Freitag, 6. August 2021
Pechmarie
Die Bauarbeiten auf dem Turm kamen nicht ungelegen. Die Minipaletten mit den tönernen Dachziegeln waren nicht so schwer, sie ließen sich problemlos aus der brüstungsfreien Tür schubsen, mitten auf den malerischen Kirchplatz, der frisch gepflastert von hier oben besonders eindrucksvoll aussah, mit dem Labyrinth von Chartres, aus hellen Steinen auf grauem Grund. Der rote Ziegelstaub würde den weißen Marmor verfärben und damit die Harmonie stören, genauso wie das Blut der trächtigen Kuh, das sich gleich in Strömen über den Platz ergießen würde.
"Lea-Marie", sagte sie nun leise zu sich selbst. "Du kannst doch keine Schwangere töten. Wenn Christian das klar wird, hast du ihn für immer verloren."
Sie setzte sich auf den Boden und atmete hektisch ein und aus. Noch war nichts geschehen, noch hatte sie sich nichts vorzuwerfen. Sie könnte einfach wieder runtergehen und die Entscheidung über den Verlauf ihres weiteren Lebens dem Schicksal überlassen. Oder Gott. Oder den Feen. Oder dem Gesetz von Ursache und Wirkung.
"Aber jetzt bin ich dran.", flüsterte sie, und ihre Gedanken wanderten zu den ganz besonderen Momenten: die ersten Eindrücke von dem jungen, neuen Kollegen, der entwaffnende Humor, die definierten Muskeln unter dem T-Shirt, die leuchtenden, hellgrünen Augen, die markanten Linien in seinem verwegenen Gesicht, die respektvolle Aufmerksamkeit, mit der er allen begegnete, wie er roch, als sie sich zum ersten Mal umarmt hatten: frisch, natürlich und gesund. Wie überwältigt sie gewesen war, dass er ihr zu Weihnachten einen Handschmeichler aus Kirschholz geschenkt hatte, selbst geschliffen und geölt. Die gemeinsamen Schulungswochenenden, wo sie am Lagerfeuer halbe, sternenklare Nächte durchgequatscht hatten, über alles, was sie bewegte, und da war so viel Gemeinsames gewesen und auch jetzt noch so viel, das sie sich zu sagen hätten.
Er stand in Flammen, das war nicht zu übersehen, doch sie hatte sich zurückgehalten, immer wieder gebremst, war ihm ausgewichen, hatte ihn am Telefon kurz angebunden abgefertigt, seine Mails ignoriert oder erst eine Woche später beantwortet und ihm sämtliche Möglichkeiten, ihr Avancen zu machen, konsequent verbaut. Denn sie liebte auch Rainer. Immer noch, sogar nach zweiundzwanzig Jahren Ehe, nach achtundzwanzig Jahren als Paar. Sie war nicht mehr verliebt in ihn, schon lange nicht mehr, die Leidenschaft hatte sich aus ihrer Beziehung verabschiedet, war aber einer unverwechselbaren Vertrautheit gewichen, einem Gleichklang der Lebensrythmen, im Alltag genauso wie in den besonderen Momenten, in Krisen wie im Freudentaumel, in der Trauer wie im Abenteuer. Sie liebten die gleichen Urlaubsaktivitäten, im gleichen Tempo, in der gleichen Intensität. Die Kinder waren groß, aber oft zu Besuch oder versuchten sich als reife Gastgeber; auch das bedeutete ein festes Band. Sie waren ein Paar, Eltern, ein Team.
Und dann kam Marie. Goldmarie hatte Papa sie immer genannt, die große Schwester aus Papas erster Ehe, die eigentlich Marie-Christine hieß, aber weil bei ihrem Doppelnamen die Marie vorn stand, war das ihr Rufname, während von Lea-Marie nur noch Lea übrigblieb; nüchtern, kühl, unromantisch. Die ungeliebte, untergeschobene Ehefrau Jakobs. Die unattraktivere Schwester, die viele Söhne gebar, aber nicht die Bedeutenden.
Die biblische Lea war die Ältere gewesen, darin unterschieden sie sich und vielleicht im Grad der Blutsverwandtschaft. Vielleicht war die biblische Lea aber auch nur eine Halbschwester der begehrten Rahel, die Monogamie hatte sich damals noch nicht durchgesetzt. Hatte sie offensichtlich bis heute nicht. Oder doch?
Marie hatte den freundlichen Rainer systematisch eingewickelt. Zuerst war sie zufällig zu Besuch gekommen, als Lea wegen einer Jugendfreizeit verreist war. Sie hatte mit dem Strohwitwer Rainer Radtouren in die Umgebung unternommen und ihm ihr Herz ausgeschüttet über ihren depressiven Ehemann, den zu ertragen ihr täglich schwerer fiel. Das beteuerte Bedauern Marie-Christines über Leas Abwesenheit hatte sie ihr tatsächlich abgekauft, hatte arglos zur Kenntnis genommen, dass Rainer sich um sie kümmerte und an ihrem freien Nachmittag die kunstgewerblichen Töpfereien nach einem besonders schönen Teapot abgesucht, um ihrer vermeintlich gebeutelten Schwester eine wirksame Aufmunterung zukommen zu lassen. Marie liebte Tee und Handgetöpfertes, war aber in beiden Fällen äußerst anspruchsvoll mit einer ausgeprägten Neigung, alles gnadenlos abzuwerten, was nicht ihren persönlichen Vorstellungen entsprach. Sie war Lea von Anfang an in allem überlegen gewesen, ganz besonders in der Stilsicherheit und sie legte bis heute größten Wert darauf, nicht nur unübertroffen, sondern unerreichbar zu bleiben.
Von allem nahm Marie-Christine sich zuerst und immer das Beste: bei den Weihnachtsplätzchen, den Schaukeln auf dem Spielplatz, den Freundinnen und dem eigenen Zimmer in der neuen Wohnung. Sie machte den besseren Schulabschluss, studierte erfolgreich Diplompädagogik an der Uni, während es bei Lea nur für die Fachhochschule gereicht hatte. Und während die Ältere interessante Projekte in Kooperation mit der Düsseldorfer Kunstakademie auf den Weg brachte und dafür regelmäßig in allen Medien gefeiert wurde, verausgabte Lea sich für die Evangelische Jugend, arbeitete härter für weniger Geld und noch weniger Anerkennung und alterte vor der Zeit. Jetzt sah die Ältere sogar jünger aus als sie, war sportlicher, fitter, strahlender, attraktiver.
Ob sie wohl einen Weg finden würde, sich Christian reinzuziehen, wenn sie mit Rainer fertig war?
Die trächtige Kuh trat aus der Kirche. "Jetzt.", dachte Lea-Marie. "Sonst ist es zu spät."

Und die Welt hielt den Atem an.

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