Freitag, 22. Juli 2016
Konfi-Camp – abgeschlossener Kurzkrimi
Voller Tatendrang und Vorfreude huschte Ruben leichtfüßig durch die Zeile der Bettenhäuser des Camp-Geländes. Seine Bedenken bezüglich des Platzes hatten sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden in Luft aufgelöst. Auch wenn der Platz am Frauensee in der Nähe von Berlin wie das Camp in einem amerikanischen Horrorfilm aussah, gemischt mit nostalgischem Ost-Charme, so trug doch die Weitläufigkeit des Geländes sehr zur allgemeinen Entspannung bei. Aber hier in Heino, wo auf Niederländisch platzsparend, praktische Weise alle Konfis und Mitarbeiter zusammenrücken mussten, kam es zu so viel mehr besonderen Begegnungen, und jetzt hatte er sich mit einer Gruppe von Teamern aus den verschiedenen Kirchengemeinden zum nächtlichen Bad im See verabredet. Das war zwar eigentlich vollkommen verboten, weil keine Badeaufsicht anwesend war, aber wer nie gegen irgendeine Regel verstieß, an dem ging das wahre Leben vorbei.
Er joggte an den Bahnschienen entlang, bis er schließlich an der Schranke ankam, die gerade dabei war, sich zu schließen.
„Scheiß der Hund drauf.“, dachte er, „Züge kommen frühestens eine Minute, nachdem die Schranke unten ist.“
Er legte eine passable Hockwende über die Schranke hin, hatte die nächste in Gedanken auch schon übersprungen, als ihn plötzlich etwas zu Boden riss. Er schlug hart mit dem Kopf auf und wie durch dichten Nebel nahm er in seiner Benommenheit wahr, wie der Zug sich unaufhaltsam näherte. Mit letzter Kraft rappelte er sich auf und warf sich über die Schranke, wenn auch nicht so elegant wie beim ersten Sprung. Schneidend und ratternd rauschte die Bahn an ihm vorbei und er musste sich einen Augenblick sammeln, bevor er wieder einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Er blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, dabei hätte er schwören können, dass ihn jemand gestoßen hatte. „Wahrscheinlich bin ich doch nur dumm gestolpert.“, murmelte er. Und weil er sich nicht ernsthaft verletzt fühlte, ging er weiter seinem ursprünglichen Ziel entgegen.
Er hörte sie schon planschen und kreischen: Vanessas unverkennbares Gekicher, die überlauten Aufprall- und Verdrängungsgeräusche, wenn Jan-Eric sich von der schwimmenden Insel ins Wasser plumpsen ließ und viele weitere fröhliche Stimmen, die er nicht eindeutig zuordnen konnte. Es waren vor allem die jungen, erwachsenen Mitarbeiter, die zum nächtlichen Badegaudi zusammenkamen, nichts wirklich Verbotenes, aber trotzdem geschah es im Geheimen, weil es von der Camp-Leitung nicht gern gesehen wurde.
Die Nacht war lau und das Wasser im See von der Hitze des Tages fast so warm wie in der Badewanne. Ruben stieß in der Dunkelheit mit jemandem zusammen. Im ersten Moment erschrak er, doch dann stellte er fest, dass es sich um Lilly handelte, die erst ein atemloses Sorry hauchte und dann verlegen kicherte. Er hatte das beflügelnde Gefühl, dass sie sich in den letzten Tagen tatsächlich nähergekommen waren, immer wenn sie sich auf dem Gelände begegneten, hielten sie ein belangloses Schwätzchen, scherzten und neckten sich gegenseitig. Und bei jedem Blick glänzten ihre Augen ein bisschen mehr, manchmal glaubte er sogar, eine zarte Rötung ihrer Wangen zu bemerken. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihre fast nackten Körper sich unter Wasser berührten, hatten sie doch täglich eine Gelegenheit gefunden, wenigstens eine Viertelstunde im See zu toben, aber das war im Tageslicht gewesen, zwischen lauter Konfis, unter den Blicken von Pfarrern und Jugendreferenten und im unschuldigen Licht der Sonne. In der Dunkelheit und der Exklusivität ihrer vertrauten Clique hatte dieser Moment eine ganz andere Qualität und er fühlte trotz des kühlen Wassers Hitze in sich aufsteigen. Allerdings wurde die Romanze bereits im Keim erstickt, als Marvin sich brüllend auf Lilly stürzte und sie wie ein Seeungeheuer umklammerte. Lilly kreischte und kicherte abwechselnd und plötzlich war Ruben sich seiner Sache gar nicht mehr so sicher. Immer, wenn Marvin auftauchte, schien sie nur noch Augen für ihn zu haben.
„Esst mehr Erbsen!“, rief Jan-Eric, „Dann könnt ihr nachts im Bio-Whirlpool baden.“
„Oh, Jan-Eric, du bist so eklig!“, keifte Vanessa. „Ich halte ab sofort zehn Meter Abstand. Deine Faulgase sind definitiv schlimmer als die Fenjala-Wolke der Haubentaucher im Hallendbad.“
Nach einer halben Stunde hatte das nächtliche Bad alle Beteiligten erheblich ausgekühlt. Sie zogen sich schlotternd an und liefen eilig zum Platz zurück, um sich wieder aufzuwärmen. Erst auf halben Weg des Viertelstündlichen Fußmarsches stellten sie fest, dass jemand fehlte.
„Wo ist eigentlich Marvin?“, japste Lilly.
„Brauchte vielleicht einen Moment Ruhe.“, beruhigte Ruben sie und hoffte, die Erklärung würde ausreichen. Doch Lilly wurde unruhig.
„Wir müssen zurück und Marvin suchen, vielleicht ist ihm was passiert.“
„Was soll dem denn in dem Planschbecken passiert sein?“, fragte Jan-Eric in rauem Ton. „Keiner kann ihm auf den Kopf gesprungen sein, er ist nicht besoffen und wilde Ungeheuer gibt es in dem See auch nicht.“
„Aber er hätte bestimmt gesagt, dass er noch bleiben will.“, beharrte Lilly auf ihrem Standpunkt. „Ich kann mich auch nicht erinnern, dass er beim Anziehen dabei war.“
„Bestimmt war er dabei.“, meinte Jan-Eric im Brustton der Überzeugung.
„Also ich gehe jetzt zurück und suche ihn.“, erklärte Lilly entschlossen.
„Ich komme mit.“, sagte Ruben und legte schützend seine Hand um Lillys Schultern, deren Körper sich augenblicklich anspannte. War das nun, weil sie die unerwartete Nähe erregte und verlegen machte oder weil sie sich vor ihm ekelte? Er wurde unsicher, ließ seinen Arm wie zufällig wieder herunter gleiten und ging mit angemessenem Abstand neben ihr zurück zum See. Diesmal war die Schranke oben, aber er wäre das Risiko von eben nicht noch einmal eingegangen, schon gar nicht gemeinsam mit Lilly. Ruben zog sich aus, um den See abzusuchen, Lilly erklärte: „Ich glaube nicht, dass wir ihn finden, wenn er irgendwo am Grund liegt, aber vielleicht hat er sich ans Ufer geschleppt. Ich laufe einmal um den See rum.“
Das tat sie, während Ruben trotz aller Sinnlosigkeit verzweifelt nach Marvin tauchte. Plötzlich hörte er seinen Namen über den See hallen. Er ortete Lillys Ruf und schwamm zu der Insel, auf der sich der Hochseilgarten befand. Er musste nicht lange suchen, folgte nur Lillys Wimmern, die am Ufer saß und den nassen, ausgekühlten und ohnmächtigen Marvin in den Armen hielt und ihn schüttelte, damit er aufwachte.
„Hast du ihn gerade aus dem Wasser gezogen?“, rief Ruben erschrocken.
„Nein“, antwortete Lilly weinend. „Er lag hier einfach, aber er wacht nicht auf. Ich fühle seinen Puls nicht.“
„Hast du die Atmung kontrolliert?“
„Nein. Aber ich habe auch nicht das Gefühl, dass er atmet.“
Ruben bat Lilly, Marvin auf den Boden zu legen. Dann presste er seine Hände auf Brust und Rippen seines Freundes und nahm ein leichtes sich Heben und Senken des Brustkorbes wahr.
„Er atmet noch.“, erklärte Ruben erleichtert. „Wir müssen ihn aufwärmen, vielleicht wacht er dann auch wieder auf. Am besten wir rubbeln und massieren ihn gründlich durch. Dann hilft es auch wenn du ihn fest umarmst und was von deiner Körperwärme abgibst und ich laufe in der Zwischenzeit auf die andere Seite und hole seine Klamotten, damit wir ihm etwas anziehen können.“
Ruben rannte zu der Stelle, an der sie sich umgezogen hatten, doch er konnte Marvins Kleidung nirgendwo finden. Dann würde er ihm eben seine Sachen leihen. Es war zwar kühl, aber er blieb ja in Bewegung. Als er zurückkam, war Marvin tatsächlich aufgewacht.
„Ein Glück.“, stieß er erleichtert hervor. „Alter, was ist passiert?“
„Ich glaube, jemand hat versucht, mich umzubringen.“, stammelte Marvin.
„Wie das?“
„Ich bin ein Stück von euch weg geschwommen in Richtung Insel, weil ich Bock hatte, einmal kurz durch den Seilgarten zu turnen, also hier unten, nicht da, wo man abstürzen kann. Auf einmal hing ich mit dem Fuß irgendwo fest, so als wären da Schlingpflanzen. Ich hab gegengehalten und normalerweise reißen solche Pflanzen dann ab, aber das, was sich da um meinen Fuß klammerte, wurde immer fester und zog mich runter. Als ich fast schon dachte, jetzt ist es vorbei, hat es mich los gelassen und ich bin an die Oberfläche gekommen, aber dann hat mich was von hinten angesprungen und wieder unter Wasser gedrückt. Ich habe euch noch von weitem gehört, aber ich konnte ja nicht um Hilfe schreien. Irgendwann hab ich dann instinktiv dem Typen in die Eier getreten. Er hat laut geschrien, nach Luft geschnappt und sich verpisst. Ich bin mit letzter Kraft an Land geschwommen und auf die Insel geklettert, das war super anstrengend, weil hier ja kein flaches Ufer ist. Und als ich endlich an Land war, war ich plötzlich weg.“
„Scheiße, das müssen wir Sabrina erzählen.“, sagte Lilly.
„Bist du bescheuert?“, wies Ruben sie zurecht. „Die rasiert uns die Eier und wir dürfen nie wieder ins Konfi-Camp mitfahren.“
„Kapierst du denn nicht, was hier los ist?“, schrie Lilly ihn an. „Hier läuft ein Killer rum. Wer weiß, wen er sich als Nächstes vorknöpft.“
„Scheiße, ja.“, erwiderte Ruben. „Ich glaube, als ich eben gekommen bin, hat auch einer versucht, mir das Licht auszublasen. Ich dachte zwischendurch, dass ich nur dumm gestolpert bin, aber jetzt glaube ich, da hat mich einer geschubst.“
„Wo denn?“, keuchte Marvin.
„Auf den Bahnschienen, als gerade ein Zug kam. Ich bin über die Schranke geklettert, weil sie gerade erst runter gegangen war und da hat mich irgendwas umgehauen - oder eben irgendwer.“
Als die Jugendreferentin hörte, was passiert war, reagierte sie zuerst schockiert, danach erleichtert, dass alle noch gesund und am Leben waren und schließlich verärgert, dass sie sich mutwillig in solche Gefahr gebracht hatten.
„Weil ihr so ehrlich seid, würde ich euch künftig nicht von weiteren Camps ausschließen, aber wir müssen das gründlich aufarbeiten und ich muss mich in Zukunft darauf verlassen können, dass so etwas nie wieder vorkommt. Keine Mutproben, keine nächtlichen Bäder ohne DLRG-Aufsicht. Ist das klar?“
„Ja natürlich.“, nuschelte Ruben betreten.
„Ich setze mich jetzt mit dem Leitungsteam in Verbindung und ich denke, wir werden die Polizei einschalten. Achtet darauf, dass keiner irgendwo allein hingeht und verlasst das Gelände nicht.“
Wim war jetzt wieder warm und trocken. Er stand hinter seinem Baum und wartete. Er würde sie schon noch erwischen, all diese selbstbewussten Jungs, die voll im Saft standen und den Mädchen wie selbstverständlich an die Wäsche gingen und ihre vollendete Unschuld schamlos beschmutzten. Seit Tagen beobachtete er sie und hatte seine Wahl getroffen, und er würde sein Ziel erreichen, genau wie im letzten Jahr an der Nordsee. Er war ein Racheengel, der Engel der Reinheit, der die Welt säuberte von allem Übel, so dass die Unschuld und Reinheit weiter erstrahlen konnte, schon hier und jetzt und nicht erst im Paradies.
Er musste nicht lange warten. Der Koloss, der mit seinen Blähungen geprotzt hatte, kam den Weg entlang. Er trug etwas bei sich. „Ja“, raunte Wim fast lautlos. „Komm du nur und versuch mich zu jagen. Du wirst schneller zum Gejagten, als du einen Furz lassen kannst.“
Als die Schranke sich schloss, schoss Wim das Adrenalin ins Blut. Er setzte zum Sprung an. Wie er erwartet hatte, sprang der Koloss über die Schranke. Er sprang blitzschnell hinterher, doch diesmal war er zu langsam, der Koloss hatte schon die zweite Schranke erreicht, als er beim verzweifelten Versuch, ihn zurück zu zerren umknickte und stürzte. Das Letzte, was er sah, waren die Lichter, das Letzte, was er hörte, das Rauschen des Zuges und das Signal. Dann stürzte er in die Ewigkeit.
Wim van Geldern wurde in den frühen Morgenstunden von der Gerichtsmedizin identifiziert. Ein unauffälliger, einsamer Mann mittleren Alters, der in einem winzigen Apartment in Zwolle gelebt hatte. Ein Niemand, ohne Angehörige, mit einem Job in einer Reinigungsfirma. Eine Mordserie in einem Camp an der Nordsee im vergangenen Jahr hatte sich zeitgleich mit seinem Jahresurlaub ereignet. Die Polizei schloss den Fall ab. Das Konfi-Camp ging für die meisten fröhlich zu Ende, nur die, die miterlebt hatten, was in der furchtbaren Nacht geschehen war, waren sich nicht mehr so sicher, ob sie jemals wieder an einem Konfi-Camp teilnehmen wollten.

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