Dienstag, 20. September 2016
25. Arche-Noah-Kita - aus dem Kriminalroman "Rache für Dina" von Cristina Fabry
Regina Heuer schloss die Bürotür und ging an der Küche vorbei. „Läuft die Spülmaschine?“ scherzte sie. „Spülmaschine läuft.“, antwortete Sabine Krönke im Kasernenton. „Grothaus schon gesichtet?“ fragte sie.
„Bis jetzt noch nicht.“, antwortete Regina Heuer, aber er hat ja noch dreizehn Minuten. Der Countdown zur jährlichen Horror-Andacht läuft.“
„Wieso?“, fragte Sabine. „Der kommt doch jede Woche.“
„Jeden Freitag Horror-Andacht?“, überlegte Regina. „Ja, so kann man das natürlich auch sehen. Aber heute ist mal wieder Kreuzigung dran. Ich sehe schon wieder die Schreck-geweiteten Kinderaugen und höre wie das Telefon heiß klingelt. Genau wie im letzten Jahr. Tränen, Alpträume und aufgebrachte Eltern.“
„Sag ihm das doch.“, schlug Sabine vor.
„Das mache ich auch.“, antwortete Regina.
„Guck mal. Da kommt er schon.“
Mit einer Aktentasche ausgestattet ging Pfarrer Christoph Grothaus auf den Eingang der KiTa zu. Er wirkte so, als sei er zu einem Fachvortrag unterwegs und nicht zu einem religionspädagogischen Angebot für Kindergartenkinder.
„Guten Morgen Herr Grothaus.“, begrüßte Regina ihn. „Können Sie vorher noch einmal ganz kurz in mein Büro kommen?“
Grothaus erwiderte den Gruß und folgte der Einladung.
„Ich wollte Sie noch einmal daran erinnern“, erklärte Regina, „dass im letzten Jahr einige Kinder durch die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu regelrecht traumatisiert waren. Es wäre ganz gut, wenn Sie die Dramatik und die erschreckenden Details aus der Beschreibung heraus lassen könnten.“
„Aber Frau Heuer“, antwortete Christoph Grothaus. „Ich kann den Kindern doch keine Passions-Geschichte light auftischen, nur weil Leiden, Sterben und Tod heute überall ausgeblendet und verdrängt werden. Die Kinder müssen frühzeitig an diese Themen heran geführt werden, damit sie Schritt für Schritt lernen, damit umzugehen. Und die Botschaft des Evangeliums ist auch schwerlich zu begreifen, wenn man nur erzählt, dass die Männer des hohen Rates und die römischen Soldaten gemein zu Jesus waren und ihn am Ende ganz lange gefesselt haben, so dass er gar nichts mehr machen konnte.“
Regina protestierte: „Drei- bis Sechsjährige sind aber zu klein für so grausame Details wie blutige Peitschenhiebe oder das Durchbohren von Händen und Füßen mit dicken Nägeln. Das können die noch nicht verarbeiten. Bei Siebenjährigen sieht das schon anders aus.“
„Wissen Sie, Frau Heuer“, antwortete Grothaus mit einem süffisanten Lächeln, „Ich habe zwölf Semester Theologie studiert und etliche Vorlesungen und Seminare besucht zur Religionspädagogik mit Kindern. Ich weiß, was ich da tue. Ich halte mich aus Ihrem Fachgebiet heraus, halten Sie sich bitte aus dem meinen heraus, dann können wir wunderbar zusammenarbeiten.“
„Die Eltern machen mir nächste Woche die Hölle heiß!“, protestierte Regina empört.
„Dann leiten Sie sie an mich weiter. Ich bin gern bereit, unwissenden Eltern die Bedeutung der Passionsgeschichte für die Glaubensbiographie ihrer lieben Kleinen zu erläutern. Und jetzt würde ich gern anfangen.“
Er verließ das Büro, ohne eine Antwort abzuwarten und ließ Regina mit offenem Mund zurück. Als sie sich einigermaßen gefasst hatte, ging sie in den Gruppenraum, in dem die Andacht heute stattfand.
Die Kinder sangen zur Einstimmung gerade „Guten Morgen, lieber Gott“, wie jedes Mal zu Beginn der Andacht.
„Wisst ihr denn, was am übernächsten Sonntag für ein großes Fest ist?“, fragte er die Kinder.
Einige Fünf- und Sechsjährige riefen eifrig: „Ostern!“
„Da kommt der Osterhase!“, brüllte der vierjährige Cedric, und die übrigen Kinder jubelten begeistert. Der Pfarrer bemühte sich, seinen säuerlichen Ausdruck, der sich reflexartig in sein Gesicht grub, tapfer hinweg zu lächeln.
„Der Osterhase“, erklärte er, „ist ein lustiger Frühlingsspaß, den die Erwachsenen sich ausgedacht haben, um den Kindern eine Freude zu machen.“
Regina vergrub entsetzt ihr Gesicht in den Händen.
Grothaus fuhr fort: „Worum es beim Osterfest eigentlich geht, ist, dass Jesus von den Toten auferstanden ist..“
Die Kinder starrten ihn mit großen Augen und offenen Mündern an. Sie mussten ein bisschen zu viel auf einmal verarbeiten: Der Osterhase war nur ausgedacht und Jesus war bei den Toten und ist irgendwie aufgestanden. Wie hing das nun alles zusammen?
„Dass Jesus auferstanden ist“, erklärte der Pfarrer weiter, „ist das Wichtigste für alle, die an ihn glauben. Darum ist Ostern auch wichtiger als Weihnachten.“
„Das glaube ich nicht!“, widersprach Cindy. „Weihnachten gibt es viel mehr und auch viel tollere Geschenke und ganz viel Leckeres zu Essen und alle besuchen sich. Weihnachten ist viel viel toller!“
„Das Fest ist vielleicht schöner und größer“, erklärte Grothaus geduldig, „aber an Weihnachten feiern wir, dass Jesus geboren ist. Geboren wurden wir alle, aber noch keiner von uns ist von den Toten auferstanden. Das ist ein Wunder.“
„Ja“, erklärte Viktoria eifrig. „Wenn man tot ist, dann muss man eigentlich liegen bleiben und kann sich nicht mehr bewegen, außer man ist ein Vampir oder ein Gespenst.“
Jetzt hatte auch Jonas etwas beizutragen: „In meiner Kinderbibel hat Jesus ein weißes Kleid an. Der war bestimmt ein Gespenst.“
„Nein nein!“, widersprach Grothaus. „Das weiße Kleid hatte er ja schon vorher. Aber wir wollen heute auch nicht ausführlich von Ostern und der Auferstehung erzählen, sondern von dem, was kurz vorher geschehen ist. Was musste denn passieren, damit Jesus von den Toten auferstehen konnte?“
Lara meldete sich zaghaft: „Vielleicht musste jemand Feenstaub auf das Grab streuen?“
„Nein, das ist ja Unsinn!“, erwiderte Grothaus ungehalten. „Es gibt weder Feen noch Feenstaub. Das sind alles Märchen. Ich stelle die Frage mal anders: Was muss passieren, damit jemand tot ist?“
„Erschießen. Peng Peng Peng!, rief Justin.
„Gewehre gab es damals noch nicht.“, erklärte der Pfarrer. „Aber Jesus musste sterben. Er wurde getötet. Und wie es dazu kam, will ich euch erzählen.“
Gespannt hielten die Kinder den Atem an, als der Pastor einen Filzteppich und eine Schachtel aus der Tasche holte. In der Schachtel befanden sich Figuren, die ebenfalls aus Filz gearbeitet waren und der Visualisierung der erzählten Geschichte dienten. Er holte eine Jesus-Figur und ein paar Jünger aus der Schachtel und begann, die Passionsgeschichte zu erzählen. Er ließ nichts aus: das letzte Abendmahl, die Stunden der Angst in Gethsemane, der Verrat des Judas und dessen Suizid, die Verhaftung Jesu und das von Petrus abgeschlagene Ohr des Soldaten, die Peitschenhiebe, die schmerzenden Stacheln der Dornenkrone und wie ihm wohl Schweiß und Blut in die Augen gelaufen waren, das Verhör durch Pilatus, die Rettung des Barabas, das Tragen und der Zusammenbruch unter der Last des Kreuzes, das Einschlagen der Nägel in Hände und Füße, der entsetzliche Schmerz und so weiter, bis zum bitteren Ende. Die Kinder verfolgten mucksmäuschenstill diesen Horror-Film in Filzoptik und der Pfarrer sprach am Ende zufrieden ein Gebet und einen Segen, packte seine Filzfiguren wieder ein, wünschte allen frohe Ostern und lief eilig zu seinem Auto. Die Kinder – froh, dass die beängstigende Situation endlich vorüber war – schalteten einfach um auf Spiel und Spaß und verdrängten zunächst erfolgreich die grausamen Bilder, die Grothaus in ihrem Kopf hatte entstehen lassen. Karin ging mit einer größeren Gruppe in den Garten, und diejenigen, die im Haus blieben, beschäftigten sich zunächst selbst, so dass Regina sich leise mit ihrer Kollegin Sabine unterhalten konnte.
„Wie kann man nur so einem Kinderhasser religionspädagogische Verantwortung übertragen? Mal eben alle schönen Träume zerstören, ein paar Alpträume säen und dann die Kinder in ihrem Elend allein lassen. Ich würde mich sofort an den Superintendenten wenden, aber der Reimler ist ja auch so eine Wurst.“
„Gibt es überhaupt Pfarrer, die mit Kindern umgehen können? Muss man nicht schon total balla balla sein, wenn man überhaupt Theologie studiert?“, fragte Sabine.
„Nee, das kann man so nicht sagen.“, antwortete Regina. „Es sind ja auch nicht alle Erzieherinnen phantasielose Basteltanten, die nix drauf haben als schwarze Pädagogik und Zickenkrieg. Es gibt, glaube ich, schon eine große Menge Theologen, die das studiert haben, weil die Kirche der einzige Ort war, wo sie nicht ständig fertig gemacht wurden, aber es gibt auch ganz tolle und engagierte und auch welche, die super mit Kindern können. Der Winter zum Beispiel, das war der Vorgänger vom Grothaus. Die Kinder haben sich immer total gefreut, wenn der kam. Und der hätte sich bei dieser Geschichte die Details geschenkt. Er hätte mit den Kindern reflektiert wie das ist, wenn alle einen rum schubsen und vielleicht ein paar Übungen dazu gemacht. Der hätte den Kindern auch den Osterhasen nicht ausgeredet, sondern erzählt, dass der der Deko-Beauftragte für die Welt-weite Auferstehungsparty ist und zwar in einer Sprache, die die Kleinen auch verstehen. Zu schade, dass die Guten immer verschwinden.“
„Was ist denn mit ihm passiert?“
„Hat'n Posten in der Landeskirche bekommen.“
„Aber das ist doch schön, wenn ausnahmsweise mal die Guten Karriere machen.“
„Schon“, gab Regina ihr recht, „aber wenn sie gehen, kommen meistens nur die Luschen nach. Kassieren ein fettes Gehalt, obwohl sie nichts können. Das ist einfach zum Kotzen!“
„Und unsereins mit unserem schmalen Geld will man noch Dumping-Löhne aufdrücken.“, fiel Sabine in das Lamento ein. „Was ist eigentlich bei eurem Gespräch im Kirchenkreis raus gekommen? Gibt’s was Neues?“
„Nicht viel.“, antwortete Regina. „Fünf Kolleginnen haben den Dreck mittlerweile unterschrieben. Jens Carstensen hat sich gestern in Bielefeld mit dem landeskirchlichen Beauftragten getroffen und ich habe alle Einrichtungsleitungen geimpft, damit keiner mehr unterschreibt. Ich habe echt viel telefoniert letztes Wochenende. Reimler will weiter sparen und meint, die neuen Verträge könne er auch gar nicht rückgängig machen. Da hat Jens die Sitzung platzen lassen und gesagt, dass wir dann eben den Rechtsweg einschlagen müssen. Wir versuchen es jetzt erst noch einmal mit der kostengünstigeren Variante „Neutraler Berater“. Reimler will sich um einen geeigneten Kandidaten kümmern. Ich bin echt mal gespannt.“
„Ich auch.“, erklärte Sabine. Dann mussten beide ihr Gespräch beenden, weil die Kinder ihre volle Aufmerksamkeit einforderten.
Bis zum Mittagessen lief alles normal. Es gab Chicken-Nuggets, kleine runde Petersilienkartoffeln und Erbsen mit Möhren. Außerdem stand rote Traubenschorle auf dem Tisch.
„Ich will Blut trinken!“, rief Cedric und lachte irre. „Ich bin ein Vampir, und ich trinke das ganze Blut von Jesus alleine aus.“
„Und ich esse sein Fleisch.“, erklärte Dustin und biss in ein Stück Hühnchen wie ein Raubtier.“
„So war das mit dem Abendmahl aber nicht gemeint.“, erklärte Regina. „Damals haben die Menschen sich besser vorstellen können, was Jesus meinte, wenn er es so erklärte. Eigentlich wollte er sagen, dass er viel Schlimmes erleben müsste, damit die Welt besser werden kann.“
„Die haben den ja auch gar nicht gegessen.“, erklärte Cindy weise. „Weil dann hätte der nach dem Sterben ja nicht einfach aufstehen können.“
„Ja, sonst wär' der ja als Kacke rumgelaufen.“, überlegte Rico und kriegte sich vor Lachen gar nicht mehr ein.
„Gar nicht dumm, der Rico.“, dachte Regina, wollte aber verhindern, dass diese von den Kindern selbst initiierte gruppentherapeutische Verarbeitung in einen wüsten Klamauk ausartete. Darum sagte sie: „Das, was Pastor Grothaus euch heute erzählt hat, das waren eigentlich mehrere Geschichten auf einmal. Das kann ich auch nicht alles mal eben so erklären. Aber ich mache euch einen Vorschlag. Nächste Woche erzähle ich euch Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag immer nur ein bisschen von der Geschichte, erkläre euch das und dann reden wir darüber. Wollen wir das so machen?“
Die Kinder stimmten zu und wechselten dankbar das Thema beim Essen.
„Dem Grothaus mache ich die Hölle heiß!“, zischte Regina. „Ich weiß noch nicht wie, aber diesmal wird der Passions-Horrortrip ein Nachspiel haben. Das war das letzte Mal, dass der diese Nummer abgezogen hat.“

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