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Freitag, 16. August 2019
Armbrust
c. fabry, 14:18h
Es war sein siebtes Leben. Er hatte schon immer gewusst, dass er eine alte Seele hatte. Schon als Kind hatte er deutlich gepürt, dass er mehr wusste, als alle anderen. Nicht mehr über Rechenwege, naturwissenschaftliche Zusammenhänge oder Grammatikregeln. Aber über das Große und Ganze, das Wesentliche, das Ursprüngliche und worauf es ankommt im Leben. Der Pfarrer hatte das instinktiv gespürt und ihn dafür gehasst. Im Kindergottesdienst hatte er ihn ignoriert, im Konfirmandenunterricht vorgeführt und als er nach der Konfirmation dem Verein den Rücken gekehrt hatte, hatte er ihn trotzdem weiterhin belästigt unter dem Vorwand, nur das Beste für ihn zu wollen.
Dieser Kleingeist wusste nichts, er stand erst am Anfang seiner irdischen Odyssee. Der Pfarrer kannte nicht die Entbehrungen des Jägers und Sammlers, der seine schützende Höhle gegen viele Konkurrenten mit steter Wachsamkeit und Bereitschaft zu exzessiver Gewalt verteidigen musste, um zu überleben. Der Pfarrer wusste nichts von den Offenbarungen in Frühjahrsvollmondnächten, in denen die Auserwählten, die nächste Generation der Welterschaffer zeugten. Der Pfarrer hatte sich nie verstecken müssen vor dem missgünstigen Pöbel, der nur allzu bereit war, die Wissenden an die eifersüchtigen Kirchenoberen und damit einem grausamen Tod auszuliefern. Der Pfarrer hatte nie als Kötter eines Großbauern auf dem Feld gewullackt und im Winter Kartoffelschalen gefressen, um nicht zu verhungern. Der Pfarrer kannte nicht den schwarzen Kohlenstaub, der sich in jeder noch so kleinen Körperöffnung festsetzte und das Leben derer radikal verkürzte, die sich für die Annehmlichkeiten der Langlebigen den Buckel krumm schufteten. Und Der Pfarrer war nicht im Kessel von Stalingrad scheibchenweise verhungert und erfroren, während um ihn herum Freunde und Weggefährten aus dem Leben schieden.
Nun, in seinem siebten Leben angekommen, hatte er genug gelernt, um mit denen, die ebenso alt und lebensklug waren, die Welt zu erneuern, sie neu zu erschaffen. Viele Nachkommen musste er zeugen. Vier Frauen hatte er nun schon in seinem Fahrwasser, aber drei sollten noch dazu kommen, nur hatte er die Erwählten noch nicht gefunden und ihm kamen allmählich Zweifel, ob seine dritte Entdeckung sich nicht doch als Fehleinschätzung erwies. Vielleicht wollte sie nur eine alte Seele sein, weil sie scharf auf seinen Körper gewesen war, denn er verfügte in der Tat über ein ansehnliches und athletisches Seelengefäß. Und natürlich fühlten Frauen sich allgemein zu charismatischen Persönlichkeiten hingezogen und er besaß ein natürliches Charisma, das war ja auch kein Wunder.
Die ersten beiden waren weise genug, seinen großartigen, schöpferischen Geist nicht mit Alltagsgetöse zu belasten. Sie hatten sich zusammengetan, um gemeinsam seine Kinder großzuziehen. Von Zeit zu Zeit besuchte er sie und sie hießen ihn immer herzlich willkommen.
So war es schon gewesen, als er die Dritte kennenlernte. Er hatte sich an ihr ergötzt, ihre Bewunderung aufgesogen, sich mit ihr gezeigt und sich von ihrer Lebendigkeit anstecken lassen. Aber er hatte gewusst, dass das Leben mehr von ihm verlangte und als er die Vierte mit nach Hause brachte, war die Dritte plötzlich zickig und uneinsichtig geworden. In nächtelangen Diskussionen hatte er geglaubt, sie endlich überzeugt zu haben, aber da schwelte etwas unter der Decke, er spürte, dass sie sich noch nicht gänzlich damit abgefunden hatte, dass er nicht ihr allein gehörte.
Die Vierte meisterte den Konflikt grandios, war die Ruhe selbst, immer ein Lächeln auf den vollendeten Lippen und den Schalk in den graublauen Augen. Sie war wunderschön und fruchtbar wie Terra Preta. Die Dritte dagegen würde keinem Welterneuerer das Leben schenken, obwohl sie mit ihren dreißig Jahren doch das Küken in seinem Hühnerhof darstellte.
Er würde es ihr sagen müssen, doch nicht heute, wo sie gerade so einen formidablen Abend für alle drei organisiert hatte, bereit sich zu ändern, die Eifersucht zu besiegen. Vor dem Theaterbesuch würden sie Tapas essen gehen, aber um das Geld zusammenzuhalten, schlug sie vor, den Aperitif im Pensionszimmer des bayrischen Urlaubsorts zu nehmen. Einen selbst gemixten Spritz, mit Campari statt Aperol, mehr Geschmack und mehr Alkohol. Sogar Eis hatte sie zum passenden Zeitpunkt besorgt und sich elegante Gläser von der Wirtin ausgeliehen.
Wie ein Engel sah sie aus, mit dem hüftlangen, welligen, kastanienbraunen Haar, auf das die Abendsonne glänzende Kupfereffekte zauberte. Das nachtblaue Seidenkleid umspielte ihre geschwungenen Hüften und als sie ihm den Aperitif reichte, war ihm, als schenke sie ihm das Elixier des ewigen Lebens oder der tiefen Erkenntnis. Vielleicht hatte er sich doch nicht in ihr getäuscht. Sie prosteten sich zu und tranken den köstlich sanft-bitteren Mix in tiefen Zügen. Die Vierte fasste sich an die Schläfe, eine ungewöhnliche Geste, doch er konnte sich ihr nicht zuwenden, hatte nur Augen für die Dritte, deren atemberaubende Sinnlichkeit immer betörender wirkte, so sehr, dass ihre Konturen verschwanden, ihr Bild sich in ein impressionistisches Aquarell verwandelte. Der Boden tat sich unter ihm auf und er sank in die Dunkelheit.
Die Dritte betrachtete die zu Boden Gesunkenen. Sie hatte vorher nicht gewusst, wie schnell die K.o.-Tropfen wirkten. Bei den anderen Beiden hatte sie noch den Fehler gemacht, sie nicht vorher zu betäuben, Gott, wie furchtbar sie geschrien und um ihr kleines Leben gezittert hatten. Als käme es darauf an, das nächste Dasein wartete doch schon. Derlei Unanehmlichkeiten würde sie sich dieses Mal sparen. Den Tropfen sei Dank konnte sie alles in Ruhe, sanft und sauber zu Ende bringen.
Im nächsten Leben würde er gelernt haben, dass er nur ihr allein gehörte, die Rivalinnen würden sich an andere Männer hängen und sie bekäme ein neues Seelengefäß, ein fruchtbares, keines, das der klerikale Großvater schon frühzeitig mit seiner Männlichkeit zerstören konnte. Der würde als Unberührbarer in Kalkutta darben, während sie endlich für immer mit ihrer großen Liebe vereint war. Den ersten Pfeil verpasste sie Nummer Vier. Sie sollte einen gehörigen Vorsprung bekommen, damit sie ihr nicht noch einmal in die Quere kam. Dann trank sie in aller Seelenruhe ihren Spritz. Sie streichelte den lebendigen, schlafenden Körper ihres Geliebten, die noch immer harten Muskeln, des über fünfzigjährigen Mannes, der ebenso wie sie ein Opfer ihres Großvaters gewesen war, wenn auch nicht in der gleichen Weise. Er wusste nichts von dieser Verbindung, aber er hatte genau wie sie gespürt, dass sie füreinander bestimmt waren. Und jetzt würden sie gemeinsam den Schritt in ein neues Leben wagen. Sie setzte die Armbrust direkt auf sein Herz. Der Pfeil drang tief ein und es brauchte ihre ganze Kraft, ihn wieder herauszuziehen, denn es musste unbedingt der gleiche Pfeil sein, sein Blut musste sich mit dem ihren vermischen. Ihr letzter Blick galt seinem geliebten Gesicht, dann schoss sie sich selbst in die Brust.
Nummer Fünf hatte Glück. Sie wären sich an diesem Abend zum ersten Mal begegnet.
Dieser Kleingeist wusste nichts, er stand erst am Anfang seiner irdischen Odyssee. Der Pfarrer kannte nicht die Entbehrungen des Jägers und Sammlers, der seine schützende Höhle gegen viele Konkurrenten mit steter Wachsamkeit und Bereitschaft zu exzessiver Gewalt verteidigen musste, um zu überleben. Der Pfarrer wusste nichts von den Offenbarungen in Frühjahrsvollmondnächten, in denen die Auserwählten, die nächste Generation der Welterschaffer zeugten. Der Pfarrer hatte sich nie verstecken müssen vor dem missgünstigen Pöbel, der nur allzu bereit war, die Wissenden an die eifersüchtigen Kirchenoberen und damit einem grausamen Tod auszuliefern. Der Pfarrer hatte nie als Kötter eines Großbauern auf dem Feld gewullackt und im Winter Kartoffelschalen gefressen, um nicht zu verhungern. Der Pfarrer kannte nicht den schwarzen Kohlenstaub, der sich in jeder noch so kleinen Körperöffnung festsetzte und das Leben derer radikal verkürzte, die sich für die Annehmlichkeiten der Langlebigen den Buckel krumm schufteten. Und Der Pfarrer war nicht im Kessel von Stalingrad scheibchenweise verhungert und erfroren, während um ihn herum Freunde und Weggefährten aus dem Leben schieden.
Nun, in seinem siebten Leben angekommen, hatte er genug gelernt, um mit denen, die ebenso alt und lebensklug waren, die Welt zu erneuern, sie neu zu erschaffen. Viele Nachkommen musste er zeugen. Vier Frauen hatte er nun schon in seinem Fahrwasser, aber drei sollten noch dazu kommen, nur hatte er die Erwählten noch nicht gefunden und ihm kamen allmählich Zweifel, ob seine dritte Entdeckung sich nicht doch als Fehleinschätzung erwies. Vielleicht wollte sie nur eine alte Seele sein, weil sie scharf auf seinen Körper gewesen war, denn er verfügte in der Tat über ein ansehnliches und athletisches Seelengefäß. Und natürlich fühlten Frauen sich allgemein zu charismatischen Persönlichkeiten hingezogen und er besaß ein natürliches Charisma, das war ja auch kein Wunder.
Die ersten beiden waren weise genug, seinen großartigen, schöpferischen Geist nicht mit Alltagsgetöse zu belasten. Sie hatten sich zusammengetan, um gemeinsam seine Kinder großzuziehen. Von Zeit zu Zeit besuchte er sie und sie hießen ihn immer herzlich willkommen.
So war es schon gewesen, als er die Dritte kennenlernte. Er hatte sich an ihr ergötzt, ihre Bewunderung aufgesogen, sich mit ihr gezeigt und sich von ihrer Lebendigkeit anstecken lassen. Aber er hatte gewusst, dass das Leben mehr von ihm verlangte und als er die Vierte mit nach Hause brachte, war die Dritte plötzlich zickig und uneinsichtig geworden. In nächtelangen Diskussionen hatte er geglaubt, sie endlich überzeugt zu haben, aber da schwelte etwas unter der Decke, er spürte, dass sie sich noch nicht gänzlich damit abgefunden hatte, dass er nicht ihr allein gehörte.
Die Vierte meisterte den Konflikt grandios, war die Ruhe selbst, immer ein Lächeln auf den vollendeten Lippen und den Schalk in den graublauen Augen. Sie war wunderschön und fruchtbar wie Terra Preta. Die Dritte dagegen würde keinem Welterneuerer das Leben schenken, obwohl sie mit ihren dreißig Jahren doch das Küken in seinem Hühnerhof darstellte.
Er würde es ihr sagen müssen, doch nicht heute, wo sie gerade so einen formidablen Abend für alle drei organisiert hatte, bereit sich zu ändern, die Eifersucht zu besiegen. Vor dem Theaterbesuch würden sie Tapas essen gehen, aber um das Geld zusammenzuhalten, schlug sie vor, den Aperitif im Pensionszimmer des bayrischen Urlaubsorts zu nehmen. Einen selbst gemixten Spritz, mit Campari statt Aperol, mehr Geschmack und mehr Alkohol. Sogar Eis hatte sie zum passenden Zeitpunkt besorgt und sich elegante Gläser von der Wirtin ausgeliehen.
Wie ein Engel sah sie aus, mit dem hüftlangen, welligen, kastanienbraunen Haar, auf das die Abendsonne glänzende Kupfereffekte zauberte. Das nachtblaue Seidenkleid umspielte ihre geschwungenen Hüften und als sie ihm den Aperitif reichte, war ihm, als schenke sie ihm das Elixier des ewigen Lebens oder der tiefen Erkenntnis. Vielleicht hatte er sich doch nicht in ihr getäuscht. Sie prosteten sich zu und tranken den köstlich sanft-bitteren Mix in tiefen Zügen. Die Vierte fasste sich an die Schläfe, eine ungewöhnliche Geste, doch er konnte sich ihr nicht zuwenden, hatte nur Augen für die Dritte, deren atemberaubende Sinnlichkeit immer betörender wirkte, so sehr, dass ihre Konturen verschwanden, ihr Bild sich in ein impressionistisches Aquarell verwandelte. Der Boden tat sich unter ihm auf und er sank in die Dunkelheit.
Die Dritte betrachtete die zu Boden Gesunkenen. Sie hatte vorher nicht gewusst, wie schnell die K.o.-Tropfen wirkten. Bei den anderen Beiden hatte sie noch den Fehler gemacht, sie nicht vorher zu betäuben, Gott, wie furchtbar sie geschrien und um ihr kleines Leben gezittert hatten. Als käme es darauf an, das nächste Dasein wartete doch schon. Derlei Unanehmlichkeiten würde sie sich dieses Mal sparen. Den Tropfen sei Dank konnte sie alles in Ruhe, sanft und sauber zu Ende bringen.
Im nächsten Leben würde er gelernt haben, dass er nur ihr allein gehörte, die Rivalinnen würden sich an andere Männer hängen und sie bekäme ein neues Seelengefäß, ein fruchtbares, keines, das der klerikale Großvater schon frühzeitig mit seiner Männlichkeit zerstören konnte. Der würde als Unberührbarer in Kalkutta darben, während sie endlich für immer mit ihrer großen Liebe vereint war. Den ersten Pfeil verpasste sie Nummer Vier. Sie sollte einen gehörigen Vorsprung bekommen, damit sie ihr nicht noch einmal in die Quere kam. Dann trank sie in aller Seelenruhe ihren Spritz. Sie streichelte den lebendigen, schlafenden Körper ihres Geliebten, die noch immer harten Muskeln, des über fünfzigjährigen Mannes, der ebenso wie sie ein Opfer ihres Großvaters gewesen war, wenn auch nicht in der gleichen Weise. Er wusste nichts von dieser Verbindung, aber er hatte genau wie sie gespürt, dass sie füreinander bestimmt waren. Und jetzt würden sie gemeinsam den Schritt in ein neues Leben wagen. Sie setzte die Armbrust direkt auf sein Herz. Der Pfeil drang tief ein und es brauchte ihre ganze Kraft, ihn wieder herauszuziehen, denn es musste unbedingt der gleiche Pfeil sein, sein Blut musste sich mit dem ihren vermischen. Ihr letzter Blick galt seinem geliebten Gesicht, dann schoss sie sich selbst in die Brust.
Nummer Fünf hatte Glück. Sie wären sich an diesem Abend zum ersten Mal begegnet.
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Erschütternde Begegnung
c. fabry, 13:34h
Wer ist das? Sieht aus wie der Bruder, der, der vor zehn Jahren an Krebs gestorben ist. Nur war er schmaler im Gesicht, gezeichnet von der Chemotherapie und die Haarstoppeln waren nur noch ein Kranz und bedeckten nicht den vorderen Kopf.
Und dann erkennt sie die Farbe der Iris, das Muttermal am rechten Nasenflügel, der Schwung der Augenbrauen und die verräterische kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Es ist ihr Gesicht, aber im falschen Rahmen, so als hätte jemand die Landschaft in Öl, die seit fünf-und-fünfzig Jahren im üppigen, gold lackierten Holzrahmen über dem Sofa hängt, in einen rahmenlosen Bildhalter mit steingrauem Passepartout gepresst.
Der Anblick erinnert an die Unglücklichen in den Jahren ihrer Kindheit, die man einer radikalen Behandlung unterziehen musste, weil Kopfläuse sich in ihrer Haarpracht eingenistet hatten. Aber sie hatte keine Kopfläuse, noch nie gehabt, im Leben nicht.
Mit Häftlingen hat man das früher auch getan, vor allem mit den Opfern der Nazis, die man in den Todeslagern behandelte wie Schlachtvieh in Massentierhaltung.
So lange sie denken kann, nein nicht ganz, seit ihrem vierten Hochzeitstag, hat sie ihr Haar ein-einhalb Finger lang getragen. Beim Friseur eine Dauerwelle legen lassen, nach einer Woche an jedem Samstag waschen, Festiger, Strähne für Strähne auf Wickler gedreht, dann eine halbe Stunde unter der Trockenhaube Kartoffeln geschält oder die Hände manikürt, Wickler gelöst, durchgekämmt, fertig und eine Woche lang Ruhe. Sie hat damit immer perfekt ausgesehen: in jungen Jahren brünett, später meliert, dann coloriert kaschiert und schließlich hat sie das silbergrau selbstbewusst und stolz getragen.
Selbst aufdrehen geht schon lange nicht mehr. Die Schwiegertochter hat sich beklagt, sie schaffe das nicht mehr mit den Haaren. Was die nur hat. Ins gemachte Nest hat sie sich damals gesetzt. Dabei hat sie sich schon immer gehen lassen. Farblos, ungepflegt, mit schlaffen Muskeln und teigiger Haut, Speckrollen und glanzlosem Haar. Sie schaffte es nicht einmal, sich anständig anzuziehen. Nur ihre zwei missratenen Kinder hat sie großgezogen, das Geld hat der Ehemann rangeschafft und das nicht zu knapp. Damals hat sie sich beklagt, sie wolle wieder arbeiten, aber das sei unmöglich, wenn ihr niemand die Kinder abnehme. Phantasielose Tranfunzel, das schafften ja sogar Alleinerziehende, ohne die Generation ihrer Mütter einzuspannen. Aber die Schwiegertochter war sogar mit ihrer kleinen Wohnung und ein wenig Gartenarbeit überfordert, sogar jetzt, wo die missratenen Kinder längst aus dem Haus sind. Eine halbe Stunde die Woche Haare aufdrehen, zu viel Arbeit, unfassbar.
Arglos hat sie sich dem ins Haus bestellten Friseur ausgeliefert. Sie hatten sie in dem Glauben gelassen, er mache ihr nur eben die Haare, dann müsse sie nicht extra mit dem Auto zu ihrer Stammfriseurin, wo sie immer noch ein paar Treppenstufen überwinden muss, was ihr zunehmend schwerfällt. Es war nicht die Schere, die sie irritiert hat, sondern das andere Gerät, das komische Summen und dieser harte Gegenstand so nah an der Kopfhaut, ein Gefühl, als werde man für die Hinrichtung vorbereitet.
Das ist nicht mehr sie selbst. Sie haben sie zum Sträfling gemacht, planen ja auch, sie in den Knast abzuschieben. Es nennt sich zwar Pflegezentrum, aber es unterscheidet sich in nichts von einem Gefängnis: totale Fremdbestimmung, keine Privatsphäre, liebloses Kantinenessen, gefangen in einer Zelle mit genormten Betten, geregelten Besuchszeiten und uniformiertem Personal, das einem die Leviten liest, wenn man nicht spurt. Das hat sie schon in der Kurzzeitpflege kennengelernt. Wenn sie also ohnehin in den Knast muss, dann will sie es sich wenigstens verdienen.
Mit der brüchigen Stimme einer vom Leben Gezeichneten kräht sie den Namen ihrer Schwiegertochter so lange, bis die gleichzeitig gelangweilt und verärgert im Türrahmen erscheint.
„Mir ist der Kamm runtergefallen, kannst du mir den mal aufheben?“
„Wozu brauchst du noch einen Kamm?“
„Der ist runtergefallen, der kann doch da nicht liegen bleiben.“
„Meinetwegen.“
Da ist noch immer der Riesenflacon mit Eau de Cologne, der lediglich zu dekorativen Zwecken auf der Fensterbank steht, ein uraltes Werbegeschenk, das die Schwiegertochter schon oft entsorgen wollte, dessen Verbleib die alte Frau aber bis jetzt erfoglreich verteidigt hat. Mit der letzten Kraft ihrer drei-und-neunzig Jahre greift sie nach der Flasche und zertrümmert sie auf dem dahinwelkenden Schädel der lebenslang verachteten Schwiegertochter. Das Aroma des billigen Kosmetikums vermischt sich mit dem metallischen Geruch des Blutes und des kalten Schweißes der Todesangst. Fast schon Konzeptkunst, angesichts der Fleisch gewordenen Geschmacklosigkeit, die die Schwiegertochter immer für sie verkörpert hat. Eine letzte Genugtuung, ein endültiger Sieg und die Gewissheit, dem geliebten Sohn die Erlösung auf dem Silbertablett serviert zu haben.
Wenn sie Glück hat, kann sie es als Unfall verkaufen.
Und dann erkennt sie die Farbe der Iris, das Muttermal am rechten Nasenflügel, der Schwung der Augenbrauen und die verräterische kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Es ist ihr Gesicht, aber im falschen Rahmen, so als hätte jemand die Landschaft in Öl, die seit fünf-und-fünfzig Jahren im üppigen, gold lackierten Holzrahmen über dem Sofa hängt, in einen rahmenlosen Bildhalter mit steingrauem Passepartout gepresst.
Der Anblick erinnert an die Unglücklichen in den Jahren ihrer Kindheit, die man einer radikalen Behandlung unterziehen musste, weil Kopfläuse sich in ihrer Haarpracht eingenistet hatten. Aber sie hatte keine Kopfläuse, noch nie gehabt, im Leben nicht.
Mit Häftlingen hat man das früher auch getan, vor allem mit den Opfern der Nazis, die man in den Todeslagern behandelte wie Schlachtvieh in Massentierhaltung.
So lange sie denken kann, nein nicht ganz, seit ihrem vierten Hochzeitstag, hat sie ihr Haar ein-einhalb Finger lang getragen. Beim Friseur eine Dauerwelle legen lassen, nach einer Woche an jedem Samstag waschen, Festiger, Strähne für Strähne auf Wickler gedreht, dann eine halbe Stunde unter der Trockenhaube Kartoffeln geschält oder die Hände manikürt, Wickler gelöst, durchgekämmt, fertig und eine Woche lang Ruhe. Sie hat damit immer perfekt ausgesehen: in jungen Jahren brünett, später meliert, dann coloriert kaschiert und schließlich hat sie das silbergrau selbstbewusst und stolz getragen.
Selbst aufdrehen geht schon lange nicht mehr. Die Schwiegertochter hat sich beklagt, sie schaffe das nicht mehr mit den Haaren. Was die nur hat. Ins gemachte Nest hat sie sich damals gesetzt. Dabei hat sie sich schon immer gehen lassen. Farblos, ungepflegt, mit schlaffen Muskeln und teigiger Haut, Speckrollen und glanzlosem Haar. Sie schaffte es nicht einmal, sich anständig anzuziehen. Nur ihre zwei missratenen Kinder hat sie großgezogen, das Geld hat der Ehemann rangeschafft und das nicht zu knapp. Damals hat sie sich beklagt, sie wolle wieder arbeiten, aber das sei unmöglich, wenn ihr niemand die Kinder abnehme. Phantasielose Tranfunzel, das schafften ja sogar Alleinerziehende, ohne die Generation ihrer Mütter einzuspannen. Aber die Schwiegertochter war sogar mit ihrer kleinen Wohnung und ein wenig Gartenarbeit überfordert, sogar jetzt, wo die missratenen Kinder längst aus dem Haus sind. Eine halbe Stunde die Woche Haare aufdrehen, zu viel Arbeit, unfassbar.
Arglos hat sie sich dem ins Haus bestellten Friseur ausgeliefert. Sie hatten sie in dem Glauben gelassen, er mache ihr nur eben die Haare, dann müsse sie nicht extra mit dem Auto zu ihrer Stammfriseurin, wo sie immer noch ein paar Treppenstufen überwinden muss, was ihr zunehmend schwerfällt. Es war nicht die Schere, die sie irritiert hat, sondern das andere Gerät, das komische Summen und dieser harte Gegenstand so nah an der Kopfhaut, ein Gefühl, als werde man für die Hinrichtung vorbereitet.
Das ist nicht mehr sie selbst. Sie haben sie zum Sträfling gemacht, planen ja auch, sie in den Knast abzuschieben. Es nennt sich zwar Pflegezentrum, aber es unterscheidet sich in nichts von einem Gefängnis: totale Fremdbestimmung, keine Privatsphäre, liebloses Kantinenessen, gefangen in einer Zelle mit genormten Betten, geregelten Besuchszeiten und uniformiertem Personal, das einem die Leviten liest, wenn man nicht spurt. Das hat sie schon in der Kurzzeitpflege kennengelernt. Wenn sie also ohnehin in den Knast muss, dann will sie es sich wenigstens verdienen.
Mit der brüchigen Stimme einer vom Leben Gezeichneten kräht sie den Namen ihrer Schwiegertochter so lange, bis die gleichzeitig gelangweilt und verärgert im Türrahmen erscheint.
„Mir ist der Kamm runtergefallen, kannst du mir den mal aufheben?“
„Wozu brauchst du noch einen Kamm?“
„Der ist runtergefallen, der kann doch da nicht liegen bleiben.“
„Meinetwegen.“
Da ist noch immer der Riesenflacon mit Eau de Cologne, der lediglich zu dekorativen Zwecken auf der Fensterbank steht, ein uraltes Werbegeschenk, das die Schwiegertochter schon oft entsorgen wollte, dessen Verbleib die alte Frau aber bis jetzt erfoglreich verteidigt hat. Mit der letzten Kraft ihrer drei-und-neunzig Jahre greift sie nach der Flasche und zertrümmert sie auf dem dahinwelkenden Schädel der lebenslang verachteten Schwiegertochter. Das Aroma des billigen Kosmetikums vermischt sich mit dem metallischen Geruch des Blutes und des kalten Schweißes der Todesangst. Fast schon Konzeptkunst, angesichts der Fleisch gewordenen Geschmacklosigkeit, die die Schwiegertochter immer für sie verkörpert hat. Eine letzte Genugtuung, ein endültiger Sieg und die Gewissheit, dem geliebten Sohn die Erlösung auf dem Silbertablett serviert zu haben.
Wenn sie Glück hat, kann sie es als Unfall verkaufen.
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