Donnerstag, 16. Juni 2016
Tod im Bibeldorf – abgeschlossener Kurzkrimi
Im mit Kräuterbeeten geschmückten, gepflegten Vorgarten einer als altertümliches israelisches Wohnhaus verkleideten Fertiggarage befand sich neben der aus Altmetall gefertigten, lebensecht wirkenden Skulptur einer Ziege und einem Haufen Brennholz ein irritierender Fremdkörper, d.h., dass sich dort ein menschlicher Körper befand, war nicht weiter überraschend, nur die Position und der Zustand dieses Körpers wirkten in der inszenierten Idylle absurd. Statt emsig jätend in den Beeten zu hocken oder sich stehend im Garten umzusehen, lag die Person auf der feuchten Erde und ein Zyniker hätte sie als reichlich derangiert bezeichnet, denn der Kopf befand sich nicht mehr dort, wo er ursprünglich hingehörte. Zwischen ihm und dem Körper, von dem man ihn abgetrennt hatte, stand ein wettergegerbter Hauklotz, in dessen Mitte eine archaische, in Handarbeit gefertigte Axt steckte und der mit klebrigem, glänzendem, frischen Blut besudelt war, das allmählich begann zu gerinnen und dicke schwarze Fliegen anzulocken. Der Kopf selbst war auf die Seite gerollt, die gebrochenen Augen blickten den Betrachter an wie die Glasaugen einer Puppe und der halb geöffnete Mund ließ einen erstickten Schrei erahnen. Gelblich bleich war die Gesichtshaut, wo sie nicht vom dunklen, klebrigen Blut beschmiert war. Am absurdesten erschien jedoch die Tatsache, dass der Kopf im traditionellen Helm eines römischen Legionärs steckte, als hätte jemand ausprobiert, wie es sich auswirkt, wenn man in bester Asterix-und-Obelix-Manier die Römer schrubbt.
Von weitem näherte sich eine Gruppe Schüler, die vom leitenden Pfarrer, der das Projekt Bibeldorf ins Leben gerufen hatte, durch das Freilichtmuseum geführt wurde, während eine andere Schüler-Gruppe in Sichtweite, aber außer Hörweite am Feuer saß und verkleidet als Legionäre eine Mahlzeit auf altrömische Weise zubereitete.
„Ja und hier seht ihr, wie ganz normale Menschen im alten Israel gelebt haben. Oft hielten sie eine Ziege, um Milch zum Trinken und für die Herstellung von Käse zu haben. Wer von euch weiß denn, warum die Leute ausgerechnet Ziegen und nicht Schafe oder Kühe hielten?“
„Was liegt da?“, fragte ein Junge mit ausdruckslosem Gesicht.
Der Pfarrer trat näher an den Garten heran und fuhr heftig zusammen. Er brauchte ein bis zwei Sekunden, um zu erfassen, was und wen er da entdeckte und weitere zwei Sekunden, um zu entscheiden, was nun zu tun war. Er war weiß Gott ein energischer und belastbarer Typ, tatkräftig, effektiv, reaktionsschnell und problemlösungsorientiert, aber das hier überforderte sogar ihn im ersten Moment.
„Geht bitte sofort da drüben in das Gebäude!“, ordnete er in einem scharfen Ton an, der keinen Widerspruch duldete. Er sah sich nach Mitarbeitern um, die ihn unterstützen konnten und entdeckte eine junge Helferin.
„Pauline, kannst du mich bitte einen Augenblick vertreten und mit dieser Gruppe in die Synagoge gehen?“
„Kein Problem.“
Er rückte näher an sie heran und flüsterte: „Halte sie möglichst lange mit Geschichten über das jüdische Gemeindeleben auf und gehe dann mit ihnen ins Café. Hier ist etwas Schlimmes passiert, ich weiß nur noch nicht genau was, einige von den Kindern haben das, glaube ich, schon gesehen.“
„Was denn?“
„Jetzt nicht. Ich komme später wieder zu euch. Wenn jemand was erzählen will, sag ihm, er soll damit warten, bis ich zurück bin. Ich muss selbst erst einmal herausfinden, was hier eigentlich los ist.“
Der Pfarrer, selbst als römischer Centurio verkleidet, eilte zurück zum Fundort. Die Leiche lag unverändert da. Es handelte sich eindeutig um den Lehrer der Schulklasse, die gerade fröhlich am Feuer kochte. Er musste sich kurz sammeln, um für sich zu klären, welche Schritte jetzt notwendig waren und vor allem in welcher Reihenfolge. Er rief seinen Küster herbei, damit der den Fundort so abriegelte, dass niemand etwas sah und gleichzeitig keine Spuren vernichtet wurden. Dann informierte er die Kriminalpolizei. Den schwersten Gang hatte er noch vor sich: Er musste die Schüler des Opfers informieren.
Die Schulklasse war guter Dinge und ein paar besonders forsche Jugendliche begrüßten den Pfarrer mit „Ave, Centurio.“
„Salvete.“, erwiderte er tonlos, dann sagte er: „Hört mal, ich habe Euch etwas sehr Ernstes mitzuteilen und bitte Euch, dass ihr dazu einmal alle Platz nehmt und ruhig werdet.“
Obwohl die Klasse aus einer Truppe als besonders renitent geltender Jugendlicher bestand, wirkte seine natürliche Autorität auf sie, insbesondere nach ihren Erlebnissen in den letzten 24 Stunden. Sie hatten im Bibeldorf übernachtet, einen Gewaltmarsch in römischen Rüstungen unternommen und hatten sich, wenn auch nur im Rollenspiel, der straffen Disziplin des Soldatenlebens unterordnen müssen. Sie respektierten ihren „Centurio“ und gehorchten seinen Befehlen. Er verstand es eben, Menschen zu führen. Dass dies nach wie vor funktionierte, verlieh ihm Sicherheit: „Es ist etwas Furchtbares geschehen.“, erklärte er. „Euer Klassenlehrer lebt nicht mehr.“
„Was?“, rief ein Mädchen ungläubig. „Aber was ist denn passiert?“
„Das weiß ich nicht.“, erklärte der Pfarrer. „Aber wir haben ihn eben gefunden und es sieht so aus, als ob ihn jemand ermordet hat.“
Wie auf ein Stichwort drehten sich gleich mehrere Schüler zu Sascha um, ein Junge mit niedriger Frustrationstoleranz und hoher Gewaltbereitschaft, dem es oft misslang, seine Impulse zu steuern. Er hatte sich schon vor der Klassenfahrt in einem schweren Konflikt mit seinem Lehrer befunden, weil der ihn so streng benotete, dass er in diesem Jahr nicht in die zehnte Klasse versetzt werden würde – und er hatte in der Vergangenheit bereits die siebte wiederholt. Gestern waren sie ebenfalls mehrfach wegen Nichtigkeiten aneinandergeraten und der Lehrer hatte gedroht, ihn vorzeitig von der Klassenfahrt abholen zu lassen. Dann hatte er ihn dem Pfarrer übergeben, der ihn Extrarunden hatte marschieren lassen und Sascha hatte dem Lehrer hinterher gebrüllt: „Ich bring dich um, du Sau!“
Jetzt zitterte Saschas Unterlippe und er stammelte: „Aber aber, ich hab nichts gemacht. Echt nicht.“
Tobias war direkt nach der Konfirmation zum Bibeldorf-Team hinzu gestoßen. Er hatte so viele Ideen gehabt, war so voller Tatendrang gewesen, aber der Pfarrer hatte ihn immer zur Vorsicht gemahnt, hatte gemeint, Tobias solle es langsam angehen lassen, sich nicht zu viel zumuten. Am Anfang verstand er die pastoralen Bremsmanöver als Fürsorge, im weiteren Verlauf bekam er jedoch zunehmend den Eindruck, dass der Museumsleiter gar nicht wollte, dass er hier seine Fähigkeiten unter Beweis stellte und je älter er wurde, umso mehr beschlich ihn das Gefühl, dass der Pfarrer in jedem wirklich kompetenten und kreativen Kopf einen Konkurrenten sah. Er wollte allein der Tausendsassa sein, der auf allen Hochzeiten tanzen konnte und alle Fäden in der Hand hielt. Die Mitarbeiter waren sein Kirchenchor oder seine Modelliermasse mit deren Hilfe er sich selbst verwirklichte und sich profilierte und präsentierte. Tobias wollte nicht nur Lehm sein, Tobias wollte Schöpfer sein und nach immerhin acht Jahren treuer, fleißiger und ausdauernder Mitarbeit hatte er dem Pfarrer dies mitgeteilt. Und was hatte der geantwortet? „Das Bibeldorf leite immer noch ich. Wenn dir das nicht passt und du dich für so einen genialen Kopf hältst, bau doch dein eigenes Bibeldorf. Es gibt noch nicht viele Kirchenkreise, die so etwas vorweisen können, genau genommen keinen einzigen weiteren. Also viel Erfolg.“
Er hatte ihn vor die Tür gesetzt, einfach ausgebootet, nach allem, was er für das Projekt getan hatte, was er zum Gelingen des dauerhaften Betriebes beigetragen hatte. Aber noch war er hier und jetzt wollte er mal nach der Schulklasse sehen, die sich in eine römische Legion verwandelt hatte. Als er sich näherte, stellte er fest, dass in der Gruppe eine ziemliche Aufregung war. Ihr Lehrer stand vor ihnen und hatte ihnen sicherlich gerade von der Leiche im Vorgarten berichtet. Kein Wunder, dass die Jugendlichen ganz aus dem Häuschen waren und der Lehrer hatte sie natürlich nicht im Griff, war sicher selbst ganz durcheinander. Er trat an ihn heran: „Wenn Sie wollen, kann ich das hier auch übernehmen.“, erbot er sich, „Vielleicht sollten Sie sich einen Augenblick sammeln und den Schock verarbeiten. Ich kann in der Zwischenzeit die Gruppe seelsorgerlich begleiten“
„Das mache ich wohl besser selbst.“, antwortete der Lehrer mit einer schnarrenden, vertrauten Stimme und drehte sich um. Entsetzt blickte Tobias in das Gesicht des Pfarrers. „Aber wer“, dachte er, „ist dann die kopflose Leiche im Vorgarten?“

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