Freitag, 23. April 2021
Raserei
Sie hatte extra keine schwarzen Sachen angezogen. Hier war ja zunächst einmal Notfallseelsorge angesagt, kein Trauergespräch. Kirchenmausgrau und der Verzicht auf den obligatorischen bunten Seidenschal mussten reichen. Sie hatte die Kleidung wie eine Rüstung angelegt, um sich gegen die Angriffe auf ihre Seele zu wappnen, denn die standen unweigerlich bevor, in einer solchen Situation. Gedeckt, dezent und bieder - das war nicht sie und darum konnte sie auch nicht verletzt werden. Zumindest bestand darin der Plan.

Der Vorgarten war ungepflegt oder eher verwahrlost. Vor ihrem inneren Auge entstanden Bilder von aufgedunsenen, nach billigem Tabak und Schnaps stinkenden Erwachsenen mit Trauerkloßmienen in bequemer Discounter-Kleidung umgeben von ungewaschenen, verhaltensauffälligen Kindern inmitten von halbvollen und leer getrunkenen Flaschen, Pizzakartons, Chipstüten. Sie atmete tief durch. Und wenn schon, dachte sie, die brauchen erst recht meine Hilfe.

Ein Polizeibeamter öffnete die Tür. Sie blickte in eine lieblos eingerichtete Wohnung, allerdings nicht in ein prekäres Chaos. Stattdessen wurde sie von einem gepflegten, schwanzwedelnden Mischlingshund begrüßt, die Umgebung wirkte sauber und wohlgeordnet. Es gab eben Menschen, die hielten sich nicht mit Dekoration auf. Im Wohnzimmer stieß sie auf zwei erwachsene Häufchen Elend, die blass, zitternd und mit roten Augen auf dem Sofa saßen und sich aneinander festhielten. Sie kannte die Familie bisher nicht und fragte einen der anwesenden Polizeibeamten im Flüsterton: ?Wo sind die anderen Kinder??
"Gibt keine.", erwiderte der Beamte. "Die Spurensicherung im Kinderzimmer ist noch nicht abgeschlossen, das heißt, die Kleine liegt da noch und die Große wurde bereits in eine Einrichtung verbracht."
Sie war so dankbar, dass er nicht von Opfer und Täterin gesprochen hatte. Die Große war auch nicht wirklich groß, gerade mal elf Jahre alt.

Sie stellte sich vor. "Darf ich hier auf dem Sessel Platz nehmen?", fragte sie höflich.
Die Eltern nickten. Sie hätte fragen können, was passiert war, aber sie wusste es bereits, die Elfjährige hatte der Fünfjährigen den Schädel zertrümmert. Die Eltern hatten das alles bereits der Polizei erzählt und jede Wiederholung des Berichts würde sich anfühlen, als drehe ihnen jemand das Messer in der Wunde um.

Das Kind, das noch lebte, war vorerst versorgt. Niemand wusste, wie es zu dieser unfassbaren Gewalttat gekommen war und es war auch nicht ihre Aufgabe, das herauszufinden. Sie musste helfen, die Eltern emotional zu stabilisieren, damit sie dieses Drama überlebten und zu gegebener Zeit wieder voll uns ganz für ihre Tochter da sein konnten. Sie musste jetzt da sitzen und darauf warten, dass einer von beiden von sich aus etwas sagte.

"Warum hat sie das nur gemacht?" flüsterte der Vater mit brüchiger Stimme.
"Sie war so wütend in letzter Zeit.", sagte die Mutter. "Alles ging ihr auf die Nerven. Ihr fehlte der Ausgleich. Sie konnte sich nicht mit ihren Freundinnen treffen, die hatten alle eine andere beste Freundin, die sie für die Eins-zu-Eins-Treffen ausgesucht hatten. Zum Stall durfte sie auch nicht mehr. Sie war ja praktisch nur noch im Haus.?
"Zum Stall?", fragte die Seelsorgerin. "Hat sie eine Reitbeteiligung?"
"So etwas ähnliches. Ein kleiner Hof, die ein paar Pferde halten und Kindern für schmales Geld die Möglichkeit geben, mit den Tieren zusammen zu sein. Keine Reitpferde, nur Shetland-Ponys. Aber die Besitzerin gehört zur Corona-Risiko-Gruppe, hat aber noch keinen Impftermin. Zwischendurch sah sie das etwas lockerer, sind ja immer alle draußen, aber seitdem die Zahlen wieder steigen, hat sie auf die Bremse getreten. Lilly war praktisch täglich bei den Tieren und jetzt hat sie nur Lernstoff, Videokonferenzen und das Haus.?
In diesem Haus würde ich auch aggressiv werden, dachte die Pfarrerin. Hier gibt es einfach nichts Schönes. Außer vielleicht den Hund.
"Konnte sie nicht mal mit dem Hund raus gehen?"
"In dieser Gegend?", die Mutter sah sie an, als habe sie vorgeschlagen, Kinder nachts in den Stadtpark zu schicken. "Wir würden sie nicht einmal allein in den Garten lassen, nachher erregen sie noch die Aufmerksamkeit eines Kinderschänders."
Die Pfarrerin fragte sich, ob sie nicht gelegentlich Ausflüge unternommen hatten, befürchtete aber, das könne nach einem Vorwurf klingen. Darum schwieg sie.

"Sie hat auch ihre Musik.", sagte der Vater.
"Das ist wohl eher dein Projekt.", fuhr die Mutter ihn an.
"Lilly spielt Klarinette.", erklärte der Vater. "Wir sind beide selbst Musiker, das heißt, ich bin eher Musiklehrer und meine Frau spielt im Orchester."
"Aber dann hat sie doch eine schöne Ablenkung."
"Als Ventil hat es aber offenkundig nicht gereicht.", erklärte die Mutter. "Wir hätten etwas unternehmen müssen, als sie immer wieder ausflippte."
"Wie ist sie denn ausgeflippt?"
"Sie warf mit Sachen um sich, brüllte aus Leibeskräften, stieß Schimpfwörter aus, stampfte auf den Boden, knallte die Türen, weil die kleine Schwester sie beim Lesen störte, weil ich ihre Schulsachen irgendwo hin gelegt hatte, wo sie sie nicht wieder fand, weil eine der wenigen Freundinnen ein Treffen absagte. Aber wir haben ihr nicht geholfen, sie nur zurechtgewiesen, als wäre sie eine Erwachsene."
"Was sollten wir auch tun?", fragte der Vater. "Selbst wenn wir uns therapeutische Hilfe geholt hätten, bis ein Platz frei gewesen wäre, wäre das alles trotzdem längst passiert."

"Es hilft niemandem, wenn Sie sich jetzt Vorwürfe machen.", erklärte die Theologin. "Sie müssen nicht die Schuld auf sich nehmen. Das hilft Ihnen nicht, weil sie am Ende daran zerbrechen, das hilft ihrer zornigen Tochter nicht, denn die braucht Eltern, die sie lieben und die Kraft haben, für sie da zu sein, und das rettet auch ihre kleine Tochter nicht."

Die Mutter begann herzerweichend zu weinen, die Pfarrerin konnte es kaum ertragen; vor allem ,weil sie fast nichts tun konnte außer zuzuhören und auszuhalten. Und das war schon fast zu viel.

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