Freitag, 26. August 2016
Goedereede – ein Kurz-Krimi zum Weiterspinnen – erster Teil
Als Ansgar, der im sechsten Semester Evangelische Theologie in Münster studierte, nicht mehr überhören konnte, dass sich nichts besser in der Vita eines Theologen machte, als ein Praktikum im Ausland, geriet er in arge Bedrängnis. Er war ein Mensch, der alles Fremde fürchtete, weshalb er als Westfale sein Studium an der kirchlichen Hochschule in Bethel begonnen hatte und erst zur zweiten Hälfte ins nicht ganz so entfernte Münster gewechselt hatte. Ihm graute vor einem Aufenthalt in England mit dem Linksverkehr, dem tot gekochten Essen, der allgegenwärtigen Armut und der schrägen Subkultur. Noch schlimmer wäre Rom gewesen: Das Herz des Katholizismus, Hitze, Staub und Urin in der sengenden, lärmenden Steinwüste, eine Sprache, von der er nicht ein Wort verstand und ein Volk, dass seines Wissens durch und durch sexualisiert war. Wie groß war seine Erleichterung, als sich die Möglichkeit eines achttägigen Praktikums in Südholland an der Grenze zu Zeeland ergab, etwa fünfzig Kilometer südwestlich von Rotterdam.
Holland war nicht so weit weg, die Sprache konnte man zumindest zur Hälfte verstehen und die kulturellen Unterschiede waren irrelevant, auf jeden Fall geringer als die zwischen Ostwestfalen und Bayern.
Es war die reformierte Gemeinde, die „Gereformeerde Kerk“ von Goedereede, die ihn erwartete. Für die Anfahrt hatte er sich ein Auto mit Navigationsgerät geliehen, da sich eine Anreise per öffentlichem Nahverkehr als zu kompliziert erwies.
Die Gemeinde hatte sogar eine Wohnung für ihn angemietet, ihn aber gleich darauf hingewiesen, dass er auf einem öffentlichen Parkplatz sein Auto abstellen müsse, da das Gässchen, in dem er wohne, für Autoverkehr zu schmal sei.
Nach etwa dreieinhalb Stunden Fahrt erreichte er das Dorf. Dort, wo die historische Bebauung begann, wurde der Besucher von der Skulptur einer Fischerfrau begrüßt, die einen Eimer leerte. Auf Ansgar wirkte es so, als würde sie die Eindringlinge fortjagen, indem sie den Inhalt des Nachttopfes über ihnen ausleerte. Aber es war ja nur eine Skulptur und der Anblick, der sich ihm nun bot, war wahrhaft pittoresk. Eine stillgelegte Gracht, an deren Mauern Fischernetze drapiert waren, jahrhundertealte, eng aneinander gebaute Häuser mit schmalen Fronten, spitzen Dächern, ein Giebel war schöner als der andere – im Schnee musste es aussehen wie das Bild auf einem Adventskalender. Am Geländer der kleinen Brücke, die über die Gracht führte, hing ein Banner mit der Aufschrift „Kunstdagen“. Vom haubenlosen Kirchturm, der früher als Leuchtfeuer-Plattform zur Orientierung der Seefahrer gedient hatte, klang ein helles Glockenspiel; Carillons, wie Ansgar vermutete. Irritiert war er nur, weil er das weltliche Stück „Der Entertainer“ zu erkennen glaubte.
Nur noch ein paar Schritte und er stand vor dem Haus in der Pieterstraat, in dem ihn schon ein Vertreter des Gemeinderates erwartete. Das Haus war schmaler als das Arbeitszimmer seines letzten Mentors, die Fassade war hellgrau gestrichen, die Fenster und die Haustür weiß und dunkelgrau abgesetzt. Vor vielen Häusern standen Bänke oder Bistro-Tischchen mit Stühlen, die zum Verweilen einluden. Direkt gegenüber befand sich dankenswerterweise ein traditionelles Bäckerei-Geschäft und auch bis zur Kirche waren es nur ein paar Schritte.
Zum Abendessen war er im Pfarrhaus eingeladen – eine einfache Brotmahlzeit mit Früchtetee. Der Pfarrer machte einen strengen und eingefahrenen Eindruck auf ihn, sprach jedoch hervorragend Deutsch, genau wie seine Frau, die zwar auf den ersten Blick einen ganz gewöhnlichen Eindruck auf ihn machte, lässig gekleidet und mit praktischer Kurzhaarfrisur, aber sich dann doch immerzu betont sittsam gebärdete wie ein schüchterner, altmodischer Backfisch. Der Abend war furchtbar anstrengend, denn er war noch müde von der vorangegangenen Woche und der Anreise. Nach den wegen der Höflichkeit erforderlichen zwei Stunden verabschiedete er sich und ging in seine vorübergehende Dienstwohnung.
Obwohl ein Mann der Kirche, fühlte er sich dennoch im Schlaf gestört von ständigen Glockenschlägen und er musste doch am nächsten Morgen pünktlich und ordentlich zum Gottesdienst erscheinen.
Wie eine wehrhafte Festung wirkte die Kirche, die von einer doppelten Mauer umgeben war. Als ganz besonders ungewöhnlich erwies sich die freie Fläche zwischen Turm und Hauptgebäude, was möglicherweise der Tatsache geschuldet war, dass der Turm nicht ans Westwerk sondern an die Apsis grenzte. Von innen wirkte die Kirche so grundanständig, schlicht und reizlos wie die Pfarrersfrau von außen. Schön waren lediglich die großen Fenster, durch die das Morgenlicht flutete wie eine paradiesische Dusche. Die Orgel hatte einen grandiosen Klang, aber der schmucklose Raum mit nur einem modernen, mehrteiligen Altarbild war vollgestopft mit klobigen Kirchenbänken aus Eichenimitat. Eine völlig überdimensionierte Kanzel schwebte direkt über dem Altar auf der Mittelachse und nicht, wie in seiner Heimat üblich, bescheiden an der Seite. Sicher hatte dies die theologische Bedeutung, das Wort in den Mittelpunkt des geistlichen Lebens zu stellen.
Der Pfarrer predigte mit einem gewaltigen Donner in der Stimme über die Taufe Jesu und als der niederländische Satz: „Jesus was van Johannes gedoopt“.“ über seine Lippen kam, konnte Ansgar sich nur noch unter größter Anstrengung ein Lachen verkneifen. Evangelium ungültig, Jesus war gedopt, Täter Johannes erhält Höchststrafe: Enthauptung; Betrüger Jesus ebenfalls: Kreuzigung. Ansgar biss sich weiterhin angestrengt auf die Lippen, denn niemand in diesen Reihen machte den Eindruck auf ihn, als wenn er Humor hätte.
Zum Mittagessen war er diesmal bei der Familie des Küsters eingeladen, der die Aufgabe wie in so vielen deutschen Gemeinden auch, überwiegend ehrenamtlich und nebenberuflich wahrnahm. Das Essen war etwas entspannter als im Pfarrhaus, weil es hier vor allem um niederschwellige und nicht theologische Themen ging.
Als er am Nachmittag im Ort und etwas außerhalb spazieren ging, wurde ihm aber klar, dass die Menschen, die eng mit der Gemeinde verbunden waren, sich deutlich von den anderen Bewohnern unterschieden, die ein ähnlich gemischtes Bild boten wie jedes deutsche Dorf an der Peripherie einer Großstadt.
Am Montag wurde er vom einen zum anderen gereicht, so dass er am Abend gar nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Am Dienstag Nachmittag hatte er zum ersten Mal das Gefühl, ein wenig hinter die Kulissen zu blicken, denn nach einem Tratsch, den er am Rande mitbekommen und zur Hälfte verstanden hatte, klärte Willem, ein Gemeinderatsmitglied ihn auf, dass es wieder Ärger mit der anderen protestantischen Gemeinde im Ort gegeben hatte, die sich von der Gerefomeerde Kerk abgespalten hatten, weil ihnen hier alles zu flatterhaft-liberal und nicht im Sinne des wahren Christentums war. Sie nannten sich Herstelde Hervormde Kerk, was soviel hieß wie Restauriert Reformierte Kirche. Ihr Gottesdienst- und Gemeinde-Zentrum war in einer alten Scheune untergebracht und nannte sich De Levensbronn – der Lebensbrunnen. Diese Bewegung hatte wohl die ganzen Niederlande vor gar nicht allzu langer Zeit überrollt und auch vor Goedereede nicht halt gemacht.
„Protestantse Taliban“, unkte Willem. Ansgar konnte sich gar nicht vorstellen, dass es tatsächlich heute noch evangelische Christen gab, denen diese calvinistisch-lustfeindlich anmutenden Protestanten nicht fromm genug waren.
Als er zu seiner vorübergehenden Dienstwohnung kam, blickte er konsterniert ins Wohnzimmerfenster: Ein überdimensionales Aquarell auf einer wuchtigen Holzstaffelei stand plötzlich zwischen Fenster und Esstisch. Es handelte sich um unspektakuläre Landschaftsmalerei wie aus einem VHS-Kurs, aber daneben lag ein Schild mit einer stolzen Preisvorstellung: 800 €. Stand er vor der falschen Tür oder war gar in die falsche Straße abgebogen? Wie zum Hohn klimperten die Carillons den Entertainer. Er drehte sich um, aber da war die Bäckerei, er war also richtig. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und stellte verblüfft fest, dass er nicht abgeschlossen hatte. Plötzlich stand ein langhaariger Weißbart vor ihm und grinste. „Hi“, sagte er. „Ik ben Harry. Bist du de Pasteur van Duitsland?“
Die wilde Mischung aus Englisch, Niederländisch, Deutsch und Französisch verwirrte Ansgar vollends.
„Ansgar Heidenreich. Ja, ich mache hier ein Gemeindepraktikum, aber Pastor bin ich noch nicht.“
„Ah, Student?“
„Ja, genau.“
Nun erwies sich Harry als des Deutschen ziemlich mächtig, denn er erklärte: „Ich hab nur das Bild gebracht, wegen die Kunstdagen. Bleibt eine Woche hier.“
„Ach so, ja gut, kein Problem.“
Harry verabschiedete sich, er müsse weiter, sagte er, noch mehr Bilder verteilen.
Der Abend war kühl, windig und regnerisch.Ansgar streifte einen dicken Wollpullover über und machte es sich in dem über dreihundert Jahre alten, frisch renovierten Häuschen gemütlich. Er begann sich schon an das ständige Schlagen der Turmuhr zu gewöhnen und schlief zum ersten Mal tief und fest.
Am Mittwoch bekam er eine Führung über zwei Friedhöfe auf der anderen Seite des stillgelegten Kanals: Es gab einen großen Gemeinde-Friedhof, auf dem sich auch das Grab eines kanadischen Soldaten sowie ein Gedenkstein für einen amerikanischen Soldaten befand, dessen sterbliche Überreste lange nach dem Krieg exhumiert und in die USA überführt worden waren. Außerdem gab es einen kleinen jüdischen Friedhof, der nur noch aus der mit Gras bewachsenen Fläche, auf der sich einmal unzählige Gräber befunden hatten, bestand. Umgeben war er von weißen Beton-Pfählen und nur der Torbogen mit einer hebräischen Inschrift sowie eine Gedenktafel mit Fotos vom Friedhof, auf dem noch die dicht gedrängten Grabsteine standen, erinnerten daran, dass es hier im Dorf einmal jüdisches Leben gegeben hatte, wenn auch ausgegrenzt und auf wenige Quadratmeter verbannt, wie überall in Europa.
Am Donnerstag wurde er zur Besichtigung des Turmmuseums eingeladen und durfte dem Künstler, der die Carillons von Hand bediente, beim Musizieren zusehen. Diesmal gab er ein Konzert von Barock bis Rock beziehungsweise von Bach bis zu den Beatles. Normalerweise, so erklärte er, würden die Glocken von einem Computerprogramm bedient, aber an vielen Samstagen und während der Kunsttage auch donnerstags, gab er ein Konzert. Er schlug mit Händen und Füßen auf die hölzernen Hebel ein in einer Geschwindigkeit, die Ansgar schier fassungslos machte.
Ganz oben auf der Plattform des Turms konnte man bis zum Meer blicken, sah die offene See, Rotterdam und das Binnenmeer, das zwischen Goeree und der nächsten ehemaligen Insel Flakee lag, die schon an Zeeland grenzte. Er machte auch das kleine, graue Haus in der Pieterstraat ausfindig und als er steil nach unten blickte, stellte er sich vor, wie es sich wohl anfühlen mochte, über die Brüstung zu springen, zwei Sekunden durch die Luft zu segeln und dann zersplitternd und zerberstend den Boden zu erreichen. Ob wohl schon einmal jemand gesprungen war?
Am Abend musste er zur Bibelstunde im Gemeindesaal eine Andacht halten. Er hatte etwas Unverfängliches gewählt, die Seligpreisungen. Das freute die Gemeinde ganz besonders, weil sie zur Zeit unter anderem zu diesem Text Textilbilder in Mosaik-Optik und Stepptechnik in der Kirche ausstellten. Ansgar fand, dass sie aussahen wie Tagesdecken Russland-deutscher Großmütter. Ein sprachbegabtes Gemeindeglied übersetzte die Andacht und gab auch gewissenhaft jeden Diskussionsbeitrag an Ansgar weiter.
Freitag und Samstag gab man ihm frei. Er sollte Zeit haben, ein Fürbittengebet und einen Gruß aus seiner Heimatgemeinde für den Gottesdienst am Sonntag vorzubereiten und auch einmal ans Meer zu kommen, sowie das Spektakel um die Kunsttage nicht zu verpassen, die ein örtlicher Galerist namens Harry jährlich organisierte.
Ansgar liebte das Meer nicht besonders, aber da man ihm extra ein Fahrrad zur Verfügung gestellt hatte, radelte er pflichtschuldig an den nächsten Strand, ging mit den Füßen ins Wasser und sammelte ein paar Muscheln zum Beweis, dass er dort gewesen war.
Er gönnte sich ein kleines, regionales Weißbier direkt am Marktplatz, wo heute Live-Musik spielte und machte dann nach Einbruch der Dunkelheit einen kurzen Gang zur Windmühle, deren Flügel mit künstlerisch gestaltetem Segeltuch bespannt waren und die sich zügig im Wind drehten. Das Bauwerk wurde beleuchtet, was die vermeintlichen Kunstwerke noch grotesker erscheinen ließ als bei Tageslicht. „Eine einzige Action-Painting-Orgie“, dachte Ansgar. „Demnächst kacken sie auf Tücher und sagen, es sei Kunst.“
Die Mühle war geöffnet und Ansgar trat ein. Man hörte das Knarren der uralten, hölzernen Zahnräder, die vom kräftigen Wind in Bewegung gebracht wurden. Auch hier standen ein paar Gemälde auf Staffeleien herum. In den Fenstern waren ihm heute einige interessante Tusche- und Bleistift-Zeichnungen aufgefallen, auch ein, zwei farbenprächtige, abstrakte Gemälde, die ihn angesprochen hatten, sowie bearbeitete Fotografien. Aber hier in der Mühle stand nur das gleiche Zeug herum, was in Deutschland ständig in Banken, Sparkassen und Seniorenheimen ausgestellt wurde.

UND HIER KOMMT IHR INS SPIEL: WAS WIRD PASSIEREN? ICH BIN GESPANNT AUF EURE WENDUNGEN. MEIN SCHLUSS KOMMT NÄCHSTE WOCHE.

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