Freitag, 8. Juli 2016
Erbarmungslos - zweiteiliger Kurzkrimi – Teil II
Die Polizistin blickte irritiert von dem Lebenslauf auf und stellte fest: „Hier steht 2005 – 2010 Leitung der evangelischen Kita Kunterbunt.“
„Ja“, mischte die Leiterin der städtischen Kita sich ein. „So eine junge Erzieherin als Leitung finde ich auch unverantwortlich. Sicherlich hat sie daher ihren Größenwahn gehabt.“
Charlotte Schweppe war von der Nachricht, dass es nun die dritte Kollegin aus ihrer Einrichtung – wenn auch diesmal eine ehemalige – getroffen hatte, mehr als beunruhigt. „Schließlich war sie meine Vorgängerin:“, sagte sie zitternd. „Vielleicht läuft da irgendjemand mit einem Wahn herum, dass dieser Ort vom Teufel besessen ist. Wie kann ich meine Kolleginnen und mich denn vor weiteren Anschlägen schützen?“
„Sie müssen äußerst wachsam sein.“, erklärte Keller. „Und so gut es Ihnen möglich ist, mit uns zusammenarbeiten. Gibt es alte Geschichten? Themen, wo plötzlich alle betreten den Blick senken oder den Raum verlassen?“
„Na ja, Gerüchte gibt es in einem Laden, in dem praktisch nur Frauen arbeiten immer.“, seufzte die Leiterin. „Ich kann mich ja mal umhören, ob vor meiner Zeit etwas Besonderes vorgefallen ist.“
Es klopfte an der Tür. Eine junge Mitarbeiterin trat ein, eine aparte Erscheinung, die allerdings noch nicht ganz realisiert hatte, dass mit dem Eintritt in die dritte Lebensdekade das Girlie-Dasein endgültig beendet ist.
„Ist es wirklich wahr, dass jetzt auch noch Nicole Potthoff ermordet wurde?“, fragte sie mit großen angstvollen Augen und entsetzlich gekünstelter Piepsstimme.
„Ja.“, erwiderte Charlotte Schweppe betroffen. Und wandte sich dann an die Polizeibeamten. „Das ist meine Kollegin Denise Reuter. Komm doch rein Denise. Kannst du dich an irgendeine Geschichte aus der Vergangenheit erinnern, die uns jetzt einholt? Irgendeine Idee, wer hinter diesen gemeinen Morden stecken könnte?“
„Nein.“, piepste Denise Reuter, „Woher soll ich das wissen? Ich bin ja schließlich auch erst seit sieben Jahren hier.“
„Dann können Sie sich also noch an die Amtszeit von Frau Potthoff erinnern?“, fragte Keller.
„Ja, natürlich. Wir haben ein Jahr lang zusammengearbeitet.“
„Und warum ist sie gegangen?“
Denise Reuter zuckte mit den Schultern und blickte betont unschuldig drein. „Das weiß ich nicht mehr.“, sagte sie. „Ich schätze sie wollte einfach woanders Erfahrungen sammeln, um sich beruflich weiter zu entwickeln.“
„Aber wenn Sie gar keine Ahnung haben, was dahinter stecken könnte, warum haben Sie dann so große Angst, Frau Reuter?“, fragte Kerkenbrock.
Denise Reuter errötete Feuermelder-artig. „Ich weiß nicht, vielleicht, weil alle getöteten Frauen hier arbeiten oder gearbeitet haben. Ich verstehe es ja auch nicht. Die einzige, die etwas gegen uns haben könnte, ist Susanne Schnarre. Aber ich kann mir irgendwie weder vorstellen, dass die den Mut hat, Leute zu ermorden noch dass sie es sich leisten kann, jemanden dafür zu bezahlen.“
„Wer bitte ist Susanne Schnarre?“, fragte Keller.
„Eine ehemalige Kollegin.“, erklärte die Erzieherin. „Sie ist ein halbes Jahr vor Nicole gegangen.“
„Und warum?“
„Sie war krank.“
„Woran war sie erkrankt?“
„Irgendwas psychisches. So genau weiß ich das auch nicht mehr. Auf jeden Fall konnte man nicht mehr mit ihr arbeiten, es wurde immer schlimmer und irgendwann ist sie in der Psychiatrie gelandet.“
„Gab es einen Zusammenhang zwischen ihrer psychischen Erkrankung und Konflikten am Arbeitsplatz?“
„Kann sein.“, erklärte Denise Reuter. „Wir hatten ja alle Schwierigkeiten mit ihr, niemand wollte gern mit ihr zusammenarbeiten. Sie ging allen auf die Nerven, weil sie nichts geregelt kriegte, einen merkwürdigen Umgang mit den Kindern hatte, denn sie war oft viel zu ungeduldig und bei ihren Vorschlägen in den Team-Sitzungen stellten sich uns regelmäßig die Nackenhaare auf. Wir waren schon froh, als sie endlich weg war, es ging einfach nicht mit ihr.“
Die Beamten ließen sich von Charlotte Schweppe die Personalakte von Susanne Schnarre geben. Nachdem auch andere ältere Kolleginnen die Eindrücke von Frau Reuter bestätigt hatten, machten sie sich zu der angegebenen Adresse der verdächtigen Person auf.
Susanne Schnarre bewohnte mit ihrem Mann und ihrem Sohn eine großzügige Wohnung im gleichen Innenstadtviertel, in dem auch Stefan Keller lebte. Die Frau war ihm in der Vergangenheit schon häufiger aufgefallen, wenn er gelegentlich an freien Vormittagen auf dem Wochenmarkt eingekauft hatte. Sie war stark übergewichtig und ihr zusätzlich wie von Medikamenten aufgedunsenes Gesicht wurde von einer unvorteilhaften Frisur in einem extrem künstlichen Dunkelblond-Ton eingerahmt. Sie trug legere Kleidung in schreienden Farben und blickte, nachdem die Beamten sich vorgestellt hatten, unruhig von einem zum anderen. Ihre Festnahme gestaltete sich hochdramatisch, weil sie sich berechtigterweise um ihr Kind sorgte, dessen Vater noch bei der Arbeit war. Sie durfte den Jungen mitnehmen, der Vater könne ihn ja später abholen, versicherte Kerkenbrock.
Sie warteten mit dem Verhör, bis der Vater das Kind abholen konnte und begannen schon einmal mit der Dokumentation ihrer bisherigen Vorgehensweise – zu der Befragung sollte es nicht mehr kommen.
Die letzten aufgeregten Kinderstimmen waren verklungen in der Kita Kunterbunt und Charlotte Schweppe war beim Spätdienst von Denise Reuter unterstützt worden. Die verließ nun die Einrichtung und steuerte auf ihren Libido-roten Austin Mini zu. Sie wunderte sich, dass beim Drücken der ferngesteuerten Türentriegelung kein Schnappen zu vernehmen war. „Oh“, dachte sie. „Hab ich vergessen abzuschließen oder ist die Fernsteuerung kaputt?“ , doch die Fahrertür ließ sich problemlos öffnen.
Sie warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz, legte den Sicherheitsgurt an und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Plötzlich war da Bewegung im Auto und alles geschah blitzschnell. Etwas Dünnes, Hartes drückte gegen ihre Kehle und schnürte ihr langsam die Luft ab. Sie griff danach, doch es war ihr unmöglich mit den Fingern zwischen den dünnen Draht und ihre Hals zu gelangen. Panisch versuchte sie um Hilfe zu schreien, als plötzlich ein ohrenbetäubendes, berstendes Geräusch hinter ihr ertönte und der Druck auf ihren Hals sich lockerte. Eine Tür wurde aufgerissen und jemand lief weg. Dann wurde die Fahrertür geöffnet. Es war Charlotte, die sich über sie beugte und den Sicherheitsgurt löste. „Komm da raus, Denise.“, sagte sie. „Sie können dir nichts mehr tun. Wir gehen rein und ich rufe einen Krankenwagen.“
Im Augenwinkel nahm die junge Frau wahr, dass jemand auf dem Rücksitz saß. Sie fuhr herum: Es war eine alte Frau, die mit leerem Blick unter das Autodach starrte. Aus ihrer Schläfe sickerte Blut und neben ihr lag ein Ziegelstein. Und dann schrie sie und glaubte, sie würde nie wieder damit aufhören.
Bereits eine Stunde später hatte die Polizei den zweiten Attentäter ausfindig gemacht, es handelte sich um den Ehemann der Frau, die versucht hatte, Denise Reuter mit einer Gitarrensaite zu garrottieren. Die Frau hatte Charlotte Schweppes Maßnahme zur Rettung ihrer Kollegin nicht überlebt. Der in das hintere Seitenfenster geworfene Ziegelstein sollte nur den Mord verhindern, nicht die Täterin töten, aber das war nicht zu vermeiden gewesen. Der Ehemann, der in Panik geflüchtet war, hatte sich kurz darauf der Polizei gestellt. Sein Name war Erwin Bruns, er war der Vater von Susanne Schnarre. Er legte ein umfassendes Geständnis ab:
„Meine Frau und ich konnten nicht länger hinnehmen, dass unsere Tochter von diesen Hyänen systematisch zugrunde gerichtet worden ist und die einfach so weitermachten, als wäre nichts passiert.“
„Was ist denn damals passiert?“, fragte Keller.
„Meine Tochter hat 1999 angefangen in dem Kindergarten zu arbeiten. Damals gehörte er noch zur Kirchengemeinde, wurde von einem Pastor und einer Presbyterin begleitet, die Leiterin war eine nette, erfahrene, ältere Dame und im Kindergarten mussten sie sich damals ja auch noch nicht so überschlagen mit Aufbewahrung von 7-16 Uhr, für Kinder ab 3 Monaten und den ganzen Anforderungen, dass die Kinder schon ganz viel lernen müssen, damit man später in der Schule noch mehr in sie rein stopfen kann. Dann ging 2005 Frau Nolte in Ruhestand und die Potthoff kam und das war der Anfang vom Ende. Sie war jünger als meine Tochter und machte sich immer über sie lustig, so als wäre sie vollkommen von gestern, weil sie nicht mit durch die Kneipen und Diskotheken zog, sich am Wochenende nicht betrinken wollte und nicht wie die Potthoff durch sämtliche Betten rutschte, obwohl ich persönlich ja glaube, dass ihre Liebhaber sich diese Trulla regelmäßig schön trinken mussten. Jedenfalls hat diese Leiterin meine Tochter auch bei den Kolleginnen immer wieder schlecht gemacht, bis sie alle gegen sich hatte. Am schlimmsten waren die ganz jungen Mädels, also die Reuter und die Dünker. Das waren fast noch Backfische und dazu dumm wie Brot und furchtbar eingebildet. Aber auch die Depenbrock hat fleißig mit gemobbt, obwohl die damals auch schon fast vierzig war und verantwortlich für zwei kleine Kinder. Am Ende ist meine Tochter zusammengebrochen und sie hat sich bis heute nicht davon erholt. Sie muss immer noch hohe Dosen Antidepressiva einnehmen, davon ist sie auseinandergegangen wie ein Hefekloß, regelmäßige Klinikaufenthalte bringen ihr Familienleben durcheinander und gefährden ihre Ehe. Sie war eine liebenswerte, fleißige Familienmutter, ein anständiges funktionierendes Glied der Gesellschaft und da fallen so ein paar nichtsnutzige Hyänen über sie her und fressen ihre Seele, und niemand kommt auf die Idee, sie zu bestrafen. Zu der Zeit, als die Potthoff anfing, hatten sie die Kindergärten alle zentralisiert, der Pfarrer kümmerte sich nicht mehr so wie vorher und die Leitung dieser ganzen vielen Einrichtungen bekam überhaupt nichts mit von dem, was da lief. Ich bin da mal im Büro aufgelaufen, aber da hätte ich genauso gut eine Parkuhr voll quatschen können. Da haben meine Frau und ich den Entschluss gefasst, unsere Tochter zu rächen. Wir wollten ein Exempel statuieren, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Leider ist die Letzte davon gekommen und stattdessen hat es mein Frau erwischt. Das bedaure ich aus tiefster Seele. Und dass ich meinen Enkel nicht aufwachsen sehen werde, das tut mir auch Leid. Aber sonst bedaure ich nichts.“
Kerkenbrock bezweifelte, dass Susanne Schnarres Eltern ihrer Tochter oder auch der Menschheit einen Gefallen getan hatten. Die Tochter würde durch den gewaltsamen und unehrenhaften Verlust der Mutter und die Straffälligkeit ihres Vaters nur zusätzlich belastet, das hatten die Eltern in ihrer grenzenlosen Verzweiflung nicht bedacht. „So viel Leid.“, dachte sie, „und nur weil niemand rechtzeitig eingegriffen hat.“
Keller vermied es in der folgenden Zeit, auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Er wollte Susanne Schnarre nicht in die Augen sehen müssen, auch wenn er keine Schuld an ihrem Elend trug. Für sie zählte er zu denen, die ihr wehgetan hatten.
ENDE

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