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Freitag, 15. Juli 2016
Erntedankfest – abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 22:04h
„...Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.“
Gemessenen Schrittes verließ der Lektor das Lesepult und steuerte seinen Sitzplatz in der ersten Bankreihe an. Wie ein magisches Rad leuchtete die gewaltige Erntekrone über ihm, als er in die Vierung trat. In drei Wochen mühevoller Handarbeit hatten acht Landfrauen dieses groteske Kunstwerk aus Stroh, Draht,Trockenblumen und Schleifen hergestellt und nur mit Hilfe der freiwilligen Feuerwehr konnte das drei Meter hohe Schmuckstück von zwei Meter Durchmesser an dem stabilen Haken im Dachfirst aufgehängt werden. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Lektor Johann Witte einen Heiligenschein und manch einer glaubte sogar, das Flügelrauschen himmlischer Heerscharen zu vernehmen. Als die Sekunde vorüber war, stand die Erntekrone auf dem Boden und zierte Johann Wittes Kopf ganz unmittelbar, nur dass er selbst dieses Phänomen nicht wahrzunehmen schien, weil er bewusstlos am Boden lag.
„Genickbruch“, stellte die Gerichtsmedizinerin fest. „Die Kollegen von der KTU untersuchen gerade die Aufhängung. Vielleicht hat da jemand dran manipuliert.“
„Dann wäre es wohl Mord.“, bemerkte Kriminalhauptkommissar Stefan Keller.
„Oder fahrlässige Tötung.“, überlegte seine junge Kollegin Sabine Kerkenbrock. „Wie wahrscheinlich ist es, dass so ein Gerät genau im richtigen Moment im richtigen Winkel abstürzt? Es könnte doch auch sein, dass jemand nur mit einem Knalleffekt im Gottesdienst rumschocken wollte und gar nicht damit gerechnet hat, dass die Vierung durchquert wird.“
„Die was?“
„Ich verstehe Ihre Frage nicht.“
„Wie heißt das, von dem der Täter nicht vermutet hat, dass es durchquert wird?“
„Ach so. Die Vierung.“
„Und was ist das?“
„Der Knotenpunkt, sozusagen der Kreuzungsbereich zwischen Längsschiff und Querschiff. Der Grundriss der Kirche hat ja eine Kreuzform und das Rechteck, in dem die beiden imaginären Balken sich überlagern, nennt man Vierung.“
„Woher wissen Sie so etwas?“
„Keine Ahnung. Woher wissen Sie, dass die Erde um die Sonne kreist?“
„Tut sie das?“
„Ach, Herr Keller, lassen wir das. Da vorn ist der Pfarrer. Vielleicht kann der uns weiterhelfen.“
Kerkenbrock ging auf ihn zu. „Entschuldigen Sie, ich bin Sabine Kerkenbrock von der Kriminalpolizei Bielefeld. Hätten Sie einen Moment Zeit für ein paar Fragen?“
Der Pfarrer, ein unscheinbarer Typ der offensichtlich den Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu seinem Lebensthema auserkoren hatte, sah sie nur kurz unwillig an und ließ den Blick dann hektisch in der Kirche umher schweifen.
„Tut mir leid, aber ich muss mich hier jetzt erst einmal um einiges kümmern. Ich suche unseren Küster und einen Verantwortlichen der freiwilligen Feuerwehr, denn irgendjemand hat hier offenbar schlampig gearbeitet.“
Dann rauschte er ohne eine Reaktion abzuwarten von dannen, weil er offenkundig jemanden von denen, die er suchte in der aufgeregten Menge entdeckt hatte.
Eine Dame zwischen fünfzig und sechzig Jahren, mit großen, übertrieben wachen Augen trat an Kerkenbrock heran. Sie war etwas voll um die Hüften und trug daher über einer schmal geschnittenen, petrolfarbenen Kordhose eine weit schwingende weiße Bluse. In ihrem Nacken lag locker ein bunter Seidenschal mit Farbverlauf überwiegend in Grün- und Blautönen, die perfekt mit der Farbe der Hose harmonierten. Sie öffnete die runden, zartrosa pomadierten Lippen die vom dichten Flaum des Klimakteriumsdamenbartes gesäumt waren. „Vielleicht kann ich Ihnen weiter helfen.“, erklärte sie, „der Pfarrer ist ja viel zu beschäftigt. Mir ist da nämlich etwas aufgefallen. Wissen Sie, Johann Witte hat mit mir im Gospelchor gesungen, darum kenne ich ihn ganz gut. Er war ein äußerst vermögender Holzhändler, der auch wohl deshalb finanziell so weit gekommen ist, weil er laxer Zahlungsmoral von Kunden immer aufs entschiedenste entgegengetreten ist. Nun hat er ja ausgerechnet heute den Text vom reichen Kornbauer gelesen. Wer sich mit Gottesdienst und Kirchenjahr einigermaßen auskennt, wusste das schon vorher, auch wer lesen würde, denn das steht ja im Lektorenplan und der hängt im Gemeindehaus. Also in dem Text ging es um einen reichen Bauern, der sich immer Sorgen machte, ob er auch eine reiche Ernte einfahren könnte. Und dann hat er so viel Ertrag, dass er gar nicht weiß, wohin damit. Aber statt die Überschüsse an die Armen zu verschenken, lässt er riesige Scheunen bauen, um große Vorräte anzulegen. Als alles fertig ist, geht er am Abend zufrieden schlafen und ist beruhigt und gut gelaunt. Und da sagt Gott zu ihm, dass er ein Narr ist, weil er noch in dieser Nacht sterben wird und dass ihm dort, wo er dann sein wird, diese ganzen Reichtümer gar nichts nützen werden.“
„Und Sie meinen Herr Witte hat sich so verhalten wie dieser reiche Bauer?“
„Allerdings. Wissen Sie, bei uns im Gospelchor singt auch Marco Steinkämper und der hat einen kleinen Betrieb, eine Tischlerei. Er ist Meister und hat drei Angestellte. Vor ein paar Monaten hat er eine umfangreiche Holzlieferung von Witte bekommen, weil er einen großen Auftrag an Land gezogen hatte, einen kompletten Innenausbau mit Treppen, Türen, Rigips und Fußböden. Das war toll für seine Firma, nur hat der Kunde noch nicht bezahlt und die vielen kleinen Kunden sind teilweise abgesprungen, weil er über längere Zeit keine Aufträge annehmen konnte. Ihm steht das Wasser bis zum Hals, aber Witte bestand auf fristgerechter Zahlung und wenn seine Frau in dem Stil weitermacht, ist Marco Steinkämper in ein paar Wochen pleite. Es könnte doch sein, dass da irgendwem der Kragen geplatzt ist. Und wenn es nicht Marco war, dann vielleicht ein guter Freund, der meinte, ihm das schuldig zu sein oder einer seiner Gesellen.“
„Das wäre nicht undenkbar.“, gab Kerkenbrock ihr Recht. „Aber bitte, tun Sie mir den Gefallen und behalten Ihre Beobachtungen und Schlussfolgerungen vorerst für sich, auch in ihrem eigenen Interesse. Denn wenn der Mörder spitzkriegt, dass Sie über derartig umfangreiche Erkenntnisse verfügen, könnten Sie das nächste Opfer sein. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, Ihre Anschrift und Telefonnummer?“
„Aber selbstverständlich. Annerose Hecht.“
Die eifrige Zeugin reichte Kerkenbrock eine Visitenkarte und verließ würdig schreitend das Gebäude.
„Ich weiß ja nicht, was dieser üppige Paradiesvogel Ihnen verraten hat“, raunte Keller seiner jungen Kollegin ins Ohr, „aber ich habe gerade von der Spusi erfahren, dass an der Aufhängung auf ganz absonderliche Weise manipuliert worden ist.“
„Absonderlich inwiefern?“, fragte Kerkenbrock.
„Nun, der Täter oder die Täterin hat den den Haken im First, an dem das Nylonseil mit einem Bulinknoten eingehängt war unter Strom gesetzt. Die Hitze hat das Seil durchschmoren lassen, bis es zu schwach war, die schwergewichtige Krone zu halten. Den Zeitpunkt für den Absturz kann man berechnen, wenn man Ahnung davon hat und wenn nicht, kann man das sicherlich im Internet herausfinden..“
„Wie hat er denn den Haken unter Strom gesetzt?“
„Er hat an den Lichtleitungen manipuliert. Einen Draht an den Haken geführt und im passenden Moment den Lichtschalter betätigt.“
„Gibt das keinen Kurzschluss?“
„Kann man alles austricksen. Es ist ja auch kein Fi-Schutzschalter rausgeflogen. Es sollte wohl jemand zu Werke gegangen sein, der sich mit Elektrik gut auskennt – oder eben jemand, der sich lang und schmutzig in das Thema eingelesen hat. Vor allem aber jemand, der nach Anbringung der Krone Zugang zur Kirche hatte, über eine hohe Leiter verfügte und Gelegenheit hatte, lang und schmutzig an den Kabeln herumzubasteln.“
Inzwischen hatte Der Pfarrer endlich den Küster ausfindig gemacht, den er ebenso zur Rede stellen wollte, wie die Verantwortlichen der Feuerwehr. Die Information bezüglich der manipulierten Stromleitungen war noch nicht zu ihm durchgedrungen, er glaubte weiterhin an schlichte Schlamperei. Neben der Sakristei sprach er seinen Angestellten nun an.
„Hab ich Sie endlich Gefunden, Herr Kleemann.“, fauchte der Pfarrer. „Zuerst mähen Sie den Rasen nicht, weil Sie angeblich zu viel mit der Erntekrone zu tun haben und dann machen Sie das auch noch nicht einmal richtig! Und jetzt gibt es einen Toten. Ihnen ist ja wohl klar, dass die Kündigung damit jetzt endgültig fällig ist.“
„Wieso geben Sie mir die Schuld?“, zischte der Küster zurück. „Ich habe die Krone nicht aufgehängt, ich musste die Handwerker nur unterstützten: Licht an , Licht aus, Werkzeug holen, Leiter hier, Leiter da.“
„Sie sollten die Arbeiten überwachen. Für die Schlampereien sind Sie persönlich verantwortlich. Sie müssen gar nicht versuchen, sich herauszureden.“
„Für mich sah alles ganz normal aus, so wie im letzten Jahr. Vielleicht hat da jemand heimlich und absichtlich einen Fehler gemacht, weil er es auf Herrn Witte abgesehen hatte. Aber ich hatte nichts gegen Herrn Witte, der hat mich immer anständig behandelt.“
In den Augen des Küsters glitzerten Tränen. In seinem Kopf lief ein Film im Zeitraffer: Sein hoffnungsvoller Dienstantritt in der Gemeinde vor 14 Jahren, die Freude nicht nur Hausmeister zu sein, sondern auch ein geistliches Amt auszuüben, das hohes Ansehen genoss. Dann die ersten Demütigungen: Wie man selbstverständlich von ihm erwartet hatte, dass er jedes Problem ohne Unterstützung löste, er könne doch seine Familie mit einspannen, wenn er Hundebesitzer bat, ihre Tiere nicht auf die Wiese kacken zu lassen und von denen als Lakai beschimpft wurde, den man schließlich dafür bezahle, dass er die Scheiße wegräume, durfte er sich nicht wehren, sollte alles herunter schlucken und freundlich bleiben. Niemand setzte sich für ihn ein, man verlangte nur, dass alles funktionierte und das mit immer weniger Stunden, immer weniger ehrenamtlichen Helfern und immer geringeren Finanzmitteln für Werkzeug, Putzutensilien und so weiter. Zwei Mal war ihm in den vergangenen drei Jahren der Kragen geplatzt:er hatte sich einmal ermächtigt, ein Gemeindefest vorzeitig zu verlassen, ein anderes Mal Mitglieder des Presbyteriums mit einer Schimpftirade übergossen. Jedes Mal hatte er eine Abmahnung erhalten. Als er gestern klipp und klar gesagt hatte, dass er den Rasen erst am Montag mähen könne, weil er dafür am Samstag keine Zeit mehr habe, hatte der Pfarrer angedeutet, dass dies wohl der dritte Vorfall auf dem Weg zur Kündigung sei und einer solchen nun nichts mehr im Wege stehe. Jetzt stand der erbarmungslose Vorgesetzte ihm gegenüber und blaffte ihn an.
„Natürlich hat Herr Witte Sie anständig behandelt, wie im übrigen jeder hier in der Gemeinde. Der Einzige, der seine Mitmenschen hier nicht anständig behandelt, sind Sie!“
Wütend wandte der Pfarrer sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um: „Und glauben Sie nicht, dass irgendeine Mitarbeitervertretung Sie noch einmal retten kann. Diesmal haben Sie einen Fehler gemacht, den Sie nicht mehr ausbügeln können.“
Der Pfarrer verschwand in der Sakristei. Der Küster blickte ihm nach und murmelte: „Ja, da ist mir wirklich ein schwerwiegender Fehler unterlaufen. Es hat leider den Falschen getroffen.“
Gemessenen Schrittes verließ der Lektor das Lesepult und steuerte seinen Sitzplatz in der ersten Bankreihe an. Wie ein magisches Rad leuchtete die gewaltige Erntekrone über ihm, als er in die Vierung trat. In drei Wochen mühevoller Handarbeit hatten acht Landfrauen dieses groteske Kunstwerk aus Stroh, Draht,Trockenblumen und Schleifen hergestellt und nur mit Hilfe der freiwilligen Feuerwehr konnte das drei Meter hohe Schmuckstück von zwei Meter Durchmesser an dem stabilen Haken im Dachfirst aufgehängt werden. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Lektor Johann Witte einen Heiligenschein und manch einer glaubte sogar, das Flügelrauschen himmlischer Heerscharen zu vernehmen. Als die Sekunde vorüber war, stand die Erntekrone auf dem Boden und zierte Johann Wittes Kopf ganz unmittelbar, nur dass er selbst dieses Phänomen nicht wahrzunehmen schien, weil er bewusstlos am Boden lag.
„Genickbruch“, stellte die Gerichtsmedizinerin fest. „Die Kollegen von der KTU untersuchen gerade die Aufhängung. Vielleicht hat da jemand dran manipuliert.“
„Dann wäre es wohl Mord.“, bemerkte Kriminalhauptkommissar Stefan Keller.
„Oder fahrlässige Tötung.“, überlegte seine junge Kollegin Sabine Kerkenbrock. „Wie wahrscheinlich ist es, dass so ein Gerät genau im richtigen Moment im richtigen Winkel abstürzt? Es könnte doch auch sein, dass jemand nur mit einem Knalleffekt im Gottesdienst rumschocken wollte und gar nicht damit gerechnet hat, dass die Vierung durchquert wird.“
„Die was?“
„Ich verstehe Ihre Frage nicht.“
„Wie heißt das, von dem der Täter nicht vermutet hat, dass es durchquert wird?“
„Ach so. Die Vierung.“
„Und was ist das?“
„Der Knotenpunkt, sozusagen der Kreuzungsbereich zwischen Längsschiff und Querschiff. Der Grundriss der Kirche hat ja eine Kreuzform und das Rechteck, in dem die beiden imaginären Balken sich überlagern, nennt man Vierung.“
„Woher wissen Sie so etwas?“
„Keine Ahnung. Woher wissen Sie, dass die Erde um die Sonne kreist?“
„Tut sie das?“
„Ach, Herr Keller, lassen wir das. Da vorn ist der Pfarrer. Vielleicht kann der uns weiterhelfen.“
Kerkenbrock ging auf ihn zu. „Entschuldigen Sie, ich bin Sabine Kerkenbrock von der Kriminalpolizei Bielefeld. Hätten Sie einen Moment Zeit für ein paar Fragen?“
Der Pfarrer, ein unscheinbarer Typ der offensichtlich den Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu seinem Lebensthema auserkoren hatte, sah sie nur kurz unwillig an und ließ den Blick dann hektisch in der Kirche umher schweifen.
„Tut mir leid, aber ich muss mich hier jetzt erst einmal um einiges kümmern. Ich suche unseren Küster und einen Verantwortlichen der freiwilligen Feuerwehr, denn irgendjemand hat hier offenbar schlampig gearbeitet.“
Dann rauschte er ohne eine Reaktion abzuwarten von dannen, weil er offenkundig jemanden von denen, die er suchte in der aufgeregten Menge entdeckt hatte.
Eine Dame zwischen fünfzig und sechzig Jahren, mit großen, übertrieben wachen Augen trat an Kerkenbrock heran. Sie war etwas voll um die Hüften und trug daher über einer schmal geschnittenen, petrolfarbenen Kordhose eine weit schwingende weiße Bluse. In ihrem Nacken lag locker ein bunter Seidenschal mit Farbverlauf überwiegend in Grün- und Blautönen, die perfekt mit der Farbe der Hose harmonierten. Sie öffnete die runden, zartrosa pomadierten Lippen die vom dichten Flaum des Klimakteriumsdamenbartes gesäumt waren. „Vielleicht kann ich Ihnen weiter helfen.“, erklärte sie, „der Pfarrer ist ja viel zu beschäftigt. Mir ist da nämlich etwas aufgefallen. Wissen Sie, Johann Witte hat mit mir im Gospelchor gesungen, darum kenne ich ihn ganz gut. Er war ein äußerst vermögender Holzhändler, der auch wohl deshalb finanziell so weit gekommen ist, weil er laxer Zahlungsmoral von Kunden immer aufs entschiedenste entgegengetreten ist. Nun hat er ja ausgerechnet heute den Text vom reichen Kornbauer gelesen. Wer sich mit Gottesdienst und Kirchenjahr einigermaßen auskennt, wusste das schon vorher, auch wer lesen würde, denn das steht ja im Lektorenplan und der hängt im Gemeindehaus. Also in dem Text ging es um einen reichen Bauern, der sich immer Sorgen machte, ob er auch eine reiche Ernte einfahren könnte. Und dann hat er so viel Ertrag, dass er gar nicht weiß, wohin damit. Aber statt die Überschüsse an die Armen zu verschenken, lässt er riesige Scheunen bauen, um große Vorräte anzulegen. Als alles fertig ist, geht er am Abend zufrieden schlafen und ist beruhigt und gut gelaunt. Und da sagt Gott zu ihm, dass er ein Narr ist, weil er noch in dieser Nacht sterben wird und dass ihm dort, wo er dann sein wird, diese ganzen Reichtümer gar nichts nützen werden.“
„Und Sie meinen Herr Witte hat sich so verhalten wie dieser reiche Bauer?“
„Allerdings. Wissen Sie, bei uns im Gospelchor singt auch Marco Steinkämper und der hat einen kleinen Betrieb, eine Tischlerei. Er ist Meister und hat drei Angestellte. Vor ein paar Monaten hat er eine umfangreiche Holzlieferung von Witte bekommen, weil er einen großen Auftrag an Land gezogen hatte, einen kompletten Innenausbau mit Treppen, Türen, Rigips und Fußböden. Das war toll für seine Firma, nur hat der Kunde noch nicht bezahlt und die vielen kleinen Kunden sind teilweise abgesprungen, weil er über längere Zeit keine Aufträge annehmen konnte. Ihm steht das Wasser bis zum Hals, aber Witte bestand auf fristgerechter Zahlung und wenn seine Frau in dem Stil weitermacht, ist Marco Steinkämper in ein paar Wochen pleite. Es könnte doch sein, dass da irgendwem der Kragen geplatzt ist. Und wenn es nicht Marco war, dann vielleicht ein guter Freund, der meinte, ihm das schuldig zu sein oder einer seiner Gesellen.“
„Das wäre nicht undenkbar.“, gab Kerkenbrock ihr Recht. „Aber bitte, tun Sie mir den Gefallen und behalten Ihre Beobachtungen und Schlussfolgerungen vorerst für sich, auch in ihrem eigenen Interesse. Denn wenn der Mörder spitzkriegt, dass Sie über derartig umfangreiche Erkenntnisse verfügen, könnten Sie das nächste Opfer sein. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, Ihre Anschrift und Telefonnummer?“
„Aber selbstverständlich. Annerose Hecht.“
Die eifrige Zeugin reichte Kerkenbrock eine Visitenkarte und verließ würdig schreitend das Gebäude.
„Ich weiß ja nicht, was dieser üppige Paradiesvogel Ihnen verraten hat“, raunte Keller seiner jungen Kollegin ins Ohr, „aber ich habe gerade von der Spusi erfahren, dass an der Aufhängung auf ganz absonderliche Weise manipuliert worden ist.“
„Absonderlich inwiefern?“, fragte Kerkenbrock.
„Nun, der Täter oder die Täterin hat den den Haken im First, an dem das Nylonseil mit einem Bulinknoten eingehängt war unter Strom gesetzt. Die Hitze hat das Seil durchschmoren lassen, bis es zu schwach war, die schwergewichtige Krone zu halten. Den Zeitpunkt für den Absturz kann man berechnen, wenn man Ahnung davon hat und wenn nicht, kann man das sicherlich im Internet herausfinden..“
„Wie hat er denn den Haken unter Strom gesetzt?“
„Er hat an den Lichtleitungen manipuliert. Einen Draht an den Haken geführt und im passenden Moment den Lichtschalter betätigt.“
„Gibt das keinen Kurzschluss?“
„Kann man alles austricksen. Es ist ja auch kein Fi-Schutzschalter rausgeflogen. Es sollte wohl jemand zu Werke gegangen sein, der sich mit Elektrik gut auskennt – oder eben jemand, der sich lang und schmutzig in das Thema eingelesen hat. Vor allem aber jemand, der nach Anbringung der Krone Zugang zur Kirche hatte, über eine hohe Leiter verfügte und Gelegenheit hatte, lang und schmutzig an den Kabeln herumzubasteln.“
Inzwischen hatte Der Pfarrer endlich den Küster ausfindig gemacht, den er ebenso zur Rede stellen wollte, wie die Verantwortlichen der Feuerwehr. Die Information bezüglich der manipulierten Stromleitungen war noch nicht zu ihm durchgedrungen, er glaubte weiterhin an schlichte Schlamperei. Neben der Sakristei sprach er seinen Angestellten nun an.
„Hab ich Sie endlich Gefunden, Herr Kleemann.“, fauchte der Pfarrer. „Zuerst mähen Sie den Rasen nicht, weil Sie angeblich zu viel mit der Erntekrone zu tun haben und dann machen Sie das auch noch nicht einmal richtig! Und jetzt gibt es einen Toten. Ihnen ist ja wohl klar, dass die Kündigung damit jetzt endgültig fällig ist.“
„Wieso geben Sie mir die Schuld?“, zischte der Küster zurück. „Ich habe die Krone nicht aufgehängt, ich musste die Handwerker nur unterstützten: Licht an , Licht aus, Werkzeug holen, Leiter hier, Leiter da.“
„Sie sollten die Arbeiten überwachen. Für die Schlampereien sind Sie persönlich verantwortlich. Sie müssen gar nicht versuchen, sich herauszureden.“
„Für mich sah alles ganz normal aus, so wie im letzten Jahr. Vielleicht hat da jemand heimlich und absichtlich einen Fehler gemacht, weil er es auf Herrn Witte abgesehen hatte. Aber ich hatte nichts gegen Herrn Witte, der hat mich immer anständig behandelt.“
In den Augen des Küsters glitzerten Tränen. In seinem Kopf lief ein Film im Zeitraffer: Sein hoffnungsvoller Dienstantritt in der Gemeinde vor 14 Jahren, die Freude nicht nur Hausmeister zu sein, sondern auch ein geistliches Amt auszuüben, das hohes Ansehen genoss. Dann die ersten Demütigungen: Wie man selbstverständlich von ihm erwartet hatte, dass er jedes Problem ohne Unterstützung löste, er könne doch seine Familie mit einspannen, wenn er Hundebesitzer bat, ihre Tiere nicht auf die Wiese kacken zu lassen und von denen als Lakai beschimpft wurde, den man schließlich dafür bezahle, dass er die Scheiße wegräume, durfte er sich nicht wehren, sollte alles herunter schlucken und freundlich bleiben. Niemand setzte sich für ihn ein, man verlangte nur, dass alles funktionierte und das mit immer weniger Stunden, immer weniger ehrenamtlichen Helfern und immer geringeren Finanzmitteln für Werkzeug, Putzutensilien und so weiter. Zwei Mal war ihm in den vergangenen drei Jahren der Kragen geplatzt:er hatte sich einmal ermächtigt, ein Gemeindefest vorzeitig zu verlassen, ein anderes Mal Mitglieder des Presbyteriums mit einer Schimpftirade übergossen. Jedes Mal hatte er eine Abmahnung erhalten. Als er gestern klipp und klar gesagt hatte, dass er den Rasen erst am Montag mähen könne, weil er dafür am Samstag keine Zeit mehr habe, hatte der Pfarrer angedeutet, dass dies wohl der dritte Vorfall auf dem Weg zur Kündigung sei und einer solchen nun nichts mehr im Wege stehe. Jetzt stand der erbarmungslose Vorgesetzte ihm gegenüber und blaffte ihn an.
„Natürlich hat Herr Witte Sie anständig behandelt, wie im übrigen jeder hier in der Gemeinde. Der Einzige, der seine Mitmenschen hier nicht anständig behandelt, sind Sie!“
Wütend wandte der Pfarrer sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um: „Und glauben Sie nicht, dass irgendeine Mitarbeitervertretung Sie noch einmal retten kann. Diesmal haben Sie einen Fehler gemacht, den Sie nicht mehr ausbügeln können.“
Der Pfarrer verschwand in der Sakristei. Der Küster blickte ihm nach und murmelte: „Ja, da ist mir wirklich ein schwerwiegender Fehler unterlaufen. Es hat leider den Falschen getroffen.“
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