Donnerstag, 2. Juni 2016
Ein Pfarrer verschwindet – Kurzkrimi in vier Teilen – Teil I
„Rüdiger Sornig“ stand in großen Lettern auf dem Flip-Chart. Darunter sammelte Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock Stichworte wann, wo und von wem zuletzt gesehen, allgemeiner Gemütszustand, Feinde, Geheimnisse.
„Die Familie haben wir letzte Woche ja nun wirklich schon genug malträtiert.“, sagte sie, „Aber vielleicht findet sich ein Hinweis an seinem Arbeitsplatz.“
„Welchen Arbeitsplatz meinen Sie, Kerkenbrock?“, fragte Kriminalhauptkommissar Stefan Keller unwirsch, „Die Kanzel, das Gemeindehaus, das Pfarrbüro oder das Kreiskirchenamt?“
„Ich spreche nicht von Steinen, Sie alter Erbsenzähler, ich spreche von Menschen. Wir müssen alle befragen, die sich in der Kirchengemeinde auskennen: Verwaltungsfachkraft, Kirchenmusik, Kirchmeister, Vorsitzende der Frauenhilfe, Jugendmitarbeiter...“
„Hören Sie bloß auf! Ich habe dieses Christenpack zum Kotzen satt. Wahrscheinlich ist der Pastor beim Nacktbaden im Baggersee ertrunken und taucht in wenigen Tagen oder Wochen als schmucke Wasserleiche wieder auf.“
„Dann müssen wir ihn doch aber trotzdem suchen.“
„Nicht wir. Die Vermisstenstelle. Wir sind die Mordkommission.“
„Aber wir müssen doch zumindest prüfen...“
„Falsch! Die Vermisstenstelle muss prüfen. Wenn die einen deutlichen Hinweis auf Mord finden, können sie den Fall an uns weiterreichen. Aber Köhnemann ist wie eh und je unfähig, darum hat Matzek uns den Fall übertragen, denn Pfarrer gehen nicht mal eben Zigaretten holen. So hat er es jedenfalls ausgedrückt.“
„Also müssen wir doch ermitteln.“
„Ja, müssen wir. Am besten wir klappern heute Vormittag Gemeindebüro, Küster, Kirchenmusik und Kreiskirchenamt ab und begeben uns nachmittags und abends ins Gemeindehaus; vorausgesetzt, da treffen sich welche.“

Im Kreiskirchenamt wusste man wenig über Rüdiger Sornig zu sagen. Er sei ganz normal, sagten die Verwaltungskräfte, wie ein Pfarrer eben normal sein könne. Etwas kauzig vielleicht, mehr so ein Künstler, denn ein Seelsorger, manchmal sei es schwierig, ihm Verwaltungsabläufe klar zu machen, an die auch er sich halten müsse. Aber er sei immer freundlich, immer angemessen im Umgang.
Die Superintendentin schätzte ihn als verlässlichen Kollegen, der auch theologisch eine Menge drauf habe. Sie könne sich sein Verschwinden nicht erklären, ihm müsse etwas zugestoßen sein.
Der Küster sagte, er habe kein Problem mit dem Pfarrer, man arbeite friedvoll zusammen, da hätte er schon ganz andere erlebt. Die Mitarbeiterin im Gemeindebüro erklärte, er sei ein wenig schusselig und manchmal nicht ganz Herr der Lage, aber kein depressiver Typ, der sich etwas antun würde, schlimmstenfalls ein wenig antriebsschwach. Die Kirchenmusikerin, so gab sie Auskunft, sei nur nebenamtlich tätig, aber zur abendlichen Chorprobe wieder im Haus.
Keller und Kerkenbrock gönnten sich einen Mittagsimbiss im örtlichen China-Restaurant, bevor sie gegen 15.00 Uhr ins Gemeindehaus zurückkehrten. Dort traf sich die Frauenhilfe, für die eigentlich ein Referat des Pfarrers über die Entstehung des Buches Ruthvorgesehen war. Keller hatte den Eindruck, dass sie nicht gerade unglücklich darüber waren, anstelle eines mittelmäßigen, theologischen Vortrags eine spannende polizeiliche Befragung zu erleben und außerdem mehr Zeit für angeregte Gespräche bei Kaffee und Kuchen zu haben. Er blickte in ein Meer aus pflegeleichten Blümchenkleidern und Betonfrisuren und eine Wolke längst aus dem Sortiment genommen geglaubter Duftkombinationen waberte durch den Raum und stieg mal dezent, mal penetrant in seine Nase. Aufgeregt und trotz Blutdruck senkender Mittel erstaunlich rotwangig schnatterten die Damen jenseits der siebzig – in der Mehrheit sogar jenseits der achtzig – durcheinander, bis Keller um ihre Aufmerksamkeit bat. „Ist Ihnen an Ihrem Gemeindepfarrer in der letzten Zeit etwas Besonderes aufgefallen?“, fragte er in die Runde.
Betretenes Schweigen. Nach einer Weile hob sich zaghaft die Hand einer zarten Person, die sich zu Wort meldete.
„Sprechen Sie einfach.“, sagte Kerkenbrock. „Sie sind ja nicht mehr in der Schule.“
Ein amüsiertes Raunen ging durch die Reihen.
„Früher hat er manchmal ein bisschen im Garten gearbeitet. In letzter Zeit hat er das nur noch seiner Frau überlassen. Wenn man ihn überhaupt mal hinterm Haus gesehen hat, dann saß er in der Sonne und hat gelesen oder vor sich hin gestarrt.“
„Wird auch älter“, bemerkte eine vorwitzige, russisch Gold gefärbte Geronto-Blondine.
Einige wenige wagten ein leises Kichern.
„Also, so oft wie der am Obersee spazieren geht, glaube ich nicht, dass der noch viel mit seiner Frau zu schaffen hat.“, bemerkte eine rundliche Dame mit schneeweißer Kurzhaar-Frisur.
„Also Erika Winterhoff hat ja erzählt, dass sein Auto schon öfter am Tierpark stand und das von der Kindergarten-Leiterin direkt daneben.“
„Was macht Erika denn in Olderdissen?“, fragte eine aufgebrezelte Mittsiebzigerin, die ihre tiefen Gesichtsfalten mit Make-up auszugleichen versuchte und das unausweichliche Ergrauen der Kopfhaare mit einem aufregenden Auberginenton verdeckt hatte.
„Die kümmert sich doch um ihre Enkel und fährt mit denen oft da hin. Und da hat sie die beiden Autos wohl schon öfter nebeneinander stehen sehen.“
„Denkst du, der trifft sich mit seinem Liebchen in Olderdissen zum Schäferstündchen und die Bären dürfen zugucken?“, fragte die Auberginen-Oma und Laute der Entrüstung mischten sich mit zotigem Gelächter.
„Ach, das glaube ich alles nicht.“, mischte sich eine besonders vernünftig wirken wollende Dame ein. „Sicher haben die mal in Ruhe etwas besprechen wollen und das hat sich mit dem Tierpark irgendwie so ergeben. Vielleicht war es einmal Zufall, beim nächsten Mal verabredet. Und aus zwei Mal beide Autos am gleichen Ort wird dann schnell ein dauernd.“
„Durchgebrannt ist er mit der Hillenkötter jedenfalls nicht.“, bemerkte die Auberginen-Oma. „Die habe ich heute Morgen noch gesehen.“
FORTSETZUNG FOLGT MORGEN

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