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Freitag, 21. Mai 2021
Lieber nicht
c. fabry, 12:18h
War das etwa Anja? Mein Gott, hatte die abgebaut. Die üppige blonde Mähne, war platinierten Strähnchen gewichen, denen man den Volumenschaum deutlich ansah. Auch von der lebendigen Frische ihres jugendlichen Gesichts war nichts mehr übrig und die Proportionen, des einst so wohlgerundeten Backfischkörpers waren völlig ins Missverhältnis gerutscht.
Aber es war ja auch eine Zeitspanne verstrichen, in der zwei Generationen das Licht der Welt erblickt hatten. Vierzig Jahre! Danach hatten sie sich bald aus den Augen verloren.
Marina hatte damals Wichtigeres im Kopf gehabt. Sie hatte ihr Herz verloren und dann auch noch den Verstand. Die Gemeindeleitung hatte den Pfarrer gefeuert; vordergründig wegen einer Häufung von Verfehlungen, die im Einzelfall verzeihlich, in der Summe aber untragbar waren: finanzielle Ungereimtheiten, vergessene Termine, kleine verbale Entgleisungen und ein etwas zu lässiger Umgang mit der Volksdroge Alkohol.
Aber da waren wohl noch andere Motive im Spiel gewesen, darüber dürfe man nun wirklich nicht reden, hatten die auskunftswilligen Presbyter erklärt, zu ungeheuerlich, als dass sie es leichtfertig hätten ausplaudern dürfen.
Und Marina wusste genau, worum es ging. Damals nicht, aber mit fast vierzig Jahren zusätzlicher Lebenserfahrung, der entsprechenden Ausbildung und vielen gelesenen Büchern, hatte sich einiges in ihrem Kopf geklärt. Sie hatten den Pfarrer gefeuert, um Marina zu schützen. Sie fürchteten, der Theologe könne den Reizen der hingebungsvollen Jugendlichen erliegen und sich zu einer Grenzüberschreitung hinreißen lassen. Vermutlich hatten sie sein Verhalten bereits als Grenzüberschreitung einsortiert. Und heute täte sie das ebenso.
Wo er seine Hände hatte, wenn er mit ihr sprach. Nicht an eindeutigen Stellen, eher an den Schultern, der Taille, auf ihrem Haar..., aber wie er sie eingesetzt hatte: zart, aber intensiv und immer ein wenig länger, als angemessen gewesen wäre. So hatte er es auch mit den tiefen Blicken mitten in die Augen gehalten; besonders mit den wortlosen.
Den Verantwortlichen war wohl eher aufgefallen, dass da ein weiblicher Teenager etwas zu eifrig sämtliche Gottesdienste und Gemeinde-Veranstaltungen besuchte und dass dieser Teenager gern zu zweit mit dem Pfarrrer unterwegs war, um besondere Events in Nachbargemeinden zu besuchen. Daran war nichts Ungesetzliches, nicht einmal etwas Schlüpfriges, aber verdächtig war es ihnen erschienen, das hatte sie schon damals um zwei Ecken herum mitbekommen.
Jetzt kam Anja auf sie zu. Marina hätte sich gern unsichtbar gemacht. Was genau sie in Unbehagen versetzte, vermocht sie nicht zu sagen. Sie wollte nicht alles wieder hochkochen, was zu jahrelangem Schmerz und harter therapeutischer Arbeit geführt hatte, bis es endlich nicht mehr ihr Leben beherrscht hatte.
Da war auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Anja, die damals ihre Unterstützung hätte gebrauchen können, sie aber mit ihrer Unberechenbarkeit überfordert hatte. Und auch jetzt spürte sie eine Ahnung, dass diese alte Bekannte sie mit in den Abgrund ziehen würde, in dem sie sich mehr als ihr halbes Leben befand, sobald sie sich in ein Gespräch hineinziehen ließ, das über ein paar höfliche Floskeln hinausging.
"Hallo Marina!", begrüßte die ehemalige Mitkonfirmandin sie freundlich. "Du hast dich ja überhaupt nicht verändert. Ich habe dich sofort wiedererkannt."
"Na, das ist wohl ein bisschen übertrieben. Man sie doch deutlich, dass ich kein Teenager mehr bin."
"Ja, ein paar Falten im Gesicht, ein paar Silberfäden im Haar und schmaler bist du geworden. Aber sonst siehst du immer noch genauso aus."
"Ich hab' dich auch erkannt. Bist auch nicht fett geworden oder der vertrauten Gesichtszüge verlustig gegangen."
"Na, ein bisschen schon. Und was machst du jetzt so?"
"Ich leite eine Altentagesstätte. Und du?"
"Ich arbeite in einer Gärtnerei. Studieren ging ja nicht."
"Wieso nicht?"
"Als ich auf dem Weg zum Abitur hätte sein sollen, war ich in der Klapse und später hatte ich für den komplizierten zweiten Bildungsweg keine Kraft."
"Du warst in der Psychiatrie? Aber ich habe dich doch ab und zu mal gesehen."
"Das war ja kein Knast. Ich war auch nicht durchgehend stationär untergebracht. Das war nur in den ersten Monaten seit dem Zusammenbruch."
Marina musste schlucken. Anja hatte damals einen Suizidversuch unternommen. Sie wusste noch, wie der Pfarrer damals reagiert hatte, als sie es ihm erzählte. Ein mit versteinerter Miene hervorgestoßenes: "Aha. - Na, die war ja schon immer ziemlich durchgeknallt."
Marina war von so viel Herzenskälte zutiefst erschüttert gewesen und hatte sich gefragt, wie er wohl reagiert hätte, wenn sie mit der gleichen Verzweiflung Hand an sich gelegt hätte. Sie hatte damals betont: "Aber das ist doch wirklich schlimm. Anja wäre beinahe gestorben. Und so ein Selbstmordversuch ist doch immer ein Hilferuf."
"Ja", hatte er geantwortet, "das sagt man so. Das ändert aber nichts daran, dass sie total irre ist. So jemandem kann nur von Profis geholfen werden."
Dann hatte er entschieden das Thema gewechselt und Marina ratlos zurückgelassen.
Und jetzt stand die Anja, die sie damals nur bedauert hatte, vor ihr als Leidensgenossin, ein weiteres Opfer der Gnadenlosigkeit eines Mannes, der Hoffnung auf Verständnis geweckt und dann jede Aufmerksamkeit verweigert hatte.
"Ich habe mich damals gar nicht getraut, zu fragen, was dich so verzweifeln lassen hat.", sagte Marina.
"Das Leben.", antwortete Anja. "Da kam so Einiges zusammen. Als wir in das Dorf gezogen sind und mit dem Pastor endlich mal ein Erwachsener da war, der sich dafür interessierte, was wir Jugendlichen dachten und fühlten, da habe ich gehofft, aus dem Sumpf raus zu kommen. Zuerst war er ja auch immer nett zu mir. Einmal war ich sogar zu einem längeren Gespräch bei ihm zu Hause. Aber das nächste Mal hat er einfach nur gefragt: 'Was willst du?' Und als ich sagte, dass ich gern reden würde, hat er barsch geantwortet: 'Ich hab' jetzt keine Zeit.' und einfach die Tür zugeknallt. Das war dann immer so. Auch am Telefon. Und als ich total am Ende war, hab' ich es nochmal versucht. Ich war bei ihm zu Hause, hab' geklingelt. Er hat nicht geöffnet, aber ich konnte durchs Fenster sehen, dass er da war. Dann habe ich Sturm geklingelt. Schließlich hat er ein Fenster aufgerissen und nur geschrien: 'Wenn du nicht sofort verschwindest, rufe ich die Polizei.'
Dann bin ich durch den Regen nach Hause gelaufen, hab bis in die Nacht mit meiner Mutter geredet, aber das hat alles nicht geholfen und darum wollte ich dann doch Schluss machen."
"Meinst du, du hättest nicht...also wenn er mit dir geredet hätte?"
"Ich weiß es nicht. Es wäre vielleicht auch so dazu gekommen, aber es war so, als würdest du schon seit langem mit einem Messer im Bauch rumlaufen und dann bittest du jemanden um Hilfe und der zieht es nur ein bisschen raus und dann bittest du noch einmal und dann dreht er es um und gibt dir einen Tritt in den Hintern und lässt dich im Dreck liegen. Ich habe mich gefühlt wie ein Stück Abfall, unnütz, kaputt und mit Scheiße beschmiert."
Ja, so hatte Marina sich auch gefühlt. Nicht so drastisch, mit weniger radikalen Folgen, doch sie sträubte sich noch immer dagegen, dieses Gefühl zuzugeben. Vielleicht war sie ein bisschen gesünder geblieben als Anja und einfach nicht bereit, sich unterkriegen zu lassen.
"Und wie geht es dir heute?", fragte sie.
"Besser.", sagte Anja. "Vielleicht auch wegen der Genugtuung."
"Welche Genugtuung?"
"Meine Eltern haben dem Sup und dem Presbyterium die Hölle heiß gemacht. Sie haben verlangt, dass er gefeuert wird und nie wieder in diesem Kirchenkreis arbeiten darf. Und er musste ja gehen. Und wie ich gehört habe, ist er nicht wieder auf die Füße gekommen."
Vielleicht war es das, was Marina schon immer innerlich von Anja ferngehalten hatte: Die Erbarmungslosigkeit und die Unfähigkeit, zu vergeben.
Aber es war ja auch eine Zeitspanne verstrichen, in der zwei Generationen das Licht der Welt erblickt hatten. Vierzig Jahre! Danach hatten sie sich bald aus den Augen verloren.
Marina hatte damals Wichtigeres im Kopf gehabt. Sie hatte ihr Herz verloren und dann auch noch den Verstand. Die Gemeindeleitung hatte den Pfarrer gefeuert; vordergründig wegen einer Häufung von Verfehlungen, die im Einzelfall verzeihlich, in der Summe aber untragbar waren: finanzielle Ungereimtheiten, vergessene Termine, kleine verbale Entgleisungen und ein etwas zu lässiger Umgang mit der Volksdroge Alkohol.
Aber da waren wohl noch andere Motive im Spiel gewesen, darüber dürfe man nun wirklich nicht reden, hatten die auskunftswilligen Presbyter erklärt, zu ungeheuerlich, als dass sie es leichtfertig hätten ausplaudern dürfen.
Und Marina wusste genau, worum es ging. Damals nicht, aber mit fast vierzig Jahren zusätzlicher Lebenserfahrung, der entsprechenden Ausbildung und vielen gelesenen Büchern, hatte sich einiges in ihrem Kopf geklärt. Sie hatten den Pfarrer gefeuert, um Marina zu schützen. Sie fürchteten, der Theologe könne den Reizen der hingebungsvollen Jugendlichen erliegen und sich zu einer Grenzüberschreitung hinreißen lassen. Vermutlich hatten sie sein Verhalten bereits als Grenzüberschreitung einsortiert. Und heute täte sie das ebenso.
Wo er seine Hände hatte, wenn er mit ihr sprach. Nicht an eindeutigen Stellen, eher an den Schultern, der Taille, auf ihrem Haar..., aber wie er sie eingesetzt hatte: zart, aber intensiv und immer ein wenig länger, als angemessen gewesen wäre. So hatte er es auch mit den tiefen Blicken mitten in die Augen gehalten; besonders mit den wortlosen.
Den Verantwortlichen war wohl eher aufgefallen, dass da ein weiblicher Teenager etwas zu eifrig sämtliche Gottesdienste und Gemeinde-Veranstaltungen besuchte und dass dieser Teenager gern zu zweit mit dem Pfarrrer unterwegs war, um besondere Events in Nachbargemeinden zu besuchen. Daran war nichts Ungesetzliches, nicht einmal etwas Schlüpfriges, aber verdächtig war es ihnen erschienen, das hatte sie schon damals um zwei Ecken herum mitbekommen.
Jetzt kam Anja auf sie zu. Marina hätte sich gern unsichtbar gemacht. Was genau sie in Unbehagen versetzte, vermocht sie nicht zu sagen. Sie wollte nicht alles wieder hochkochen, was zu jahrelangem Schmerz und harter therapeutischer Arbeit geführt hatte, bis es endlich nicht mehr ihr Leben beherrscht hatte.
Da war auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Anja, die damals ihre Unterstützung hätte gebrauchen können, sie aber mit ihrer Unberechenbarkeit überfordert hatte. Und auch jetzt spürte sie eine Ahnung, dass diese alte Bekannte sie mit in den Abgrund ziehen würde, in dem sie sich mehr als ihr halbes Leben befand, sobald sie sich in ein Gespräch hineinziehen ließ, das über ein paar höfliche Floskeln hinausging.
"Hallo Marina!", begrüßte die ehemalige Mitkonfirmandin sie freundlich. "Du hast dich ja überhaupt nicht verändert. Ich habe dich sofort wiedererkannt."
"Na, das ist wohl ein bisschen übertrieben. Man sie doch deutlich, dass ich kein Teenager mehr bin."
"Ja, ein paar Falten im Gesicht, ein paar Silberfäden im Haar und schmaler bist du geworden. Aber sonst siehst du immer noch genauso aus."
"Ich hab' dich auch erkannt. Bist auch nicht fett geworden oder der vertrauten Gesichtszüge verlustig gegangen."
"Na, ein bisschen schon. Und was machst du jetzt so?"
"Ich leite eine Altentagesstätte. Und du?"
"Ich arbeite in einer Gärtnerei. Studieren ging ja nicht."
"Wieso nicht?"
"Als ich auf dem Weg zum Abitur hätte sein sollen, war ich in der Klapse und später hatte ich für den komplizierten zweiten Bildungsweg keine Kraft."
"Du warst in der Psychiatrie? Aber ich habe dich doch ab und zu mal gesehen."
"Das war ja kein Knast. Ich war auch nicht durchgehend stationär untergebracht. Das war nur in den ersten Monaten seit dem Zusammenbruch."
Marina musste schlucken. Anja hatte damals einen Suizidversuch unternommen. Sie wusste noch, wie der Pfarrer damals reagiert hatte, als sie es ihm erzählte. Ein mit versteinerter Miene hervorgestoßenes: "Aha. - Na, die war ja schon immer ziemlich durchgeknallt."
Marina war von so viel Herzenskälte zutiefst erschüttert gewesen und hatte sich gefragt, wie er wohl reagiert hätte, wenn sie mit der gleichen Verzweiflung Hand an sich gelegt hätte. Sie hatte damals betont: "Aber das ist doch wirklich schlimm. Anja wäre beinahe gestorben. Und so ein Selbstmordversuch ist doch immer ein Hilferuf."
"Ja", hatte er geantwortet, "das sagt man so. Das ändert aber nichts daran, dass sie total irre ist. So jemandem kann nur von Profis geholfen werden."
Dann hatte er entschieden das Thema gewechselt und Marina ratlos zurückgelassen.
Und jetzt stand die Anja, die sie damals nur bedauert hatte, vor ihr als Leidensgenossin, ein weiteres Opfer der Gnadenlosigkeit eines Mannes, der Hoffnung auf Verständnis geweckt und dann jede Aufmerksamkeit verweigert hatte.
"Ich habe mich damals gar nicht getraut, zu fragen, was dich so verzweifeln lassen hat.", sagte Marina.
"Das Leben.", antwortete Anja. "Da kam so Einiges zusammen. Als wir in das Dorf gezogen sind und mit dem Pastor endlich mal ein Erwachsener da war, der sich dafür interessierte, was wir Jugendlichen dachten und fühlten, da habe ich gehofft, aus dem Sumpf raus zu kommen. Zuerst war er ja auch immer nett zu mir. Einmal war ich sogar zu einem längeren Gespräch bei ihm zu Hause. Aber das nächste Mal hat er einfach nur gefragt: 'Was willst du?' Und als ich sagte, dass ich gern reden würde, hat er barsch geantwortet: 'Ich hab' jetzt keine Zeit.' und einfach die Tür zugeknallt. Das war dann immer so. Auch am Telefon. Und als ich total am Ende war, hab' ich es nochmal versucht. Ich war bei ihm zu Hause, hab' geklingelt. Er hat nicht geöffnet, aber ich konnte durchs Fenster sehen, dass er da war. Dann habe ich Sturm geklingelt. Schließlich hat er ein Fenster aufgerissen und nur geschrien: 'Wenn du nicht sofort verschwindest, rufe ich die Polizei.'
Dann bin ich durch den Regen nach Hause gelaufen, hab bis in die Nacht mit meiner Mutter geredet, aber das hat alles nicht geholfen und darum wollte ich dann doch Schluss machen."
"Meinst du, du hättest nicht...also wenn er mit dir geredet hätte?"
"Ich weiß es nicht. Es wäre vielleicht auch so dazu gekommen, aber es war so, als würdest du schon seit langem mit einem Messer im Bauch rumlaufen und dann bittest du jemanden um Hilfe und der zieht es nur ein bisschen raus und dann bittest du noch einmal und dann dreht er es um und gibt dir einen Tritt in den Hintern und lässt dich im Dreck liegen. Ich habe mich gefühlt wie ein Stück Abfall, unnütz, kaputt und mit Scheiße beschmiert."
Ja, so hatte Marina sich auch gefühlt. Nicht so drastisch, mit weniger radikalen Folgen, doch sie sträubte sich noch immer dagegen, dieses Gefühl zuzugeben. Vielleicht war sie ein bisschen gesünder geblieben als Anja und einfach nicht bereit, sich unterkriegen zu lassen.
"Und wie geht es dir heute?", fragte sie.
"Besser.", sagte Anja. "Vielleicht auch wegen der Genugtuung."
"Welche Genugtuung?"
"Meine Eltern haben dem Sup und dem Presbyterium die Hölle heiß gemacht. Sie haben verlangt, dass er gefeuert wird und nie wieder in diesem Kirchenkreis arbeiten darf. Und er musste ja gehen. Und wie ich gehört habe, ist er nicht wieder auf die Füße gekommen."
Vielleicht war es das, was Marina schon immer innerlich von Anja ferngehalten hatte: Die Erbarmungslosigkeit und die Unfähigkeit, zu vergeben.
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