Freitag, 23. September 2016
Feuerzangenbowle – abgeschlossener Kurzkrimi
Helmut stand schon geschäftig in der Küche, als Sonja und Richard dazu kamen.
„Hast du im Kaminzimmer schon angeheizt?“, fragte ihn Richard mit einem schelmischen Grinsen.
„Nein.“, erwiderte Helmut todernst, „Das machen wir zusammen mit der Feuerzangenbowle. Kommen jetzt eigentlich alle?“
„Werner hat keine Zeit.“, sagte Sonja . „Und Sabine hat eben noch eine Mail geschickt, dass ihr etwas dazwischen gekommen ist. Aber Friedhelm und Hanna kommen auf jeden Fall.“
„Mit Gesine und Lotte habe ich eben noch gesprochen.“, sagte Richard .
Wie auf ein Stichwort erschienen die beiden Frauen mit Erwin, Margit und Uwe im Schlepptau, kurz darauf trudelten auch Friedhelm und Hanna ein. Der Gesprächskreis war komplett. Helmut hatte den Topf mit der Mischung aus Rotwein, Orangensaft, Orangenscheiben Zimt und Nelken schon aufgesetzt, als plötzlich Sebastian die Küche betrat. Der Jugendliche nuschelte ein leises „N'Abend.“ und man spürte deutlich, dass er sich wie ein Fremdkörper unter all den ums Rentenalter peripherierenden Erwachsenen fühlte.
„Ihr wisst aber schon, dass das Kaminzimmer heute Abend belegt ist?“, fragte Helmut eifrig.
„Wir treffen uns im Jugendraum.“, erwiderte Sebastian tonlos.
„Im Gruppenraum, so heißt der jetzt.“, verbesserte Lotte ihn schnippisch.
„Was heißt denn eigentlich wir?“,kläffte Uwe und sah den Jugendlichen herausfordernd an.
„Kommen da überhaupt noch welche außer dir? So eine richtige Jugendgruppe kriegt ihr ja schon lange nicht mehr zustande.“
„Kommen schon noch ein paar.“, antwortete Sebastian scheinbar emotionslos, aber seine Augen sprühten Funken.
„Nehmt euch mal ein Beispiel an uns.“, tönte Erwin. „Als wir noch so junge Hüpfer waren wie ihr, da waren wir mit dreimal soviel Mann wie jetzt. Und wir haben richtig was los gemacht, nicht nur vorm Computer rumgehangen. Wenn ihr in fünfzig Jahren auch nur noch ein Drittel von dem zusammen kriegt, was ihr heute habt, dann seid ihr womöglich nur ein zwei Drittel Mensch.“ Er lachte schallend.
Sebastian ignorierte die Sprüche, kochte eine Kanne Tee, stellte ein paar Tassen, Löffel und Zucker auf ein Tablett und verschwand wortlos in den ehemaligen Jugendraum, der jetzt Gruppenraum hieß.
Als die Basis der Feuerzangenbowle warm genug war, siedelte der Gesprächskreis ins Kaminzimmer um. „Ich schmeiß mal das Feuer an.“, sagte Uwe und positionierte sich wichtigtuerisch vor dem Kamin. Uwe war einer dieser Typen die sich ganz archaisch und tief verbunden mit ihren Urahnen fühlten, wenn sie ein Kaminfeuer entfachten oder vor dem Grill standen. Helmut war da feinsinniger, er bevorzugte die saubere, ätherische Flamme des Rechauds, auf den er nun den Topf mit der angesetzten Bowle stellte, die Zange und den Zuckerhut auflegte, alles mit hochprozentigem Rum begoss und wartete, bis alle es sich gemütlich gemacht hatten. Friedhelm knipste mit einem süffisanten Lächeln die schummrigen Stehlampen an, während Hanna, seine Gattin, die grelle Deckenbeleuchtung ausknipste. Als alle Platz genommen hatten, entzündete Helmut den Zuckerhut und alle blickten versonnen in die orangefarbenen und tiefblauen Flammen, vor allem aber schon bald in den brennenden, geschmolzenen Zucker der karamellisiert in die warme Flüssigkeit tropfte und dort sein unvergleichliches Aroma verbreitete.
„Sieht das schön aus.“, hauchte Sonja schwärmerisch und ganz im Einklang mit ihren feinen Gesichtszügen, dem zierlichen Körper und der elfenhaften Haltung, die sie sich auch jenseits der Sechzig bewahrt hatte. Es lief eine heimliche Konkurrenz zwischen ihr und Margit , die genauso alt und genauso zart war, aber im Gesicht nicht mehr ganz so gut definierte Konturen vorzuweisen hatte.
„Für mich bitte nur eine halbe Tasse.“, sagte Lotte und kniff wie um die Ernsthaftigkeit ihrer reduzierten Alkoholkonsum-Absichten zu bekräftigen, altjüngferlich den Mund zu. Lotte war unter allen anwesenden Frauen mit Abstand die stutenbissigste, sie war pensionierte Englischlehrerin, gab sich gern als feministische Frauenförderin, duldete aber kein weibliches Wesen neben sich, das ihr in irgendeiner Hinsicht überlegen sein könnte. Wenn sie bei einer Frau diesen Eindruck hatte, so wurde diese umgehend so lange akribisch demontiert bis die Ex-Studienrätin ihr Ziel erreicht hatte. Hanna, eine patente, freundliche, bodenständige Praktikerin, hatte das längst durchschaut und hielt Lotte konsequent auf Abstand.
Richard nahm einen kräftigen Zug. Er genoss schon seit einigen Jahren seinen Ruhestand, hatte die Altersteilzeit in fünf Jahre Vollzeit und Fünf Jahre Vorruhestand umgewandelt und erfreute sich bester Laune und Gesundheit.
„Wann starten wir denn den Film?“, fragte Gesine, „wenn die ersten Flammen herunter gebrannt sind?“ Sie war eine besonders vorsichtige Person, immer höflich, besonders freundlich und zugewandt, immer offen für neue Ideen, aber gleichzeitig furchtbar ängstlich und verletzlich. Die aparte Sonja und die ihr hierin kaum nachstehende Margit verunsicherten sie und machten, dass sie sich klein, dick und dumm vorkam. Vor Männern wie Uwe fürchtete sie sich, Erwin schüchterte sie mit seiner barschen Art ein, Richard verunsicherte sie, weil er sehr ausgiebig flirtete und dabei auch noch immer ziemlich attraktiv war, aber den zuverlässigen Helmut und vor allem den in sich ruhenden Friedhelm hatte sie besonders gern.
Da saßen sie nun, der versammelte Gesprächskreis, und sahen sich zum gefühlt hundertsten Mal an, wie Heinz Rühmann zum Pfeiffer mit drei f wurde und seine Dinosaurier-artigen Pauker an der Nase herumführte.
„Helmut , sagte Richard , „ich glaube du hast einen Schuss Rum zu viel in die Bowle getan. Ich seh schon doppelt.“
„Unsinn.“, widersprach Lotte entschieden, „Der Film ist irgendwie unscharf. Hast du die DVD nicht richtig sauber gemacht?“
Geräuschvoll sackte Friedhelm vom Sessel. Es verbreitete sich umgehend eine große Aufregung, aber jeder, der versuchte zu helfen, ging unmittelbar nach dem Aufstehen in die Knie.
Acht Stunden später
„Das sieht hier aus, als wäre der Fuchs im Hühnerstall überrascht worden.“, raunte Keller seiner Kollegin Kerkenbrock ins Ohr.
„Ihren Humor möchte ich mal haben.“, zischte die und verbesserte sich dann: „Oder lieber nicht. Wer hat die eigentlich gefunden?“
„Die Küsterin. Irgend ein Angehöriger hat mitten in der Nacht bei ihr angerufen und da hat sie nachgesehen. Wir müssen die Bowle untersuchen lassen, ich wette, da ist was drin, was da nicht rein gehört. Und kann mal einer dem Scheiß Rühmann den Saft abdrehen? Ich kann dem alten Nazispeichellecker keine drei Minuten ins Gesicht sehen, ohne dass sich mir der Magen umdreht.“
Eine Beamtin schaltete Fernseher und DVD-Player aus.
„Nur einen wenzigen Schlock.“, sinnierte Keller.
Im Nebenzimmer saß zitternd die Küsterin. Sabine Kerkenbrock gesellte sich zu ihr. „Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Frau Pankoke?“
„Ja, natürlich.“
„Waren außer dem hiesigen Gesprächskreis noch andere Gruppen im Haus?“
„Der Jugendkreis. Die waren im Gruppenraum.“
„Hatten die Jugendlichen irgendwie Zugang zu der Bowle?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„War die Haustür abgeschlossen oder geöffnet, als Sie heute Nacht hier ankamen?“
„Die Tür war offen.“ Frau Pankoke blickte verzweifelt aus dem Fenster. Plötzlich riss sie die Augen auf: „Auf dem Dachboden der Kirche brennt Licht.“, stieß sie hervor. „Ich war um sieben heute Abend noch da oben, da brannte es nicht.“
„Haben die Jugendlichen Zugang zum Dachboden?“
„Nur Sebastian, der Gruppenleiter. Aber ich kann mir nicht vorstellen, was der da oben wollte. Da versteckt sich bestimmt der Mörder und wartet, bis sich hier alles beruhigt hat.“
„Das glaube ich nicht, Frau Pankoke.“, beruhigte Kerkenbrock die Küsterin. „Wenn hier überhaupt ein Mord vorliegt, vielleicht ist es auch einfach nur ein Unglücksfall. Aber wir können ja mal nachsehen.“
In Begleitung von zwei weiteren Beamten bestiegen Stefan Keller und Sabine Kerkenbrock den Dachboden der Kirche, den Schlüssel hatten sie sich von der Küsterin aushändigen lassen. Was sie dort vorfanden, ließ ihrer aller Blut gefrieren: Mit einem Bergsportseil hatte sich ein junger Mann im Dachfirst erhängt. Unter seiner Leiche lag ein Stück Papier. Keller streifte sich Handschuhe über, nahm es an sich und entfaltete es. Dort stand:
„Liebe Gemeinde!
Jetzt kann ich wohl unmöglich weiterleben, mit der Schuld, die ich auf mich geladen habe. Ich wollte sowieso nicht weiterleben, darum habe ich mir hochkonzentriertes Barbiturat besorgt. Ich verrate nicht wie, ich will niemanden unnötig belasten. Aber dann waren da diese selbstgefälligen Silberpanther, die mir und der Jugend in unserer Gemeinde alles genommen haben, was uns lieb und wichtig war. Wir hatten hier nie einen hauptamtlichen Jugendmitarbeiter, wir haben immer alles ehrenamtlich geleistet und Geld gab es auch immer nur ganz wenig. Zuerst wurde der Jugendraum auch für andere Gemeindegruppen genutzt. Als die Stadt das herausgefunden hat, gingen uns auch noch die öffentlichen Fördermittel verloren und die Gemeinde hatte es natürlich nicht nötig, diese zu ersetzen. Dann regten sie sich auf, dass der Jugendraum ihre Vorstellung von Ästhetik beleidigte, schließlich würden nicht nur Jugendgruppen den Raum nutzen. Er wurde genauso neutral eingerichtet wie jeder langweilige Mehrzweckraum in jedem evangelischen Gemeindehaus. Unsere Arbeit wurde praktisch unmöglich gemacht und so blieben auch nach und nach die Jugendlichen weg. Heute Abend hat Erwin mir deswegen noch einen dummen Spruch rein gereicht, ausgerechnet Erwin, der in jungen Jahren die Vorstandsarbeit im CVJM hingeschmissen hat, sich um nichts mehr geschert hat und jetzt als Rentner immer dazwischen pfuscht, wenn der deutlich jüngere Vorstand seine Arbeit machen will. Nicht einmal unser Herbstfest hat er uns allein planen lassen, ständig hat er seine Verbindungen in der Gemeinde spielen lassen und uns Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ich konnte sie einfach nicht mehr sehen, diese ewig Wein kübelnden Rentner, die sich überall im Gemeindehaus breitmachen und alle Macht an sich reißen, weil sie sonst nichts zu tun haben. Da habe ich ihnen mein Barbiturat geschenkt und das Gemeindehaus von dieser Plage befreit. Ich bin immer gern Klettern gegangen und ich war gern ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Evangelischen Kirche. Ist doch ein passender Abgang. Macht es künftig besser. Euer Sebastian.“
Keller reichte das Papier seiner Kollegin und sagte: „Den Brief sollte man eigentlich veröffentlichen. Eindeutig ein Generationen-Konflikt.“
ENDE

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