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Freitag, 2. September 2016
Goedereede – ein Kurz-Krimi zum Weiterspinnen – Schluss I
c. fabry, 20:23h
Die Mühle ratterte laut und ein wenig bedrohlich, obwohl das Zentrum des Getöses sich zwei Stockwerke über ihm befand – durch eine schmale Luke konnte man nach oben sehen. Einige Auserwählte durften sogar ins Allerheiligste unterm Dach der Mühle – Ansgar hatte nicht einmal Interesse, die erlaubte Treppe zu erklimmen – Mechanik hatte ihn noch nie interessiert.
Plötzlich rumpelte es im Gebälk. Die rhythmischen Bewegungen verlangsamten sich, spitze Schreie waren zu hören und schwarzes Blut tropfte durch die Luke auf den alten Holzboden, dessen trockene Poren die Flüssigkeit umgehend aufsaugten. Aufgeregte Menschen mit kreidebleichen Gesichtern stolperten die Treppe herunter und stürzten aus der Mühle. Es dauerte eine ganze Weile bis jemand in der Lage war, Ansgar zu erklären, was eigentlich passiert war: Aus bislang unbekannten Gründen war ein junger Mann ganz oben, wo es bekanntermaßen sehr gefährlich war und wo eigentlich niemand Unbefugtes hingehen durfte, von einem Zahnrad erfasst worden und in die Antriebswelle gezogen worden.
„Ist er sehr schwer verletzt?“, fragte Ansgar entsetzt, der das herab tropfende Blut bemerkt hatte.
„Er ist tot.“, erwiderte sein Auskunftgeber.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, statt dessen arbeitete er an einem Fürbittengebet, das er dem sprachbegabten Gemeindeglied morgen zur Übersetzung vorlegen wollte.
Das Kunstspektakel am Samstag wurde abgesagt. Überall im Ort war Polizei unterwegs und Ansgar wäre am liebsten direkt nach Hause gefahren. Anstelle eines weiteren Carillon-Konzertes spielte der Künstler geistliche Lieder zu Tod und Ewigkeit und das auch nur eine Viertelstunde.
Es war ein wunderbarer, sonniger Samstag, und Ansgar saß auf der Terrasse hinter dem Haus, direkt an der Gracht, trank Tee, arbeitete an seinem Grußwort, las und blinzelte von Zeit zu Zeit in die Sonne. Abends packte er seinen Koffer, denn er hatte vor, direkt im Anschluss an das dreistündige Gottesdienst-Ritual, bestehend aus Kirchenbesuch, Kirchkaffee und Einladung zum Abschieds-Mittagessen im Pfarrhaus, nach Hause zu fahren. Er ging früh schlafen und verhängte das Fenster mit einem Duschtuch, weil ihn das Licht der Straßenlaterne störte.
Als er sich am Sonntag Morgen noch einen Spaziergang gönnte, um den Kopf vor dem Gottesdienst frei zu bekommen, begegneten ihm äußerst traditionell herausgeputzte Gestalten, die ebenfalls zum Gottesdienst unterwegs waren, von denen ihm jedoch in der vorangegangenen Woche niemand begegnet war. Zum Teil waren sie in so etwas Ähnliches wie historische Trachten gekleidet und fuhren mit ernsten Gesichtern in Pferdekutschen vor, so dass Ansgar sich an die in Nordamerika niedergelassenen Amish erinnert fühlte. Vermutlich waren das die Fundamentalisten, die sich von den Reformierten abgespalten hatten. Ihre Gesichter erschienen ihm verbittert, beinahe zornig.
Er suchte schließlich die Kirche auf, besprach sich in der Sakristei mit dem Pfarrer und den Lektoren, sprach mit allen ein gemeinsames Gebet und betrat dann die gefüllte Kirche. Als er in die Gesichter der Gemeinde sah, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Hatte er ihre Augen in den ersten Tagen wie Röntgengeräte empfunden, die versuchten, seine Gedanken zu lesen, wirkten die Gesichter heute Morgen hart und kalt, wie zu Masken erstarrt. Er überbrachte nach der Eröffnung die Grußworte seiner Gemeinde, dann rauschte der Gottesdienst an ihm vorbei, nicht einmal die Predigt bekam er mit.
Als die Fürbitten an der Reihe waren, trat er mit dem Übersetzer ans Lesepult. Nach ein paar üblichen Bitten sprach er: „...und wir bitten dich, Herr, für die Seele des jungen Mannes, der dem Unglück in der Mühle zum Opfer gefallen ist, nimm seine Seele auf und schenke ihm Frieden. Ganz besonders aber bitten wir dich, jene zu trösten und in ihrer Trauer nicht verzweifeln zu lassen, die der Verlust persönlich getroffen hat: seine Angehörigen, seine Freunde und alle, die ihn lieben. Amen.“
Niemand senkte den Blick, kein trauriges Auge war zu sehen, statt dessen Entschlossenheit, klare, graue Augenpaare richteten sich stur geradeaus, ein paar große, braune Augen starrten geradezu zufrieden. Ansgar stellten sich die Nackenhaare auf. Was war nur los mit den Leuten hier? Er wollte es lieber gar nicht wissen. Beim Kirchcafé schienen ihm die Gemeindeglieder eher aus dem Weg zu gehen, doch das war ihm nur recht. Als sein Mentor ihn beim Mittagessen um seine Meinung zur Predigt fragte, entschuldigte er sich für seine unzureichenden Sprachkenntnisse und seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit aufgrund der jüngsten Ereignisse.
Er bedankte sich in aller Form, verabschiedete sich höflich, holte seinen Koffer und verließ die Pieterstraat mit ihren schmalgiebeligen Fischerhäusern. Auf der Kreuzung von Pieterstraat und Kerkstraat wäre er beinahe in die Hinterlassenschaft der Kutschpferde getreten. Ob die Restauriert Reformierten sie wohl absichtlich dort defilieren lassen hatten? Die Symbolik stand der Eimer leerenden Fischerfrau an der Dorfmauer in nichts nach. Auf dem Weg zum Parkplatz hörte er ein letztes Mal die Carillons, sie spielten „Oh komm, du Geist der Wahrheit“.
„Ja, Komm.“, dachte er und stieg wie ein Flüchtender in sein Auto, dem die Fischerin noch wütend einen Eimer Scheiße hinterher warf. Als er dreieinhalb Stunden später wieder zu Hause ankam, war er mehr als erleichtert.
Goedereede war bereits in seiner Erinnerung verblasst wie ein verstörender Film, den man besser vergaß, da las er eines Morgens auf der Titelseite seiner Tageszeitung unter der Rubrik „Die schräge Meldung“ folgenden Text:
Rotterdam. In einem südholländischen Dorf nahe der Küste hat die Polizei einen brutalen Mord aufgeklärt. Ein junger Mann, der in die Zahnräder der Mechanik einer traditionellen Windmühle geraten und dabei gestorben war, war das Opfer eines Mordanschlages. Der Täter war der Vater eines Mädchens, das der Reformierten Kirche angehörte, das Opfer war Mitglied der streng gläubigeren Separatisten, der Restauriert Reformierten Kirche.
Da die beiden jungen Menschen sich ineinander verliebt hatten, schmiedeten sie Heiratspläne. Dies wollte der Vater des Mädchens um jeden Preis verhindern. Doch die Tochter strafte ihn doppelt für seine Gräueltat. Sie konvertierte zur Restauriert Reformierten Kirche und stürzte sich dann vom Turm der Reformierten Kirche. In einem Abschiedsbrief bat sie darum, neben ihrem Verlobten beigesetzt zu werden. Der Vater stellte sich nach dem Freitod der Tochter der Polizei. Romeo und Julia auf dem Dorfe.
ENDE Schluss I
GOEDEREEDE – EIN KURZKRIMI ZM WEITERSPINNEN – SCHLUSS II – FREI NACH HELENE TISCHER UND BIRGIT DIE STARKE
Nachdem er sich in der Mühle gebührend lange aufgehalten und seine gähnende Langeweile erfolgreich verborgen hatte, ging er wieder nach draußen und betrachtete ein letztes Mal die Schlacht der Farben auf den Mühlenflügeln. Trotz der Akzente in grellem Gelb, leuchtendem Rot und schillerndem Blau dominierten Erdtöne, vor allem rötliche. Eine entsetzliche Geschmacklosigkeit, befand er und machte sich auf den Weg zum Marktplatz, wo verschiedene Gruppen Live-Musik zum Besten gaben. Er setzte sich in die Gaststätte, die Biere eines regionalen Brauhauses anbot und bestellte sich ein Sandwich dazu, was sich allerdings als vollwertige Mahlzeit entpuppte, war es doch von epischer Breite, umfangreich belegt und dreistöckig. Dazu gab es frische Pommes Frites, schließlich war er in Holland. Vor der Bühne beobachtete er einen exzentrischen Tänzer, in dem er den „Harry“ erkannte, der das Aquarell in seiner Wohnung aufgestellt hatte. Er trug betont extravagante Kleidung und wirkte auf Ansgar wie das fleischgewordene Klischee eines Bohemiens. Er war sichtlich betrunken, doch war es wohl nicht nur seinem erhöhten Alkoholspiegel sondern auch seinem ausgeprägten Exhibitionismus geschuldet, dass er sich derartig extrovertiert vor der Bühne gebärdete. Ansgar beeilte sich, sein sogenanntes Sandwich zu verdrücken und machte sich auf den Heimweg.
Am Samstag Vormittag erhielt er einen kurzen Besuch des Pfarrers. „Könnten Sie bitte am Sonntag in Ihr Fürbittengebet eine junge Frau einschließen, die seit einigen Tagen vermisst wird?“, bat ihn sein künftiger Kollege. „Sie heißt Anneke van Maas und war bis vor einem Jahr Mitglied unserer Gemeinde. Sie hat sich dann der Herstelde Hervormde Kerk angeschlossen und war gar nicht mehr in unserer Gemeinde präsent. Nun ist sie spurlos verschwunden. Wir vermissen Sie bereits seit über zwei Wochen.“
Ansgar tat, wie ihm geheißen, arbeitete Fürbitten und Grußworte seiner deutschen Gemeinde aus und machte sich nach der Mittagsruhe auf den Weg, um etwas von den ausgestellten Bildern mitzubekommen, wenn er auch für eine Führung zu spät dran war. Viele interessante Leute waren im Ort unterwegs, nicht nur die Künstler, die den Interessierten an diesem Tag Rede und Antwort standen, hoben sich äußerlich von der Norm ab; am schrillsten waren die kunstbeflissenen Lebenskünstler, die sich vom bunten Fest durch die Straßen treiben ließen.
Schließlich betrat Ansgar die Galerie des Initiators der Kunsttage und wie sich herausstellte, handelte es sich um Harry.
„Hi!“, rief er. „Der Pasteur von Duitsland will auch mal gucken. Suchen Sie etwas für Ihre Kirche oder für Ihr Wohnzimmer?“
Ansgar lächelte verlegen. „Weder noch.“, gab er ehrlich zu. „Ich wollte mich nur umsehen. Aber man kann ja nie wissen, vielleicht finde ich am Ende doch etwas, dass sowohl mir als auch meinem schmalen Geldbeutel so sehr gefällt, dass ich es einfach nicht hier lassen kann.“
Harry schlug ihm anerkennend auf die Schulter und lachte schallend. „So ist es gut.“, sagte er. „Die Kirche hat die Kunst schon immer unterstützt, wenn auch oft schamlos ausgebeutet.“
„Ich habe nicht die Absicht, Sie auszubeuten.“, erwiderte Ansgar sauertöpfisch.
„Nee, nee.“, erklärte Harry versöhnlich. „das waren ja auch die Katholiken. Die Protestanten machen so etwas nicht, die verzichten lieber ganz auf Bilder.“
„Das können Sie aber so nicht sagen.“
„Ich kann alles sagen.“, erwiderte Harry, „und zwar ganz genau so wie ich will, egal ob mit Worten, Farben oder Materialien. Ich habe die Macht, alles zu nutzen, was die Erde hergibt, um mich auszudrücken. Und wenn Gott das nicht passt, soll er doch meckern. Ich mache trotzdem, was ich will und er kann mich nicht daran hindern.“
„Eines Tages wird er das.“, erwiderte Ansgar und verließ eilig das offene Atelier. Dieser Harry entsprach nicht seinen Vorstellungen von einer lohnenden Bekanntschaft.
Der Gottesdienst am Sonntag Morgen war genauso steif und langweilig, wie Ansgar ihn eine Woche zuvor erlebt hatte. Doch beim Abschiedsessen im Pfarrhaus erzählte ihm die spröde Pfarrersfrau noch eine atemberaubende Geschichte: „Das Mädchen, für das Sie gebetet haben, also Anneke, die ist ja nicht einfach nur zu der anderen Kirche gewechselt. Dort hat sie eine Weile mitgemacht, weil sie sich von der Gemeinde mehr Zuspruch erhoffte, doch sie muss wohl tiefergehende Probleme gehabt haben. Vor etwa einem dreiviertel Jahr erlitt sie einen Zusammenbruch und bekam sofort einen Therapieplatz. Danach hat sie auch die Herstelde Hervormde Kerk verlassen und sich mit dem hiesigen Künstler Harry angefreundet. Ihre Eltern waren so unglücklich, aber sie konnten sie nicht davon abbringen, dem Maler Modell zu sitzen und zwar als Akt. Auf den Bildern ist allerdings weder ihr Körper noch ihr Gesicht zu erkennen, um nicht zu sagen, man sieht überhaupt keinen Menschen, nur Gekleckse.“
Ansgar war froh, als er das malerische Dorf und seine seltsamen Bewohner endlich verlassen konnte, zumal die Fischersfrau an der Stadtmauer ihm zum Abschied noch einen Eimer Scheiße hinterher warf.
Zwei Wochen später sah er sich ein Kulturmagazin im Fernsehen an: Harry war über Nacht berühmt geworden mit den Action-Painting-Ergüssen, die an der Goedereeder Mühle gehangen hatten. Die vier Stoffbahnen nannten sich „Sympathie fort he Devil“.
Er schüttelte den Kopf, ging schlafen und hatte in der Nacht seltsame und bedrohliche Träume.
Als er am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug und in der Rubrik „Aus aller Welt“ schmökerte, verschlug es ihm den Atem. Dort stand:
„GRAUSIGER FUND IN SÜDHOLLAND
Rotterdam. Im südholländischen Dorf Goedereede hat ein Mörder alter Schule zugeschlagen. Am zentralen Müll-Sammelplatz hatte die Müllabfuhr einen großen Beutel stehen lassen, weil er nicht ordnungsgemäß entsorgt worden war. Es war nicht nachvollziehbar, wem der Müll gehörte und ein bestialischer Gestank rief die Behörden auf den Plan. In der Tüte befanden sich ein Fleischwolf und ein Entsafter, die völlig verschmutzt entsorgt worden waren. Sowohl am Fleischwolf, als auch am Entsafter klebten Fleischreste. Da sich am Fleischwolf etwas festgesetzt hatte, das Ähnlichkeit mit einem menschlichen Fingernagel hatte, ließen die Behörden das Material analysieren: Es war menschlich und ein DNA-Abgleich ergab eine hundertprozentige Übereinstimmung mit einer seit etwa einem Monat vermissten Person. Identität und Motive des Täters sind bis jetzt unklar.“
Augenblicklich erbrach sich Ansgar über der Zeitung. Er wusste schon, warum er noch nie außerordentliche Sympathien für den Teufel empfunden hatte. Angesichts solcher Perversionen erschien ihm das Kacken auf Leinwände geradezu poetisch. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Polizei.
ENDE SCHLUSS II
Plötzlich rumpelte es im Gebälk. Die rhythmischen Bewegungen verlangsamten sich, spitze Schreie waren zu hören und schwarzes Blut tropfte durch die Luke auf den alten Holzboden, dessen trockene Poren die Flüssigkeit umgehend aufsaugten. Aufgeregte Menschen mit kreidebleichen Gesichtern stolperten die Treppe herunter und stürzten aus der Mühle. Es dauerte eine ganze Weile bis jemand in der Lage war, Ansgar zu erklären, was eigentlich passiert war: Aus bislang unbekannten Gründen war ein junger Mann ganz oben, wo es bekanntermaßen sehr gefährlich war und wo eigentlich niemand Unbefugtes hingehen durfte, von einem Zahnrad erfasst worden und in die Antriebswelle gezogen worden.
„Ist er sehr schwer verletzt?“, fragte Ansgar entsetzt, der das herab tropfende Blut bemerkt hatte.
„Er ist tot.“, erwiderte sein Auskunftgeber.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, statt dessen arbeitete er an einem Fürbittengebet, das er dem sprachbegabten Gemeindeglied morgen zur Übersetzung vorlegen wollte.
Das Kunstspektakel am Samstag wurde abgesagt. Überall im Ort war Polizei unterwegs und Ansgar wäre am liebsten direkt nach Hause gefahren. Anstelle eines weiteren Carillon-Konzertes spielte der Künstler geistliche Lieder zu Tod und Ewigkeit und das auch nur eine Viertelstunde.
Es war ein wunderbarer, sonniger Samstag, und Ansgar saß auf der Terrasse hinter dem Haus, direkt an der Gracht, trank Tee, arbeitete an seinem Grußwort, las und blinzelte von Zeit zu Zeit in die Sonne. Abends packte er seinen Koffer, denn er hatte vor, direkt im Anschluss an das dreistündige Gottesdienst-Ritual, bestehend aus Kirchenbesuch, Kirchkaffee und Einladung zum Abschieds-Mittagessen im Pfarrhaus, nach Hause zu fahren. Er ging früh schlafen und verhängte das Fenster mit einem Duschtuch, weil ihn das Licht der Straßenlaterne störte.
Als er sich am Sonntag Morgen noch einen Spaziergang gönnte, um den Kopf vor dem Gottesdienst frei zu bekommen, begegneten ihm äußerst traditionell herausgeputzte Gestalten, die ebenfalls zum Gottesdienst unterwegs waren, von denen ihm jedoch in der vorangegangenen Woche niemand begegnet war. Zum Teil waren sie in so etwas Ähnliches wie historische Trachten gekleidet und fuhren mit ernsten Gesichtern in Pferdekutschen vor, so dass Ansgar sich an die in Nordamerika niedergelassenen Amish erinnert fühlte. Vermutlich waren das die Fundamentalisten, die sich von den Reformierten abgespalten hatten. Ihre Gesichter erschienen ihm verbittert, beinahe zornig.
Er suchte schließlich die Kirche auf, besprach sich in der Sakristei mit dem Pfarrer und den Lektoren, sprach mit allen ein gemeinsames Gebet und betrat dann die gefüllte Kirche. Als er in die Gesichter der Gemeinde sah, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Hatte er ihre Augen in den ersten Tagen wie Röntgengeräte empfunden, die versuchten, seine Gedanken zu lesen, wirkten die Gesichter heute Morgen hart und kalt, wie zu Masken erstarrt. Er überbrachte nach der Eröffnung die Grußworte seiner Gemeinde, dann rauschte der Gottesdienst an ihm vorbei, nicht einmal die Predigt bekam er mit.
Als die Fürbitten an der Reihe waren, trat er mit dem Übersetzer ans Lesepult. Nach ein paar üblichen Bitten sprach er: „...und wir bitten dich, Herr, für die Seele des jungen Mannes, der dem Unglück in der Mühle zum Opfer gefallen ist, nimm seine Seele auf und schenke ihm Frieden. Ganz besonders aber bitten wir dich, jene zu trösten und in ihrer Trauer nicht verzweifeln zu lassen, die der Verlust persönlich getroffen hat: seine Angehörigen, seine Freunde und alle, die ihn lieben. Amen.“
Niemand senkte den Blick, kein trauriges Auge war zu sehen, statt dessen Entschlossenheit, klare, graue Augenpaare richteten sich stur geradeaus, ein paar große, braune Augen starrten geradezu zufrieden. Ansgar stellten sich die Nackenhaare auf. Was war nur los mit den Leuten hier? Er wollte es lieber gar nicht wissen. Beim Kirchcafé schienen ihm die Gemeindeglieder eher aus dem Weg zu gehen, doch das war ihm nur recht. Als sein Mentor ihn beim Mittagessen um seine Meinung zur Predigt fragte, entschuldigte er sich für seine unzureichenden Sprachkenntnisse und seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit aufgrund der jüngsten Ereignisse.
Er bedankte sich in aller Form, verabschiedete sich höflich, holte seinen Koffer und verließ die Pieterstraat mit ihren schmalgiebeligen Fischerhäusern. Auf der Kreuzung von Pieterstraat und Kerkstraat wäre er beinahe in die Hinterlassenschaft der Kutschpferde getreten. Ob die Restauriert Reformierten sie wohl absichtlich dort defilieren lassen hatten? Die Symbolik stand der Eimer leerenden Fischerfrau an der Dorfmauer in nichts nach. Auf dem Weg zum Parkplatz hörte er ein letztes Mal die Carillons, sie spielten „Oh komm, du Geist der Wahrheit“.
„Ja, Komm.“, dachte er und stieg wie ein Flüchtender in sein Auto, dem die Fischerin noch wütend einen Eimer Scheiße hinterher warf. Als er dreieinhalb Stunden später wieder zu Hause ankam, war er mehr als erleichtert.
Goedereede war bereits in seiner Erinnerung verblasst wie ein verstörender Film, den man besser vergaß, da las er eines Morgens auf der Titelseite seiner Tageszeitung unter der Rubrik „Die schräge Meldung“ folgenden Text:
Rotterdam. In einem südholländischen Dorf nahe der Küste hat die Polizei einen brutalen Mord aufgeklärt. Ein junger Mann, der in die Zahnräder der Mechanik einer traditionellen Windmühle geraten und dabei gestorben war, war das Opfer eines Mordanschlages. Der Täter war der Vater eines Mädchens, das der Reformierten Kirche angehörte, das Opfer war Mitglied der streng gläubigeren Separatisten, der Restauriert Reformierten Kirche.
Da die beiden jungen Menschen sich ineinander verliebt hatten, schmiedeten sie Heiratspläne. Dies wollte der Vater des Mädchens um jeden Preis verhindern. Doch die Tochter strafte ihn doppelt für seine Gräueltat. Sie konvertierte zur Restauriert Reformierten Kirche und stürzte sich dann vom Turm der Reformierten Kirche. In einem Abschiedsbrief bat sie darum, neben ihrem Verlobten beigesetzt zu werden. Der Vater stellte sich nach dem Freitod der Tochter der Polizei. Romeo und Julia auf dem Dorfe.
ENDE Schluss I
GOEDEREEDE – EIN KURZKRIMI ZM WEITERSPINNEN – SCHLUSS II – FREI NACH HELENE TISCHER UND BIRGIT DIE STARKE
Nachdem er sich in der Mühle gebührend lange aufgehalten und seine gähnende Langeweile erfolgreich verborgen hatte, ging er wieder nach draußen und betrachtete ein letztes Mal die Schlacht der Farben auf den Mühlenflügeln. Trotz der Akzente in grellem Gelb, leuchtendem Rot und schillerndem Blau dominierten Erdtöne, vor allem rötliche. Eine entsetzliche Geschmacklosigkeit, befand er und machte sich auf den Weg zum Marktplatz, wo verschiedene Gruppen Live-Musik zum Besten gaben. Er setzte sich in die Gaststätte, die Biere eines regionalen Brauhauses anbot und bestellte sich ein Sandwich dazu, was sich allerdings als vollwertige Mahlzeit entpuppte, war es doch von epischer Breite, umfangreich belegt und dreistöckig. Dazu gab es frische Pommes Frites, schließlich war er in Holland. Vor der Bühne beobachtete er einen exzentrischen Tänzer, in dem er den „Harry“ erkannte, der das Aquarell in seiner Wohnung aufgestellt hatte. Er trug betont extravagante Kleidung und wirkte auf Ansgar wie das fleischgewordene Klischee eines Bohemiens. Er war sichtlich betrunken, doch war es wohl nicht nur seinem erhöhten Alkoholspiegel sondern auch seinem ausgeprägten Exhibitionismus geschuldet, dass er sich derartig extrovertiert vor der Bühne gebärdete. Ansgar beeilte sich, sein sogenanntes Sandwich zu verdrücken und machte sich auf den Heimweg.
Am Samstag Vormittag erhielt er einen kurzen Besuch des Pfarrers. „Könnten Sie bitte am Sonntag in Ihr Fürbittengebet eine junge Frau einschließen, die seit einigen Tagen vermisst wird?“, bat ihn sein künftiger Kollege. „Sie heißt Anneke van Maas und war bis vor einem Jahr Mitglied unserer Gemeinde. Sie hat sich dann der Herstelde Hervormde Kerk angeschlossen und war gar nicht mehr in unserer Gemeinde präsent. Nun ist sie spurlos verschwunden. Wir vermissen Sie bereits seit über zwei Wochen.“
Ansgar tat, wie ihm geheißen, arbeitete Fürbitten und Grußworte seiner deutschen Gemeinde aus und machte sich nach der Mittagsruhe auf den Weg, um etwas von den ausgestellten Bildern mitzubekommen, wenn er auch für eine Führung zu spät dran war. Viele interessante Leute waren im Ort unterwegs, nicht nur die Künstler, die den Interessierten an diesem Tag Rede und Antwort standen, hoben sich äußerlich von der Norm ab; am schrillsten waren die kunstbeflissenen Lebenskünstler, die sich vom bunten Fest durch die Straßen treiben ließen.
Schließlich betrat Ansgar die Galerie des Initiators der Kunsttage und wie sich herausstellte, handelte es sich um Harry.
„Hi!“, rief er. „Der Pasteur von Duitsland will auch mal gucken. Suchen Sie etwas für Ihre Kirche oder für Ihr Wohnzimmer?“
Ansgar lächelte verlegen. „Weder noch.“, gab er ehrlich zu. „Ich wollte mich nur umsehen. Aber man kann ja nie wissen, vielleicht finde ich am Ende doch etwas, dass sowohl mir als auch meinem schmalen Geldbeutel so sehr gefällt, dass ich es einfach nicht hier lassen kann.“
Harry schlug ihm anerkennend auf die Schulter und lachte schallend. „So ist es gut.“, sagte er. „Die Kirche hat die Kunst schon immer unterstützt, wenn auch oft schamlos ausgebeutet.“
„Ich habe nicht die Absicht, Sie auszubeuten.“, erwiderte Ansgar sauertöpfisch.
„Nee, nee.“, erklärte Harry versöhnlich. „das waren ja auch die Katholiken. Die Protestanten machen so etwas nicht, die verzichten lieber ganz auf Bilder.“
„Das können Sie aber so nicht sagen.“
„Ich kann alles sagen.“, erwiderte Harry, „und zwar ganz genau so wie ich will, egal ob mit Worten, Farben oder Materialien. Ich habe die Macht, alles zu nutzen, was die Erde hergibt, um mich auszudrücken. Und wenn Gott das nicht passt, soll er doch meckern. Ich mache trotzdem, was ich will und er kann mich nicht daran hindern.“
„Eines Tages wird er das.“, erwiderte Ansgar und verließ eilig das offene Atelier. Dieser Harry entsprach nicht seinen Vorstellungen von einer lohnenden Bekanntschaft.
Der Gottesdienst am Sonntag Morgen war genauso steif und langweilig, wie Ansgar ihn eine Woche zuvor erlebt hatte. Doch beim Abschiedsessen im Pfarrhaus erzählte ihm die spröde Pfarrersfrau noch eine atemberaubende Geschichte: „Das Mädchen, für das Sie gebetet haben, also Anneke, die ist ja nicht einfach nur zu der anderen Kirche gewechselt. Dort hat sie eine Weile mitgemacht, weil sie sich von der Gemeinde mehr Zuspruch erhoffte, doch sie muss wohl tiefergehende Probleme gehabt haben. Vor etwa einem dreiviertel Jahr erlitt sie einen Zusammenbruch und bekam sofort einen Therapieplatz. Danach hat sie auch die Herstelde Hervormde Kerk verlassen und sich mit dem hiesigen Künstler Harry angefreundet. Ihre Eltern waren so unglücklich, aber sie konnten sie nicht davon abbringen, dem Maler Modell zu sitzen und zwar als Akt. Auf den Bildern ist allerdings weder ihr Körper noch ihr Gesicht zu erkennen, um nicht zu sagen, man sieht überhaupt keinen Menschen, nur Gekleckse.“
Ansgar war froh, als er das malerische Dorf und seine seltsamen Bewohner endlich verlassen konnte, zumal die Fischersfrau an der Stadtmauer ihm zum Abschied noch einen Eimer Scheiße hinterher warf.
Zwei Wochen später sah er sich ein Kulturmagazin im Fernsehen an: Harry war über Nacht berühmt geworden mit den Action-Painting-Ergüssen, die an der Goedereeder Mühle gehangen hatten. Die vier Stoffbahnen nannten sich „Sympathie fort he Devil“.
Er schüttelte den Kopf, ging schlafen und hatte in der Nacht seltsame und bedrohliche Träume.
Als er am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug und in der Rubrik „Aus aller Welt“ schmökerte, verschlug es ihm den Atem. Dort stand:
„GRAUSIGER FUND IN SÜDHOLLAND
Rotterdam. Im südholländischen Dorf Goedereede hat ein Mörder alter Schule zugeschlagen. Am zentralen Müll-Sammelplatz hatte die Müllabfuhr einen großen Beutel stehen lassen, weil er nicht ordnungsgemäß entsorgt worden war. Es war nicht nachvollziehbar, wem der Müll gehörte und ein bestialischer Gestank rief die Behörden auf den Plan. In der Tüte befanden sich ein Fleischwolf und ein Entsafter, die völlig verschmutzt entsorgt worden waren. Sowohl am Fleischwolf, als auch am Entsafter klebten Fleischreste. Da sich am Fleischwolf etwas festgesetzt hatte, das Ähnlichkeit mit einem menschlichen Fingernagel hatte, ließen die Behörden das Material analysieren: Es war menschlich und ein DNA-Abgleich ergab eine hundertprozentige Übereinstimmung mit einer seit etwa einem Monat vermissten Person. Identität und Motive des Täters sind bis jetzt unklar.“
Augenblicklich erbrach sich Ansgar über der Zeitung. Er wusste schon, warum er noch nie außerordentliche Sympathien für den Teufel empfunden hatte. Angesichts solcher Perversionen erschien ihm das Kacken auf Leinwände geradezu poetisch. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Polizei.
ENDE SCHLUSS II
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