Samstag, 16. November 2019
Konfi-Event
Es sah aus wie ein Flashmob und im Prinzip war es auch einer, nur hatte diejenige, die ihn initiiert hatte, ihn nicht als solchen geplant. Sie hatte das erlebnispädagogische Spiel im Möbelkaufhaus schon etliche Male mit Konfirmationsgruppen veranstaltet, die Jugendlichen in Kleingruppen losgeschickt, um Preise herauszufinden, Details zu suchen, Dinge abzuzeichnen, Filmchen in den Ausstellungswohnungen zu drehen und ausgewählte Dinge einzukaufen, für die sie ihnen das Geld zur Verfügung stellte. Am Ende erzählte sie ihnen die Geschichte von den anvertrauten Talenten, frei nach dem Matthäus-Evangelium, die Sieger freuten sich, dass sie die erworbenen Kinkerlitzchen behalten durften und alle anderen nahmen ein unvergessliches Erlebnis mit nach Hause. Zwanzig bis dreißig Teilnehmende hatte sie jedes Mal dabei gehabt, diesmal waren es deutlich mehr, der Vorraum füllte sich und das Herz sank ihr in die Hose, wenn sie daran dachte, dass sie gleich im Restaurant 80-100 Konfis die Spielregeln erklären musste, da nützten auch 20 ehrenamtliche Helfer*innen nichts, Ruhe würde sie in diesen Haufen nicht bekommen.

Irgendwie ging das Spiel dann doch los und in der ganzen Ausstellungshalle wimmelte es von Heranwachsenden.
Lisa und Annalena spielten ein Lesbenpaar, das die adoptierten Töchter zum Spielen nach draußen schickte, um etwas Zeit ungestört miteinander verbringen zu können, aber die Töchter weigerten sich standhaft.
Nach zwanzig Minuten suchte Leander noch immer nach dem Kaktus in der Lifestyle-Wohnung, denn unter diesem befand sich ein wichtiger Hinweis. Er war zu sehr fixiert auf lebende Pflanzen und erkannte in dem Porzellangebilde keineswegs das gesuchte Objekt. Emily hielt schon eine Nachttischlampe für schlappe drei Euro in der Hand wie eine Jagstrophäe, als sie gewahr wurde, dass man mit einer Kerze für 99 Cent im Viererpack ja auch im Dunkeln lesen konnte. Viola und Timm hatten sich abgesetzt und knutschten im romantischen Wohnzimmer vor dem Kamin. Das Personal reagierte zum Teil amüsiert, zum Teil aber auch irritiert und sehr verunsichert. Besonders wild war die Gruppe um Ole, mit Dennis, René, Benedikt und Anton. Ihre Witze waren allesamt unter der Gürtellinie, sie waren laut, raumgreifend und übertrieben einfach alles.Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Stimmung kippen würde.

Nach etwa einer Stunde kam die befürchtete Durchsage: Spiel abbrechen, alle Konfigruppen sollen das Kaufhaus verlassen. Sie cruiste durch die Gänge und schickte alle Gruppen, die ihr über den Weg liefen, zur Kasse. Einige beklagten sich, sie seien von den Mitarbeitern des Kaufhauses wüst beschimpft und zum sofortigen Verlassen des Gebäudes aufgefordert worden. Aus der 50qm-Wohnung kam ihr Anton entgegen. Jedes Mal, wenn sie in die kalten Augen des Jungen blickte, begann sie zu frieren und ein diffuses Unbehagen kroch durch ihre Adern.
„Ihr müsst alle zur Kasse gehen. Sind da noch mehr aus deiner Gruppe?“
Anton antwortete nicht, ging wortlos an ihr vorbei, als sei es unter seiner Würde, das Wort an eine Frau zu richten. Ihr Blick wanderte durch die Wohnung. Oh mein Gott, das Bett war vollkommen zerwühlt, offensichtlich hatten die Konfis sich da hinein gelegt, statt die Betten mit den Schonbezügen zu benutzen. Kein Wunder, dass die Möbelhauscrew auf Krawall gebürstet war.
Unter der Decke lugte eine schlaffe Hand hervor. War da jemand eingeschlafen? Oder wollten ein paar besonders Übermütige ein Spielchen mit ihr spielen?
Sie schlug die Decke zurück und spürte schon ein widerwärtiges Ziehen im Rücken, bevor ihr Verstand registriert hatte, was sie da vor sich sah: Einen Mann in der Kluft der Angestellten des Möbelhauses, mit weit geöffneten Augen und aufgerissenem Mund und lauter kleinen, blutroten Flecken in der Augenpartie, völlig erstarrt lag er da, unverkennbar, dass er in diesem Bett erstickt war. Unverkennbar war auch, dass er deutlich andere ethnische Wurzeln hatte, als der aschblonde, blauäugige Anton, der vor einem halben Jahr erklärt hatte, dass der 8. Mai ein Tag der Trauer sei für alle Deutschen, denn da habe man schließlich den Krieg verloren.
Diesen Kampf glaubte Anton gewonnen zu haben und sie wusste, dass er sie den Rest seines Lebens dafür hassen würde, dass sie ihm diesen Zahn ziehen würde.

Anton hatte nichts gemacht aus seinen anvertrauten Talenten, nicht einmal bewahrt hatte er sie, stattdessen alles vergeudet. Im Geist schickte sie ihn schon vor die Tore der Stadt, wo nichts war als Heulen und Zähneklappen.

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