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Freitag, 3. September 2021
Mitten ins Herz
c. fabry, 13:20h
Komisch. Wie hatte sie das nun wieder herausbekommen? Das konnte doch kein Zufall sein. Wie viele schnuckelige Ferienziele gab es in Holland? Und wie viele Dörfer und Ferienhäuser in den Polderwiesen rund um Ouddorp? Wie konnte es sein, dass sie ausgerechnet in Goedereede eine Ferienwohnung gefunden hatte?
Sicher hatte Uwe arglos davon erzählt, von dem kleinen, historischen Häuschen an der Gracht, das lieben Freunden gehörte, die es ihm gern günstig vermieteten. Seit Jahren spannten sie hier aus; früher noch mit Leon, mittlerweile zu zweit. Manchmal fuhr Uwe auch allein hier hin, um runter zu kommen und seine Ruhe zu haben.
Jetzt stand sie hier vor der Tür, mit dem gleichen unterwürfig-debilen Grinsen und dem mühsamen aber zwecklosen Versuch, das Begehren zu verbergen. Uwe zuckte jedes Mal mit den Schultern. "Was regst du dich auf?", fragte er dann. "Sie tut doch nichts. Sie will nur nett sein. "
"Sie will nett mit dir vögeln, du naiver Bewunderungsjunky.", fauchte Karin. "Sie dünstet es förmlich durch jede Pore aus."
Was du immer hast. Sie freut sich einfach, dass jemand ihre Arbeit zu schätzen weiß. Wo bekomme ich sonst so gute Schäfte für meine Pfeile?"
Karin war nicht eifersüchtig, das war sie nie gewesen. Sie wusste, dass die Pfeilschaftfräserin für Uwe keine Versuchung darstellte. Aber ihre Omnipräsenz war ihr unheimlich.
Anja zitterte vor Aufregung und ärgerte sich, dass man ihr den Mangel an Gelassenheit ansah. Ihr Herz hatte einen Purzelbaum geschlagen, als sie das Dortmunder Kennzeichen mit den Initialen von Uwe und Karin entdeckt hatte, das konnte doch kein Zufall sein, das war eine Fügung des Himmels.
Eigentlich hatte sie sich entschlossen, die Finger von Uwe zu lassen, das sechste Gebot hatte schon seinen Sinn. Aber manchmal gingen Ehen einfach so in die Brüche, dann wurden stabile Freundschaften gebraucht und aus Freundschaften wurde leicht mehr, vor allem, wenn man verletzt und allein war.
Wenig später hatte sie im Cafe am Hafen gesessen und zufällig beobachtet, wie Uwe und Karin ihre Einkäufe aus dem Supermarkt zur Ferienwohnung getragen hatten. Sie hatte hastig bezahlt, hatte versucht, sie einzuholen, aber als sie dann plötzlich in einem der alten Fischerhäuser verschwunden waren, hatte sie der Mut verlassen. Unruhig war sie gewesen. Sie wusste, wo er wohnte, wenn auch nicht, für wie lange. Dann war ihr die Idee mit den Pfeilschäften aus hiesigem Schneeball, den sie am Rand eines Waldstücks entdeckt hatte, in den Sinn gekommen.
Ein gänzlich anderes Verfahren, mühsame Handarbeit, aber ein lohnendes Unterfangen. Beherzt war sie in das Gebiet geradelt, hatte kräftige Zweige geschnitten, am Strand in Form geschnitzt und über einem kleinen Feuer aus Treibholz gerade gebogen und ausgerichtet. Drei behielt sie für sich, drei waren für Uwe - Spitzen hatte sie dabei, ebenso Kleber und Material für die Befiederung.
Als sie fertig waren, war sie einen Moment in Sorge gewesen, das Paar könne mittlerweile abgereist sein - aber sie waren da. Und da kam er auch schon, lächelte sie über Karins kalte Schulter hinweg an.
"Das ist ja eine Überraschung. Bist du etwa auch hier im Urlaub?"
"Ja, ich wohne in der Bungalow-Siedlung, nicht so gediegen wie ihr. War aber auch ein Schnäppchen."
"Woher wusstest du denn, wo wir wohnen?"
"Ich habe euch vor zwei Tagen zufällig gesehen, ich wollte euch noch begrüßen, aber da wart ihr schon im Haus verschwunden, da wollte ich nicht stören."
Karin schnaubte verächtlich und Anja gab sich Mühe, es zu ignorieren. Sie hielt Uwe die Pfeile hin. "Hier. Sonderanfertigungen aus hiesigem Schneeball. Probier sie gleich mal aus und sag mir dann bei Gelegenheit, wie zufrieden du damit bist."
"Ich habe gar keinen Bogen dabei."
"Ich kann dir meinen leihen."
"Dazu hat Uwe gar keine Zeit.", mischte Karin sich ein. " Wir haben genug auf dem Programm. Schießen kann er wieder zu Hause. "
Uwe zuckte lächelnd mit den Schultern. "Ja, ich gehe morgen Segeln, Karin macht einen Malkurs, und anschließend wollen wir im Yachtclub zusammen essen und dann vom Dorf aus an den Strand im Naturschutzgebiet wandern. In dem Stil geht es täglich weiter. Wir sind durchgetaktet. Aber danke, dass du an mich gedacht hast, ich teste die Pfeile zu Hause. Was bekommst du von mir?"
"Nichts. ", antwortete Anja und verbarg nur unzureichend ihre Enttäuschung. "Sind ja erste Prototypen. "
Uwe wurde allmählich unruhig. Hoffentlich blieb das Wetter beständig und der Malkurs wurde nicht abgesagt. Nur so bestand die Chance auf ein Treffen. Zu lange wartete er schon, zu lange hatte er die Sehnsucht unter dem Deckel halten müssen. Er war nun einmal ein leidenschaftlicher Typ, da war nichts zu machen. Und so viel er Karin auch verdankte, sie war längst von der großen Liebe zur vertrauten Gefährtin und von der vertrauten Gefährtin zur Alltagsstatistin mutiert. Anstrengend war sie geworden, fordernd, launisch und an allem hatte sie etwas auszusetzen.
Er sehnte sich nach Leichtigkeit, Übereinstimmung, Fröhlichkeit und Harmonie, nach freigiebiger Zärtlichkeit und selbstloser Zuwendung. Von Karin war all das schon lange nicht mehr zu erwarten.
Karin hatte nicht gut geschlafen. Sie hatte ihrem naiven Ehemann gründlich die Leviten gelesen, er mache der liebeskranken Pfeilmacherin nur falsche Hoffnungen. Sie würde weiterhin lästig fallen und selbst wäre sie am Ende verletzt. Uwe hatte erwidert, das sei eine grobe Überbewertung der Ereignisse, er gebe Anja in keinster Weise auch nur den geringsten Anlass zu der Annahme, er wolle ihr Avancen machen. Damit hatte er das Gespräch für beendet erklärt. Wie immer.
Anja hatte ebenfalls die halbe Nacht wach gelegen. In der zweiten Hälfte hatte sie sich aufs Rad geschwungen und die Umgebung erkundet, ein paar Informationen aus dem Internet und schließlich stand ihr Plan. Uwe wagte nicht, seine Frau zu verlassen , dafür hielt sie viel zu erbittert an ihm fest. Also musste seine Frau ihn verlassen. Und sie, Anja, würde dafür sorgen.
Karins Malkurs fand in einem architektonisch ansprechenden Holzneubau in den Dünen statt. Es war ein Leichtes, eine geeignete Anhöhe zu finden, um sich h im Schutz der fruchtig duftenden Sanddornbüsche auf die Lauer zu legen. Anja machte Dehn- und Aufwärmübungen, um im richtigen Moment mit blitzschneller Präzision zu Werke zu gehen.
Kein Schneeball-Pfeil, der hätte sie verraten, einer aus Carbon, die nahm sie gern zum Üben, das wusste aber niemand und wer käme schon darauf, dass hinter einem Carbon-Pfeil eine Holzpfeilbauerin steckte?
Uwes Haare waren ganz klebrig und strähnig von der feucht-salzigen Luft. Mit jedem Schritt, mit dem er dem futuristischen Künstlerdom näher kam, wich seine eben noch empfundene Leichtigkeit der vertrauten Schwere. Eine Gestalt, die Ähnlichkeit mit Karin hatte, stand an einem Geländer der Außenterrasse und sackte plötzlich zusammen. Zunächst blieb alles ruhig,dann beugte sich jemand über die Stelle, an der sie hinter der Brüstung verschwunden war. Aufgeregte Rufe, mehr Menschen, die sich näherten und Uwe beschlich ein unheimliches Gefühl, eine Mischung aus Angst, Entsetzen und Vorfreude, das ihn vor selbst erschrecken ließ.
Als Karin sah, was sie sah, spürte sie nur noch Verzweiflung. Die alte Geschichte lag Jahrzehnte zurück und jetzt war sie plötzlich wieder da. Sie war jünger, schöner, strahlender und schon immer um ein Vielfaches interessanter. Und sie hatte es nicht nötig, einem Mann nachzustellen, sie war einfach Lilly und die Männer stellten ihr nach. Aber nicht einmal das hatte Uwe nötig. Er verschlang sie einfach mit seinen weichen Lippen und sie ließ sich verschlingen.
Jetzt war der Moment gekommen. Anja zog die Sehne bis an ihr Herz, fixierte das Ziel, schloss konzentriert die Augen und ließ los. Im nächsten Moment sank Karin zusammen.
"Es ist getan. ", dachte sie, schob den Bogen ins Futeral und ging ruhig und lässig zu ihrem Fahrrad. Jetzt bloß nicht auffallen. Niemand achtete auf sie auf ihrem Weg durch die Dünen. Was nun wohl geschehen würde? War das wirklich richtig, was sie da getan hatte? Vielleicht hatte sie dem Mann, den sie über alles liebte, am Ende den schlimmsten Schmerz seines Lebens zugefügt. Vielleicht würde er sich doch zusammenreimen, dass Anja hinter dem Anschlag steckte und sie für den Rest ihres Lebens dafür hassen. Und selbst wenn er vollkommen ahnungslos war, so wollte er womöglich gar nicht von ihr getröstet werden, wollte sich lieber in seine Trauer zurückziehen und nicht gestört werden. Am Ende würde sie den Punkt verpassen, an dem er wieder bereit war für Kontakt, gute Gespräche, Nähe und Zärtlichkeit. Wie viel leichter wäre es doch gewesen, ihn von ihrer Einzigartigkeit und Kompatibilität zu überzeugen, solange die zänkische, missgünstige Karin tagtäglich ihr wahres Gesicht offenbarte. Nun würde die Verstorbene auf ewig in einem verklärten Licht erscheinen, eine perfekte Ikone, gegen die eine durchschnittliche Anja aus Fleisch und Blut nicht den Hauch einer Chance hatte.
Uwe kam zeitgleich mit dem Notarzt auf der Terrasse an, er konnte Karin nirgends finden. Und dann lag sie da. Jemand versuchte, sie zu reanimieren, doch der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Sie war einfach so umgefallen, vielleicht ein heftiger Schlaganfall oder ein Herzstillstand infolge einer Embolie. Man würde sie untersuchen müssen.
In den Dünen lag Murkel, Annekes ausgerissenes Kaninchen. Es hatte ein schönes Leben. Und einen schönen Tod, getroffen von einem Carbon-Pfeil. Mitten ins Herz.
Sicher hatte Uwe arglos davon erzählt, von dem kleinen, historischen Häuschen an der Gracht, das lieben Freunden gehörte, die es ihm gern günstig vermieteten. Seit Jahren spannten sie hier aus; früher noch mit Leon, mittlerweile zu zweit. Manchmal fuhr Uwe auch allein hier hin, um runter zu kommen und seine Ruhe zu haben.
Jetzt stand sie hier vor der Tür, mit dem gleichen unterwürfig-debilen Grinsen und dem mühsamen aber zwecklosen Versuch, das Begehren zu verbergen. Uwe zuckte jedes Mal mit den Schultern. "Was regst du dich auf?", fragte er dann. "Sie tut doch nichts. Sie will nur nett sein. "
"Sie will nett mit dir vögeln, du naiver Bewunderungsjunky.", fauchte Karin. "Sie dünstet es förmlich durch jede Pore aus."
Was du immer hast. Sie freut sich einfach, dass jemand ihre Arbeit zu schätzen weiß. Wo bekomme ich sonst so gute Schäfte für meine Pfeile?"
Karin war nicht eifersüchtig, das war sie nie gewesen. Sie wusste, dass die Pfeilschaftfräserin für Uwe keine Versuchung darstellte. Aber ihre Omnipräsenz war ihr unheimlich.
Anja zitterte vor Aufregung und ärgerte sich, dass man ihr den Mangel an Gelassenheit ansah. Ihr Herz hatte einen Purzelbaum geschlagen, als sie das Dortmunder Kennzeichen mit den Initialen von Uwe und Karin entdeckt hatte, das konnte doch kein Zufall sein, das war eine Fügung des Himmels.
Eigentlich hatte sie sich entschlossen, die Finger von Uwe zu lassen, das sechste Gebot hatte schon seinen Sinn. Aber manchmal gingen Ehen einfach so in die Brüche, dann wurden stabile Freundschaften gebraucht und aus Freundschaften wurde leicht mehr, vor allem, wenn man verletzt und allein war.
Wenig später hatte sie im Cafe am Hafen gesessen und zufällig beobachtet, wie Uwe und Karin ihre Einkäufe aus dem Supermarkt zur Ferienwohnung getragen hatten. Sie hatte hastig bezahlt, hatte versucht, sie einzuholen, aber als sie dann plötzlich in einem der alten Fischerhäuser verschwunden waren, hatte sie der Mut verlassen. Unruhig war sie gewesen. Sie wusste, wo er wohnte, wenn auch nicht, für wie lange. Dann war ihr die Idee mit den Pfeilschäften aus hiesigem Schneeball, den sie am Rand eines Waldstücks entdeckt hatte, in den Sinn gekommen.
Ein gänzlich anderes Verfahren, mühsame Handarbeit, aber ein lohnendes Unterfangen. Beherzt war sie in das Gebiet geradelt, hatte kräftige Zweige geschnitten, am Strand in Form geschnitzt und über einem kleinen Feuer aus Treibholz gerade gebogen und ausgerichtet. Drei behielt sie für sich, drei waren für Uwe - Spitzen hatte sie dabei, ebenso Kleber und Material für die Befiederung.
Als sie fertig waren, war sie einen Moment in Sorge gewesen, das Paar könne mittlerweile abgereist sein - aber sie waren da. Und da kam er auch schon, lächelte sie über Karins kalte Schulter hinweg an.
"Das ist ja eine Überraschung. Bist du etwa auch hier im Urlaub?"
"Ja, ich wohne in der Bungalow-Siedlung, nicht so gediegen wie ihr. War aber auch ein Schnäppchen."
"Woher wusstest du denn, wo wir wohnen?"
"Ich habe euch vor zwei Tagen zufällig gesehen, ich wollte euch noch begrüßen, aber da wart ihr schon im Haus verschwunden, da wollte ich nicht stören."
Karin schnaubte verächtlich und Anja gab sich Mühe, es zu ignorieren. Sie hielt Uwe die Pfeile hin. "Hier. Sonderanfertigungen aus hiesigem Schneeball. Probier sie gleich mal aus und sag mir dann bei Gelegenheit, wie zufrieden du damit bist."
"Ich habe gar keinen Bogen dabei."
"Ich kann dir meinen leihen."
"Dazu hat Uwe gar keine Zeit.", mischte Karin sich ein. " Wir haben genug auf dem Programm. Schießen kann er wieder zu Hause. "
Uwe zuckte lächelnd mit den Schultern. "Ja, ich gehe morgen Segeln, Karin macht einen Malkurs, und anschließend wollen wir im Yachtclub zusammen essen und dann vom Dorf aus an den Strand im Naturschutzgebiet wandern. In dem Stil geht es täglich weiter. Wir sind durchgetaktet. Aber danke, dass du an mich gedacht hast, ich teste die Pfeile zu Hause. Was bekommst du von mir?"
"Nichts. ", antwortete Anja und verbarg nur unzureichend ihre Enttäuschung. "Sind ja erste Prototypen. "
Uwe wurde allmählich unruhig. Hoffentlich blieb das Wetter beständig und der Malkurs wurde nicht abgesagt. Nur so bestand die Chance auf ein Treffen. Zu lange wartete er schon, zu lange hatte er die Sehnsucht unter dem Deckel halten müssen. Er war nun einmal ein leidenschaftlicher Typ, da war nichts zu machen. Und so viel er Karin auch verdankte, sie war längst von der großen Liebe zur vertrauten Gefährtin und von der vertrauten Gefährtin zur Alltagsstatistin mutiert. Anstrengend war sie geworden, fordernd, launisch und an allem hatte sie etwas auszusetzen.
Er sehnte sich nach Leichtigkeit, Übereinstimmung, Fröhlichkeit und Harmonie, nach freigiebiger Zärtlichkeit und selbstloser Zuwendung. Von Karin war all das schon lange nicht mehr zu erwarten.
Karin hatte nicht gut geschlafen. Sie hatte ihrem naiven Ehemann gründlich die Leviten gelesen, er mache der liebeskranken Pfeilmacherin nur falsche Hoffnungen. Sie würde weiterhin lästig fallen und selbst wäre sie am Ende verletzt. Uwe hatte erwidert, das sei eine grobe Überbewertung der Ereignisse, er gebe Anja in keinster Weise auch nur den geringsten Anlass zu der Annahme, er wolle ihr Avancen machen. Damit hatte er das Gespräch für beendet erklärt. Wie immer.
Anja hatte ebenfalls die halbe Nacht wach gelegen. In der zweiten Hälfte hatte sie sich aufs Rad geschwungen und die Umgebung erkundet, ein paar Informationen aus dem Internet und schließlich stand ihr Plan. Uwe wagte nicht, seine Frau zu verlassen , dafür hielt sie viel zu erbittert an ihm fest. Also musste seine Frau ihn verlassen. Und sie, Anja, würde dafür sorgen.
Karins Malkurs fand in einem architektonisch ansprechenden Holzneubau in den Dünen statt. Es war ein Leichtes, eine geeignete Anhöhe zu finden, um sich h im Schutz der fruchtig duftenden Sanddornbüsche auf die Lauer zu legen. Anja machte Dehn- und Aufwärmübungen, um im richtigen Moment mit blitzschneller Präzision zu Werke zu gehen.
Kein Schneeball-Pfeil, der hätte sie verraten, einer aus Carbon, die nahm sie gern zum Üben, das wusste aber niemand und wer käme schon darauf, dass hinter einem Carbon-Pfeil eine Holzpfeilbauerin steckte?
Uwes Haare waren ganz klebrig und strähnig von der feucht-salzigen Luft. Mit jedem Schritt, mit dem er dem futuristischen Künstlerdom näher kam, wich seine eben noch empfundene Leichtigkeit der vertrauten Schwere. Eine Gestalt, die Ähnlichkeit mit Karin hatte, stand an einem Geländer der Außenterrasse und sackte plötzlich zusammen. Zunächst blieb alles ruhig,dann beugte sich jemand über die Stelle, an der sie hinter der Brüstung verschwunden war. Aufgeregte Rufe, mehr Menschen, die sich näherten und Uwe beschlich ein unheimliches Gefühl, eine Mischung aus Angst, Entsetzen und Vorfreude, das ihn vor selbst erschrecken ließ.
Als Karin sah, was sie sah, spürte sie nur noch Verzweiflung. Die alte Geschichte lag Jahrzehnte zurück und jetzt war sie plötzlich wieder da. Sie war jünger, schöner, strahlender und schon immer um ein Vielfaches interessanter. Und sie hatte es nicht nötig, einem Mann nachzustellen, sie war einfach Lilly und die Männer stellten ihr nach. Aber nicht einmal das hatte Uwe nötig. Er verschlang sie einfach mit seinen weichen Lippen und sie ließ sich verschlingen.
Jetzt war der Moment gekommen. Anja zog die Sehne bis an ihr Herz, fixierte das Ziel, schloss konzentriert die Augen und ließ los. Im nächsten Moment sank Karin zusammen.
"Es ist getan. ", dachte sie, schob den Bogen ins Futeral und ging ruhig und lässig zu ihrem Fahrrad. Jetzt bloß nicht auffallen. Niemand achtete auf sie auf ihrem Weg durch die Dünen. Was nun wohl geschehen würde? War das wirklich richtig, was sie da getan hatte? Vielleicht hatte sie dem Mann, den sie über alles liebte, am Ende den schlimmsten Schmerz seines Lebens zugefügt. Vielleicht würde er sich doch zusammenreimen, dass Anja hinter dem Anschlag steckte und sie für den Rest ihres Lebens dafür hassen. Und selbst wenn er vollkommen ahnungslos war, so wollte er womöglich gar nicht von ihr getröstet werden, wollte sich lieber in seine Trauer zurückziehen und nicht gestört werden. Am Ende würde sie den Punkt verpassen, an dem er wieder bereit war für Kontakt, gute Gespräche, Nähe und Zärtlichkeit. Wie viel leichter wäre es doch gewesen, ihn von ihrer Einzigartigkeit und Kompatibilität zu überzeugen, solange die zänkische, missgünstige Karin tagtäglich ihr wahres Gesicht offenbarte. Nun würde die Verstorbene auf ewig in einem verklärten Licht erscheinen, eine perfekte Ikone, gegen die eine durchschnittliche Anja aus Fleisch und Blut nicht den Hauch einer Chance hatte.
Uwe kam zeitgleich mit dem Notarzt auf der Terrasse an, er konnte Karin nirgends finden. Und dann lag sie da. Jemand versuchte, sie zu reanimieren, doch der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Sie war einfach so umgefallen, vielleicht ein heftiger Schlaganfall oder ein Herzstillstand infolge einer Embolie. Man würde sie untersuchen müssen.
In den Dünen lag Murkel, Annekes ausgerissenes Kaninchen. Es hatte ein schönes Leben. Und einen schönen Tod, getroffen von einem Carbon-Pfeil. Mitten ins Herz.
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