Freitag, 30. Juli 2021
Einkaufsbummel
Trotz steigender Inzidenz ist die Stadt voller Leute, als wäre alles wieder normal. Die Sonne scheint, ein Lüftchen weht und vor der Altstädter Kirche liegt ein Obdachloser. War wohl die ganze kühle Nacht lang wach und entspannt jetzt seine geschundenen Muskeln in der wärmenden Sonne. Menschen strömen in die offene Kirche und wieder hinaus. So auch ich. Eine Kerze für meinen Sohn, den Prokrastinations-Studenten. War es meine Schuld? Aber Eltern sind auch nicht immer für alles verantwortlich. Wir haben uns immer gekümmert, gefördert, gefordert und Fünfe gerade sein lassen. Wenn irgendwo die Dosis nicht gestimmt hat, muss er das mit seinem Therapeuten ausmachen. Aber ich sorge mich.
Dann trete ich wieder in die gleißende Sonne. Der Obdachlose liegt immer noch genauso da, wie eine Skulptur und die Sonne grillt erbarmungslos sein Gehirn. Ich habe noch einen alten Knirps in der Tasche, ich könnte mir gleich einen neuen kaufen, die Farbe hat mir sowieso nie gefallen; pink stinks.
Ich baue den Schattenspender über seinem Kopf auf. Ich betrachte ihn, wie er so vollkommen reglos daliegt. Nicht einmal Atembewegungen nehme ich wahr. Ich halte meine Hand vor seine Nase. Nicht der leiseste Hauch.
Ich fasse ihn an die Schulter. Trotz der Sonne fühlt er sich kühl an. Und hart. Und dann sehe ich den Fleck: rotbraun direkt neben seinem erstarrten Körper. Ich rufe sofort die Polizei, dauert auch nur wenige Minuten und zwei Streifenbeamte sichern den Fundort. Ob es auch der Tatort ist, wird sich zeigen. Er muss schon etliche Stunden so daliegen. Vor der Kirche. Zwischen all den frommen Menschen. Und auch zwischen den Unfrommen. Keiner besser als die Andere. Ich auch nicht. Hätte die Sonne nicht so geknallt oder hätte ich den alten Knirps nicht dabei gehabt, wäre ich wohl auch schulterzuckend von dannen gezogen.
Ich muss mich bereithalten für die Befragung durch die leitenden Ermittler*innen. Eigentlich wollte ich ja ein neues Kleid kaufen, Geschenke für diverse Geburtstage, einen riesigen Cappuccino in meinem Lieblingscafé trinken, Überweisungen tätigen, Kosmetikbestände auffüllen, Lotto spielen. Kann ich für heute keinen Haken dran machen. Wäre ich einfach weitergegangen wie alle anderen, stände ich jetzt schon in der Umkleide oder säße beim Cappuccio. Welch unwürdige Gedanken sich doch gelegentlich in mein räudiges Gehirn schleichen.
"Armer Teufel", grunzt der grantelnde leitende Beamte im fortgeschrittenen Alter, der desillusioniert seiner Pensionierung entgegenwartet. Der wird sich nicht krummlegen, um den Mörder des Opfers zu ermitteln. Wäre womöglich auch mit allergrößtem Engagement nicht von Erfolg gekrönt. Das hat vermutlich jemand im Affekt getan, aus einer Laune heraus. Messer haben viele in der Tasche. Wieder einer weg, dem keiner nachweint. Traurig.
Und dann denke ich an meinen Sohn. Und fürchte mich.

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