Donnerstag, 22. September 2016
34. Arche-Noah-Kita – Minden - aus dem Roman "Rache für Dina" von Cristina Fabry
„Warum hat Marek denn eben so schrecklich geheult?“, fragte Regina Heuer ihre Kollegin Sabine Krönke.
„Målin hat ihm Sand ins Gesicht geworfen, laut Målins Auskunft, weil er absichtlich ihre Burgmauer eingetreten hat, laut Mareks Version aus Versehen.“, gab Sabine Auskunft. „Marek hat außerdem ganz, ganz viel Sand in die Augen bekommen, so dass er ganz blind war, und Målin ist ja so gemein, während Målin natürlich beteuerte, dass sie ihn mit ihrem Geschoss nur sanft verscheuchen wollte, damit er nicht auch noch den Turm zertrampelt.“
„Sanft verscheuchen? Hat sie das wirklich so formuliert?“, fragte Regina verblüfft.
„Natürlich nicht.“, antwortete ihre Kollegin. „Sie sagte eher so etwas wie: „Ich wollte nur, dass er nicht alles kaputt macht, und da habe ich ihn ein ganz bisschen verjagt, weil Sand ist ja weich und tut nicht weh.“
„Tut aber doch weh!“, plärrte Regina und verlieh damit ihrer Phantasie über Mareks Reaktion Ausdruck.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn.“, sinnierte Sabine.
„Genau wie im Kirchenkreis.“, erwiderte Regina. „Mir ist immer noch ganz schlecht, obwohl Siggi mir ja schon am Freitag Bescheid gegeben hat. Ich will heute Abend mal Sonja anrufen, die muss ja völlig am Ende sein.“
„Sonja? Ist das Jens Frau?“
„Ja. 'Ne ganz Nette. Wir treffen uns ab und zu zum Grillen oder machen Spiele-Abende.“
„Glaubst du denn, dass der Mord an Jens die Rache für Volkmanns Ermordung war?“
„Ich kann es mir zumindest vorstellen. Vielleicht hat jemand von Volkmanns Jüngern die MAV in Verdacht und schlägt jetzt zurück.“
„Dann bist du aber auch nicht mehr sicher.“
„Nee, es hat ja Jens schon erwischt. Höchstens, wenn der Nächste aus der Leitungs-Liga dran ist, trete ich wieder auf den Plan.“
„Wen könntest du dir denn als Mörder vorstellen?“
„Keinen. Nicht einmal Massmann. Er ist zwar 'ne echte Kotzkanne, aber immer super korrekt und prinzipientreu.“
„Ich denke, er steckt auch hinter den neuen Verträgen und ähnlichen Schweinereien.“
„Ja schon, aber das ist ja alles halbwegs legal. So einer wie Massmann riskiert doch nicht Kopf und Kragen. Das ist ein Erbsenzähler und Fugenauskratzer, der seine Nachbarn verklagt, weil die Samen ihrer Ringelblumen in seinen Garten rüber wehen oder der seine Einfahrt mit einem Tor versieht, damit niemand mehr auf seinem sauber verlegten Verbundpflaster wendet und Fahrrinnen verursacht. So einer tötet nur im Krieg, wenn er offiziell dazu ermächtigt und das Gesetz auf seiner Seite ist. Dann käme schon eher Frau Attig infrage, Volkmanns persönlicher Zerberus. Die war ihrem Chef ja hoffnungslos verfallen. Andererseits hätte sie vermutlich viel zu viel Angst, sich die Bluse zu bekleckern und die Fingernägel abzubrechen. Mal ganz zu schweigen von dem Grauen einer solchen Bluttat – das hielte sie gar nicht aus.“
„Regina.“, Marek baute sich mit noch immer geröteten Augen vor den Erzieherinnen auf. „Da vorne ist eine Frau mit einem alten Mann, die wollen mit dir reden.“
Marek zeigte in Richtung Terrasse, wo eine gut aussehende junge Frau mit einem leicht zerknautschten Mittfünfziger auf sie wartete. Sie ging auf sie zu und reichte ihnen die Hand. „Ich bin Regina Heuer, die Leiterin dieser Kita. Was kann ich für Sie tun?“
„Sabine Kerkenbrock und Stefan Keller von der Bielefelder Mordkommission.“, sagte die junge Frau so leise, dass die Kinder nichts davon mitbekamen. „Können wir uns mit Ihnen irgendwo in Ruhe unterhalten?“
„Gehen wir doch in mein Büro.“, antwortete Regina. „Ich gehe mal vor.“
Nachdem sie sich gesetzt hatten und die Kita-Leiterin Getränke bereit gestellt hatte, begann Keller die Befragung: „Wir sind von mehreren Seiten darauf hingewiesen worden, dass sie am besten über den Konflikt bezüglich neuer Verträge für die Erzieherinnen informiert sind. Nun haben wir mit den übrigen Vertretern der MAV gesprochen und uns liegen auch die Gesprächsprotokolle vor. Haben Sie noch weiter gehende Informationen?“
„Aber was hat das mit dem Mord an Jens Carstensen zu tun?“, fragte Regina Heuer verwirrt.
„Zu Herrn Carstensen kommen wir gleich noch.“, erklärte Keller. „Aber wir untersuchen auch nach wie vor den Mord an Norbert Volkmann, und möglicherweise hängen beide Taten zusammen und möglicherweise haben sie etwas mit arbeitsrechtlichen Konflikten zu tun.“
„Ja, das ist natürlich denkbar.“, gab Regina zu. „Wie war jetzt noch mal Ihre Frage? Sie müssen entschuldigen, aber ich stehe immer noch unter Schock, obwohl ich schon seit Freitag Abend Bescheid weiß.“
„Wer hat Sie denn informiert?“, fragte Keller.
„Siegfried Wischmeier. Er war ganz aufgelöst.“
„Verständlicherweise. Also, zurück zu meiner Frage. Wie steht es mit ergänzenden Hintergrundinformationen zu den geänderten Arbeitsverträgen der Erzieherinnen?“
„Ach so. Ja, dass sie massiv bedroht und unter Druck gesetzt wurden, steht ja in den Protokollen. Alle diejenigen, die nicht dagegen vorgehen – und das ist die Mehrheit – sind nicht etwa einverstanden, sondern haben Angst vor Schikanen bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes. Nicht jede ist eine Kämpfernatur, viele haben auch gut verdienende Ehemänner und arbeiten mehr, um sich selbst zu verwirklichen, als zur Sicherung ihres Lebensunterhalts. Viele von den jüngeren Kolleginnen fürchten um ihre Existenz, wenn sie sich wehren. Sie sagen sich, dass sie sich besser aus der Sicherheit des schlecht bezahlten Jobs auf eine höher dotierte Stelle bewerben, als den Kampf gegen den Arbeitgeber aufzunehmen und womöglich aus einer geschwächten Position heraus auf Jobsuche zu gehen.“
„Wissen Sie, wie der Anstellungsträger die geänderten Verträge begründet hat?“, fragte Kerkenbrock.
„Angeblich sollten alle diejenigen, die länger oder weniger als fünf Jahre beim Kirchenkreis beschäftigt sind – je nachdem, wer gerade unterschreiben sollte - , in eine neue Gehaltsgruppe eingeordnet werden, ohne nennenswerte Veränderungen des Nettogehalts. Es handele sich nur um eine Formsache.“
„Waren die Betroffenen sehr verärgert?“, fragte Keller.
„Wie Sie sich vorstellen können!“, erwiderte Regina. „Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn man Ihnen auf einmal ein Neuntel Ihres Nettolohns verweigern würde, einfach so, um Geld zu sparen für irgendwelche eitlen Projekte.“
„Was für eitle Projekte meinen Sie denn?“, fragte Kerkenbrock.
„Kirchenmusikalische Leckerbissen, Vorzeige-Events im religionspädagogischen Sektor, aufwändige Gebäudesanierungen und so weiter.“
„Könnte da jemandem die Birne durchgebrannt sein?“, hakte Keller weiter nach.
„Ach, Sie meinen, ob von den Kolleginnen eine als Täterin infrage käme? Im Affekt zuzustechen, das könnte ich mir theoretisch noch vorstellen, aber keine von denen wäre so cool, dem Chef die Hosen runter zu ziehen und ihn genital zu verstümmeln.“
„Jetzt mal was ganz Anderes.“, mischte Kerkenbrock sich wieder ein. „Erinnern Sie sich eigentlich an ein fröhliches Sprüche Klopfen innerhalb der MAV über ein mögliches Verhältnis zwischen Norbert Volkmann und der Hartumer Kirchenmusikerin Lydia Schmalgemeier?“
„Äh ja, dunkel. Warum?“
„Nun, wir verfolgen eine mögliche Spur.“, erklärte Kerkenbrock. „Erinnern Sie sich an Details oder an Sprüche von Jens Carstensen? Die sollen ja recht eindrucksvoll gewesen sein.“
„Also, ich weiß noch, wie Friedrich Ortmann Frau Schmalgemeiers Verhalten beschrieben und zum Teil auch nachgeäfft hat. Jens Carstensen hat eine Reihe von Bemerkungen gemacht, die ziemlich witzig, aber auch deutlich unter der Gürtellinie waren. Aber Genaueres...warten Sie, an einen Spruch kann ich mich erinnern: 'Und Norbert erkannte seine Kantorin und er sang ihr ins Ohr: In dir ist Freude, in allem Leide, oh du süße Organistin.' - Das waren Anspielungen auf Adam und Eva und auf ein bekanntes Kirchenlied.“
„Könnte irgendjemand außerhalb der MAV von diesen Sprüchen etwas mitbekommen haben?“
„Das ist eher unwahrscheinlich.“, stellte Regina Heuer fest. „Meinen sie etwa, Jens Carstensen sei wegen dieser Bemerkungen ermordet worden?“
„Wir wissen es nicht.“, erklärte Keller. „Hätten Sie denn eine Idee, in welche Richtung wir ermitteln sollten?“
„Jens Carstensen ist als Mitarbeitervertreter der Kirchenkreisleitung ganz schön aufs Dach gestiegen. Er hat Reimler mit dem Arbeitsgericht gedroht, und diese Drohung ist keine leere. Mein Mann ist Anwalt für Arbeitsrecht und prüft zur Zeit die Erfolgsaussichten. Sieht gut aus für die Kolleginnen. Außerdem war Jens am Donnerstag beim landeskirchlichen Beauftragten für die Mitarbeiter in Verkündigung uns Seelsorge, der ist im Bereich Interessenwahrung für Mitarbeitende ziemlich engagiert, vielleicht sollten Sie sich mit dem mal unterhalten.“
„Wie heißt der, und wo finden wir den?“
„Den Namen weiß ich auch nicht, finden Sie aber auf der Homepage der Landeskirche. Auf jeden Fall sitzt er im Landeskirchenamt in Bielefeld.“
„Wie praktisch.“, stellte Keller fest.
„Dann vielen Dank, Frau Heuer.“, sagte Kerkenbrock. „Melden Sie sich bei uns, falls Ihnen noch etwas auf- oder einfällt?“
„Wenn Sie mir Ihre Kontaktdaten da lassen.“
Prompt legten die Beamten ihre Visitenkarten auf den Tisch. Regina sah ihnen nach, als sie ihr Auto aufsuchten.
„Was gäbe ich darum, wenn mir noch etwas einfiele.“, murmelte sie und ging dann wieder in den Garten, wo eine allein arbeitende Kollegin und ein Haufen quirliger kleiner Kinder auf sie warteten.

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