Mittwoch, 22. Juni 2016
Davids Goliaths – abgeschlossener Kurzkrimi
Er war nicht besonders groß, aber auch nicht gerade ein Zwerg, eher eine unscheinbare Erscheinung, der so aussah, als seien in seiner Kindheit Eiweiß und Vitamine Mangelware gewesen. Besonders blass war er, aber nicht besonders genug, um in Erinnerung zu bleiben.
Eine ganze Woche hatte er täglich mindestens drei Stunden geübt. Er war dafür mit dem Bus nach Borgholzhausen gefahren, wo er in der Einsamkeit des Teutoburger Waldes ungestört trainieren konnte. Das Holz lag gut in der Hand, das Spezialgummi besaß exakt den richtigen Grad an Festigkeit: es ließ sich damit eine hohe Spannung aufbauen, aber es war auch elastisch genug, um es auch ohne übermenschliche Kraft nach hinten zu ziehen.
Den Hohlraum für die Geschosse hatte er liebevoll aus einem Stück Olivenholz aus dem Heiligen Land geschnitzt, aus dem übrigens auch die Astgabel stammte. Das Holz war hart, schön glatt geschliffen und geölt, so dass die bizarre, pittoreske Maserung besonders gut herauskam.
Hier, wo selten ein Mensch vorbeikam, waren die Tiere des Waldes mutiger und so konnte er auch auf bewegliche Ziele anlegen.
Dann kam der große Tag. In der Nacht war er von einem Alptraum in den nächsten geglitten, alles kam wieder hoch: Die Kindheit auf dem Land, wo er im Sportverein versagte, auf dem Schulhof geschnitten wurde und man ihn aus dem Schützenverein mobbte, bevor er überhaupt dazu kam, seine Begabung auf die Probe stellen zu lassen.
Die Zeit auf dem Gymnasium, wo er weder im Sport glänzte noch mit coolem Gehabe beeindrucken konnte. Stattdessen war er ein Überflieger im Religionsunterricht gewesen, aber das hatte niemanden interessiert.
Er sah den beeindruckenden Pfarrer vor sich, zu dem alle aufblickten und entschloss sich, Theologie zu studieren und tatsächlich nahm alles seinen Lauf, genauso, wie er es geplant hatte: Abitur, Gemeindepraktikum, kirchliche Hochschule Bethel. Nach dem Traum von schweißnassen Händen in der Sprachprüfung für das Graecum klingelte sein Wecker.
Er duschte und wusch den nächtlichen Angstschweiß herunter. Er zog seine beste Kleidung an: einen anthrazitfarbenen Anzug, dazu ein hellgraues Hemd, eine weinrote Krawatte und schwarze, polierte Schuhe im Budapester Stil. Die Schultertasche für die altmodische Fotoausrüstung befüllte er mit den winzigen, gefüllten Kinderballons; für die Seitentasche wählte er drei besonders schöne, glatte Steine aus und das Olivenholz-Gebilde lag obenauf.
Währenddessen füllte sich der große Saal mit den Synodalen des Kirchenkreises. Noch schwatzten alle durcheinander, am Rande wurden in verminderter Zimmerlautstärke letzte Absprachen bezüglich der Vorgehensweise bei der Durchsetzung favorisierter Beschlussvorlagen getroffen, woanders begrüßte man sich meist gesittet, teilweise auch lautstark, und alle überprüften das Revier auf den strategisch günstigsten Sitzplatz.
Mit einstudierter Selbstverständlichkeit betrat er den Saal und war doch überrascht, dass niemand ihn kritisch beäugte oder direkt fragte, zu welcher Gemeinde er denn gehöre. Wirklich niemand erkannte ihn, obwohl er doch etliche erkannte, die ihm jahrelang auf der Hochschule tagtäglich über den Weg gelaufen waren; einige aus Bethel, einige aus Marburg, zwei sogar aus Tübingen. Natürlich erkannten sie in nicht, er war ja keiner mehr von ihnen, war den Weg nicht weitergegangen, weil man ihm wie so viele Male im Leben kurz vor dem Ziel die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Zwei Mal durchs Examen gerasselt und Adios Gemeindepfarrer.
Jetzt hatte er nichts außer seinem Abitur und seinen Racheplänen. Er entschied sich für einen Stehplatz auf der Empore hinter einem dicken Pfeiler, da würden sie ihn nicht sofort ausmachen.
Er legte den ersten der glatten Steine in den Geschossbehälter, zielte präzise und traf. Jens Malachowski, Kommilitone aus Marburg. Niemand bemerkte so schnell, wie er vor dem Teewagen in die Knie ging. Der nächste Stein traf Gesine Henkemeier, die kannte er aus Bethel und da sie gerade auf dem Weg zur Toilette war, hatte auch sie niemand im Auge. Dann zielte er auf den größten unter den bösen Riesen: Karl-Heinz Rietmüller, der hatte ihn beim Examen durchrasseln lassen und war heute Gast auf der Synode. Damit waren auch alle alarmiert und jetzt musste er schnell handeln, wenn er möglichst viele und vor allem die Richtigen erwischen wollte. Aber zuerst würde er Rietmüllers Gesicht zerstören, nachdem er ihm seins geraubt hatte. Der erste Miniballon zerplatzte auf dem Gesicht des bewusstlosen Referenten. Die umstehenden Helfer reagierten viel zu spät, denn der Verletzte schrie nicht vor Schmerzen, weil er ja in seiner Bewusstlosigkeit nichts spürte. Eine unbekannte Flüssigkeit hatte seine Haut verätzt. Schon platzte die nächste Säurebombe und ein gellender Schmerzschrei durchschnitt die Luft. Spätestens jetzt versuchten alle, irgendwie in Deckung zu gehen und bis die ersten die Situation vollständig erfasst hatten und nach der Quelle der Geschosse Ausschau hielten, waren schon mehrere verwundet zum Abwaschen zur Toilette gelaufen und die ausbrechende Massenpanik war nicht mehr zu verhindern.
Am Ende der Veranstaltung gab es Fünf Säureverätzungen, drei schwere Kopfverletzungen durch Zwillen-Geschosse sowie fünfunddreißig Knochenbrüche und etliche Prellungen und Quetschungen, die sich die Menschen im Zuge der Massenpanik zugezogen hatten. Doch auch einen Toten gab es am Ende der Veranstaltung zu beklagen: David. Absolut unbiblisch. Die Goliaths hatten ihn endgültig besiegt.

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