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Freitag, 13. August 2021
Siehe, ich mache alles neu!
c. fabry, 14:39h
Da lag sie nun. Die erste von sechs bissigen Stuten, die ihr seit einem halben Jahr das Leben zur Hölle machten. Heute hatte Franziska es auf die Spitze getrieben. Ihre Dienstanweisung die Teilnehmenden ihrer Kindergruppe vor Programmbeginn auf Corona zu testen, hatte sie schlicht ignoriert. "Das ist nicht nötig.", hatte sie überlegen geantwortet, "Alles völliger Quatsch. Hier bei uns hat das keiner, wir leben hier auf dem Dorf. Ich kenne jedenfalls noch keinen einzigen Menschen, der es schon hatte und die Kinder auch nicht."
"Deine persönliche Einschätzung ist in diesem Fall irrelevant.", hatte Charlotte verärgert geantwortet. "Ich bin Deine Dienstvorgesetzte und habe dir eine Anweisung erteilt, die du nicht befolgt hast. Hast du mittlerweile wenigstens einen Impftermin vereinbart?"
"Das geht dich gar nichts an.", hatte Franziska gefaucht. "Das ist meine Privatangelegenheit und außerdem bist nicht du meine Dienstvorgesetzte sondern der Leitende Jugendreferent des Kirchenkreises. Du hast mir gar nichts zu sagen."
Charlotte hatte es die Sprache verschlagen. Wie konnte diese Pädagogin so frech werden? Schließlich war sie als Pfarrerin für alles verantwortlich, was sich in ihrer Gemeinde abspielte. Auch wenn die Jugendreferentin, die eine ganze Region versorgte, ihr nicht direkt unterstand, so musste sie sich doch an Vorgaben der Gemeindeleitung halten. Gegenüber einem Mann hätte sie sich eine derartige Aufsässigkeit sicher nicht herausgenommen. Charlotte hatte tief durchgeatmet und dann gesagt: "Ich kläre das mit deinem Vorgesetzten. Bis dahin betrittst du bis auf Weiteres nicht mehr das Kirchengrundstück dieser Gemeinde."
Franziska hatte den Kopf schiefgelegt und leise drohend erwidert: "So ist es mit euch wissenschaftlich ausgerichteten Großstadt-Theologen. Euch fehlt einfach das gesunde Gottvertrauen."
Dann war sie deutlich zu nah an Charlotte herangetreten und hatte sie demonstrativ angehustet. Da war der Damm gebrochen und Charlotte hatte nach dem ersten Besten gegriffen, das ihr in die Hände gekommen war und hatte besinnungslos auf sie eingedroschen, bis sie sich nicht mehr gerührt hatte. Es war ein Waldhorn, ein schadhaftes Instrument, das zu Dekorationszwecken im Kinder- und Jugendraum herumstand. Jetzt war es verbeult und blutverschmiert. Wie hatte sie sich nur so vergessen können?
Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen, damals, vor einem halben Jahr...
"Endlich angekommen", dachte Charlotte, als sie zum ersten Mal in ihrem neuen Zuhause von den Sonnenstrahlen wachgeküsst wurde. Hendrik war schon auf dem Weg zur Frühschicht und sie war heilfroh, dass sie, die sie eine unverbesserliche Nachteule war, nicht in einem Beruf im Gesundheitswesen sondern in Verkündigung und Seelsorge gelandet war. Das Arbeiten in den Abendstunden hatte ihr noch nie etwas ausgemacht und berufliche Besprechungen hatten allerfrühestens um 09.00 Uhr stattgefunden, meistens sogar erst um 10.00 Uhr.
Trotzdem hatte sie ihren Beruf in den letzten Jahren zunehmend gehasst. Profilierungsneurotische Kollegen, die ständig auf der Jagd nach dem neuesten Trend waren, eifrig bemüht im vorauseilenden Gehorsam die brandaktuellsten Bedürfnisse der Konsumgesellschaft zu befriedigen. Nein, das hätten sie niemals zugegeben, sie reagierten nur auf die neuesten Impulse, nahmen Anregungen auf, kamen den Bedürfnissen der Gemeindeglieder entgegen, holten sie ab...
Erschwerend war hinzu gekommen, dass in ihrer Gemeinde nahezu ausschließlich Männer am Werk gewesen waren: Ein weiterer Pfarrkollege, ein grantelnder Küster, ein selbstverliebter Jugendreferent, ein kleinkarierter Kirchmeister und ein Haufen männlicher Presbyter, die ihr "Ministerium" in einer Weise zu ihrem Lebensinhalt erklärt hatten, dass sie mit ihren überambitionierten Projekten ständig sämtliche Arbeitsabläufe durcheinandergebracht hatten. Lauter eitle Gockel, von denen jeder versuchte am lautesten zu krähen und sein Gefieder aufs effektivste im strahlenden Licht auszubreiten. Nur die Kirchenmusikerin war angenehm im Umgang, freundlich und zurückhaltend gewesen und die Verwaltungsfachkraft im Büro eine patente, aufgeweckte, humorvolle, junge Frau.
Hektik, Leistungs- und Erfolgsdruck, permanente Kritik und Abwertung, Optimierungswahn und Lifestyle-Theologie - das hatte sie einfach nicht mehr ausgehalten. Und die Zeiten, in denen sie das Leben in der Großstadt mit den vielfältigen kulturellen, gastronomischen und politischen Angeboten in vollen Zügen genießen konnte, waren längst Geschichte. Alles viel zu anstrengend.
Hier ging das Leben langsam und in Ruhe, unaufgeregt, solide, aufs Wesentliche konzentriert. Keine Paradiesvögel, kein sozialer Brennpunkt. Und das Beste: hier arbeiteten fast ausschließlich Frauen! Sie hatte die einzige Pfarrstelle in dieser Gemeinde, eine Teilzeitjugendreferentin, unterstützt von zwei jungen, erwachsenen Ehrenamtlichen, ein Quotenpresbyterium mit Kirchmeisterin, eine Kirchenmusikerin und eine Küsterin.
Die ersten Wochen waren herrlich. Alle waren freundlich, gemütlich, niemand übte Druck aus, niemand musste irgendetwas beweisen.
Doch dann bekam die Idylle erste Risse. Die Kirchenmusikerin rümpfte die Nase, als Charlotte ein paar frische, neue Gemeindelieder mitbrachte, die sie auf einer Fortbildung begeistert gelernt hatte. Sie weigerte sich, die Lieder zu spielen, zuerst hatte sie angeblich keine Zeit zum Üben, dann hatte sie die Noten verlegt und als Charlotte ihr neue Kopien gegeben hatte, hieß es, das sei eine ganz unmögliche Tonart, da würde sie sicher dauernd daneben greifen und nein, transponieren könne man das auch nicht, dann klinge das vollkommen anders und sei auch nicht vernünftig zu singen.
Als nächstes fiel ihr die spießige Arroganz der Verwaltungsfachkraft auf, die mit Betonfrisur und millimetergenauem Lidstrich wie ein Kerberos über das Gemeindebüro herrschte. Einmal hatte Charlotte ihr ein Formular hereingereicht, das sie am Frühstückstisch ausgefüllt hatte und auf das ein Tröpfchen Tee gekleckert war. Mit der gesamten Verachtung, die die gestrenge Sekretärin aufbringen konnte, hatte sie ihr den Zettel über den Schreibtisch geschleudert und spitz erklärt: "So etwas kommt mir nicht in die Unterlagen, so eine Schlamperei. Das füllen sie bitte auf einem sauberen Formular noch einmal aus, am besten gleich hier, damit nicht das nächste Malheur passiert."
Immer einsilbiger war die piefige Tante geworden, weil Charlotte nun einmal nicht so ein blitzsauberes, wohlorganisiertes, akkurates Frauchen war wie sie selbst vor zwei Dekaden.
Und dann diese ehrenamtlichen Hobbytheologinnen in der Jugendarbeit. Beide waren mit Puddingabitur direkt in die Ausbildung gegangen und hielten an den Ritualen ihrer Kindheit und Jugend fest, konservativer als jeder Seniorenclub. Innovative Methoden im Kindergottesdienst lehnten sie kategorisch ab. Abgespeckte Liturgie, Geschichte erzählen, in altershomogenen Gruppen zur Vertiefung Ausmalbilder colorieren, etwas basteln oder reden, gemeinsamer Abschluss, fertig. Neue Methoden überforderten sie, neue Mitarbeitende empfanden sie als Konkurrenz, die sie von ihrem angestammten Platz verdrängten.
Wenigstens die Küsterin war freundlich, auch sehr akkurat, aber viel wohlwollender und toleranter als die übrigen verängstigten Frusthennen. Sie hatte es versucht mit empathischem Entgegenkommen, aber sie hatten sie einfach auflaufen lassen.
Und jetzt war sie ausgerastet und ihre Zeit war um. Es sei denn?
Sie hörte Annalena und Lisa-Marie die Treppe hoch gehen. Ihre Hand griff nach dem Instrument. Es war noch nicht zu Ende.
"Deine persönliche Einschätzung ist in diesem Fall irrelevant.", hatte Charlotte verärgert geantwortet. "Ich bin Deine Dienstvorgesetzte und habe dir eine Anweisung erteilt, die du nicht befolgt hast. Hast du mittlerweile wenigstens einen Impftermin vereinbart?"
"Das geht dich gar nichts an.", hatte Franziska gefaucht. "Das ist meine Privatangelegenheit und außerdem bist nicht du meine Dienstvorgesetzte sondern der Leitende Jugendreferent des Kirchenkreises. Du hast mir gar nichts zu sagen."
Charlotte hatte es die Sprache verschlagen. Wie konnte diese Pädagogin so frech werden? Schließlich war sie als Pfarrerin für alles verantwortlich, was sich in ihrer Gemeinde abspielte. Auch wenn die Jugendreferentin, die eine ganze Region versorgte, ihr nicht direkt unterstand, so musste sie sich doch an Vorgaben der Gemeindeleitung halten. Gegenüber einem Mann hätte sie sich eine derartige Aufsässigkeit sicher nicht herausgenommen. Charlotte hatte tief durchgeatmet und dann gesagt: "Ich kläre das mit deinem Vorgesetzten. Bis dahin betrittst du bis auf Weiteres nicht mehr das Kirchengrundstück dieser Gemeinde."
Franziska hatte den Kopf schiefgelegt und leise drohend erwidert: "So ist es mit euch wissenschaftlich ausgerichteten Großstadt-Theologen. Euch fehlt einfach das gesunde Gottvertrauen."
Dann war sie deutlich zu nah an Charlotte herangetreten und hatte sie demonstrativ angehustet. Da war der Damm gebrochen und Charlotte hatte nach dem ersten Besten gegriffen, das ihr in die Hände gekommen war und hatte besinnungslos auf sie eingedroschen, bis sie sich nicht mehr gerührt hatte. Es war ein Waldhorn, ein schadhaftes Instrument, das zu Dekorationszwecken im Kinder- und Jugendraum herumstand. Jetzt war es verbeult und blutverschmiert. Wie hatte sie sich nur so vergessen können?
Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen, damals, vor einem halben Jahr...
"Endlich angekommen", dachte Charlotte, als sie zum ersten Mal in ihrem neuen Zuhause von den Sonnenstrahlen wachgeküsst wurde. Hendrik war schon auf dem Weg zur Frühschicht und sie war heilfroh, dass sie, die sie eine unverbesserliche Nachteule war, nicht in einem Beruf im Gesundheitswesen sondern in Verkündigung und Seelsorge gelandet war. Das Arbeiten in den Abendstunden hatte ihr noch nie etwas ausgemacht und berufliche Besprechungen hatten allerfrühestens um 09.00 Uhr stattgefunden, meistens sogar erst um 10.00 Uhr.
Trotzdem hatte sie ihren Beruf in den letzten Jahren zunehmend gehasst. Profilierungsneurotische Kollegen, die ständig auf der Jagd nach dem neuesten Trend waren, eifrig bemüht im vorauseilenden Gehorsam die brandaktuellsten Bedürfnisse der Konsumgesellschaft zu befriedigen. Nein, das hätten sie niemals zugegeben, sie reagierten nur auf die neuesten Impulse, nahmen Anregungen auf, kamen den Bedürfnissen der Gemeindeglieder entgegen, holten sie ab...
Erschwerend war hinzu gekommen, dass in ihrer Gemeinde nahezu ausschließlich Männer am Werk gewesen waren: Ein weiterer Pfarrkollege, ein grantelnder Küster, ein selbstverliebter Jugendreferent, ein kleinkarierter Kirchmeister und ein Haufen männlicher Presbyter, die ihr "Ministerium" in einer Weise zu ihrem Lebensinhalt erklärt hatten, dass sie mit ihren überambitionierten Projekten ständig sämtliche Arbeitsabläufe durcheinandergebracht hatten. Lauter eitle Gockel, von denen jeder versuchte am lautesten zu krähen und sein Gefieder aufs effektivste im strahlenden Licht auszubreiten. Nur die Kirchenmusikerin war angenehm im Umgang, freundlich und zurückhaltend gewesen und die Verwaltungsfachkraft im Büro eine patente, aufgeweckte, humorvolle, junge Frau.
Hektik, Leistungs- und Erfolgsdruck, permanente Kritik und Abwertung, Optimierungswahn und Lifestyle-Theologie - das hatte sie einfach nicht mehr ausgehalten. Und die Zeiten, in denen sie das Leben in der Großstadt mit den vielfältigen kulturellen, gastronomischen und politischen Angeboten in vollen Zügen genießen konnte, waren längst Geschichte. Alles viel zu anstrengend.
Hier ging das Leben langsam und in Ruhe, unaufgeregt, solide, aufs Wesentliche konzentriert. Keine Paradiesvögel, kein sozialer Brennpunkt. Und das Beste: hier arbeiteten fast ausschließlich Frauen! Sie hatte die einzige Pfarrstelle in dieser Gemeinde, eine Teilzeitjugendreferentin, unterstützt von zwei jungen, erwachsenen Ehrenamtlichen, ein Quotenpresbyterium mit Kirchmeisterin, eine Kirchenmusikerin und eine Küsterin.
Die ersten Wochen waren herrlich. Alle waren freundlich, gemütlich, niemand übte Druck aus, niemand musste irgendetwas beweisen.
Doch dann bekam die Idylle erste Risse. Die Kirchenmusikerin rümpfte die Nase, als Charlotte ein paar frische, neue Gemeindelieder mitbrachte, die sie auf einer Fortbildung begeistert gelernt hatte. Sie weigerte sich, die Lieder zu spielen, zuerst hatte sie angeblich keine Zeit zum Üben, dann hatte sie die Noten verlegt und als Charlotte ihr neue Kopien gegeben hatte, hieß es, das sei eine ganz unmögliche Tonart, da würde sie sicher dauernd daneben greifen und nein, transponieren könne man das auch nicht, dann klinge das vollkommen anders und sei auch nicht vernünftig zu singen.
Als nächstes fiel ihr die spießige Arroganz der Verwaltungsfachkraft auf, die mit Betonfrisur und millimetergenauem Lidstrich wie ein Kerberos über das Gemeindebüro herrschte. Einmal hatte Charlotte ihr ein Formular hereingereicht, das sie am Frühstückstisch ausgefüllt hatte und auf das ein Tröpfchen Tee gekleckert war. Mit der gesamten Verachtung, die die gestrenge Sekretärin aufbringen konnte, hatte sie ihr den Zettel über den Schreibtisch geschleudert und spitz erklärt: "So etwas kommt mir nicht in die Unterlagen, so eine Schlamperei. Das füllen sie bitte auf einem sauberen Formular noch einmal aus, am besten gleich hier, damit nicht das nächste Malheur passiert."
Immer einsilbiger war die piefige Tante geworden, weil Charlotte nun einmal nicht so ein blitzsauberes, wohlorganisiertes, akkurates Frauchen war wie sie selbst vor zwei Dekaden.
Und dann diese ehrenamtlichen Hobbytheologinnen in der Jugendarbeit. Beide waren mit Puddingabitur direkt in die Ausbildung gegangen und hielten an den Ritualen ihrer Kindheit und Jugend fest, konservativer als jeder Seniorenclub. Innovative Methoden im Kindergottesdienst lehnten sie kategorisch ab. Abgespeckte Liturgie, Geschichte erzählen, in altershomogenen Gruppen zur Vertiefung Ausmalbilder colorieren, etwas basteln oder reden, gemeinsamer Abschluss, fertig. Neue Methoden überforderten sie, neue Mitarbeitende empfanden sie als Konkurrenz, die sie von ihrem angestammten Platz verdrängten.
Wenigstens die Küsterin war freundlich, auch sehr akkurat, aber viel wohlwollender und toleranter als die übrigen verängstigten Frusthennen. Sie hatte es versucht mit empathischem Entgegenkommen, aber sie hatten sie einfach auflaufen lassen.
Und jetzt war sie ausgerastet und ihre Zeit war um. Es sei denn?
Sie hörte Annalena und Lisa-Marie die Treppe hoch gehen. Ihre Hand griff nach dem Instrument. Es war noch nicht zu Ende.
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