon und Jan wischte über die Schaltfläche, bis "Notruf" auf dem Display erschien, dann wählte er. Die Verfolger hatte der Bauer mit dem Elektroschocker vorläufig außer Gefecht gesetzt und darüber hinaus hielten seine Hunde sie in Schach. Als er merkte, dass Jan kaum sprechen konnte, nahm er ihm das Smartphone ab und gab der Polizei die Position und die Sachlage durch, soweit er sie beurteilen konnte.
"Wir brauchen auch einen Rettungswagen für Maxi.", stöhnte Jan. "Er liegt in unserer Kate."
Es dauerte nur fünf Minuten da war der Kontaktbereichsbeamte vor Ort und half, die Angreifer in Schach zu halten.
"So ganz richtig war das aber nicht, was du da gemacht hast, Hanno.", sagte er.
"Goldrichtig war das.", widersprach der. "Nothilfe. Ging nicht anders. Sind richtig schwere Jungs. Guck dir die mal an."
"Trotzdem. Mit Waffen und so, das ist Sache der Polizei. Gewaltmonopol des Staates und so."
"Ja ja. Jetzt schnack mal nich' so geschwollen. Wenn man euch braucht, seid ihr nie da, alles muss man selber machen und hinterher wisst ihr alles besser. Ich hab die ja nur eingefangen und nicht kaputt gemacht. Wenn deine Kollegen da sind, könnt ihr auch gerne ohne mich weitermachen. Ich reiß mich da nich' drum."

Zehn Minuten später rückten weitere Polizisten und mehrere Rettungswagen an. Im Krankenhaus erkundigte Jan sich nach Maxis Befinden. Sie durften ihm nichts sagen, nur dass er am Leben war und auch nicht lebensgefährlich verletzt. Er würde wieder auf die Beine kommen. Jan hoffte sehr, dass der Heranwachsende durch diese Erfahrung zu Verstand käme. Er glaubte aber nicht daran. Nicht mehr. Er hoffte, dass der Junge eine Chance hatte, jemand musste an seine Fähigkeiten glauben, am Ball bleiben. Aber er wollte sich nicht mehr um das verlorene Schaf kümmern. Da mussten jetzt andere ran.
Auch bei der der Beerdigung. Maxis Oma musste ein Kollege unter die Erde bringen.

ENDE

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