Freitag, 27. März 2020
Schmerz
Sie fanden sie in Seitenlage, zusammengekrümmt in ihrem Bett. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen, was bei dem Geruch im Treppenhaus zu erwarten gewesen war. Sie war nicht aus dem Urlaub zurückgekehrt, das hatte einige Leute auf Trab gebracht, das und der Geruch. Die Kriminalpolizei schickte die Spurensicherung und nahm die Leiche zur Obduktion mit.
Nichts deutete auf ein Verbrechen hin: keine Verletzungen, keine Vergiftungen, es war wohl einfach so gekommen, dass ihr Herz stehen geblieben war.

Sie hatte nicht so viele private Kontakte gehabt, nur beruflich war sie sehr umtriebig gewesen, dort allerdings engagiert und meistens fröhlich und gut gelaunt. Alle waren sich einig: Für Suizid, war sie nicht der Typ. Es gab ja auch keinen Abschiedsbrief.

In den letzten Wochen hatte sie allerdings etwas nachgelassen, war einem Kollegen aufgefallen. Sonst hatte sie sich vor keiner Arbeit gedrückt, war mit Esprit ans Werk gegangen, empathisch gegenüber der Zielgruppe, hilfsbereit gegenüber Kolleginnen und Kollegen. Vielleicht war sie einfach mit ihren Kräften am Ende gewesen. Sie hatte in den letzten Wochen irgendwie unkonzentriert gewirkt, das Lächeln hatte sich weitestgehend aus ihrem Gesicht verabschiedet und wenn da eines gewesen war, dann meistens ein bitteres. Auch waren die Augen oft rot gerändert, wie bei einer ausgewachsenen Pollenallergie oder bei einem Menschen, der viel weint. Blass und mit hängenden Schultern war sie umher geschlichen, als wäre sie in Trauer.

Das war sie auch, aber niemand wusste davon. Es war ja auch niemand gestorben, um den sie getrauert hätte. Aber da war ein Kollege gewesen, einer zum Pferde stehlen, einer für den sie alles getan hätte und auch vieles getan hatte, bis zum letzten Blutstropfen. Und dann hatte er einen Karrieresprung hingelegt, wechselte zu einem anderen Träger. Aber er blieb ja in der Stadt, sie würden in Kontakt bleiben, sich privat verabreden, wenigstens gelegentlich, das hatte sie getröstet, wenn auch nur schwach.

Als es dann auf den letzten Metern in seiner Einrichtung zu einem Rieseneklat gekommen war, hatte sie in großer Sorge um ihn bei ihm angerufen, um sich zu erkundigen, wie es ihm gehe, natürlich um für ihn da zu sein, ihm zur Seite zu stehen, ihn nicht im Stich zu lassen, wie man das bei Freunden eben so tut.
Er hatte sie angeblafft, hatte reagiert, als wenn sie ihn mit Nichtigkeiten bestürmt hätte, wie eine lästige Stalkerin. Sie hatte die Welt nicht mehr verstanden. Sie hatte sich verabschiedet mit einem „Wir hören sicher wieder voneinander.“
„Lieber per Mail.“, hatte er erwidert, freundlich aber bestimmt. Nicht einmal telefonieren wollte er mit ihr, er, für den sie alles getan hätte.
Als sie sich das nächste Mal gesehen hatten, hatte er ihr ein Buch zurück gegeben, das sie ihm geliehen hatte.
„Und wie hat es dir gefallen?“
„Weiß ich nicht. Offen gestanden bin ich nicht dazu gekommen, es zu lesen.“
„Und warum behältst du es dann nicht noch?“
„Weil wir uns ja demnächst nicht mehr sehen, wenn wir nicht mehr zusammenarbeiten.“

Das war mehr als eine klare Ansage gewesen. Und wenn die Beamten, die ihren Rechner durchforstet hatten, davon gewusst hätten, hätten sie verstanden, was in der zuletzt veränderten Datei gespeichert war:

er will mich nicht
will mich nicht
mich nicht
nicht.

Ich sitze
ich atme
ich wiege hundert tonnen
nicht einmal ins leere stürzen kann ich
ich kann mich auch nicht auflösen

ich bin nur schmerz
bin nur schmerz
nur schmerz
schmerz

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