Montag, 23. Mai 2016
Nacht, totenstill – Kurzkrimi Teil I
Böhringer lag in seinem Blut. Er atmete noch, aber er konnte sich nicht bewegen. Er hatte es richtiggehend gemerkt, wie in seinem Kopf etwas kaputt gegangen war. Laut geknackt hatte es, da war etwas explodiert und dann dieser metallische Geschmack auf der Zunge. Er wollte jemanden rufen, aber es kam nichts raus. „Der Safe!“, dachte er noch, „Die gesamten Kollekten der letzten drei Gottesdienste!“ und er konnte die Verbrecher nicht aufhalten.
Wie ein Kinofilm raste sein Leben an seinem inneren Auge vorbei: Die Entbehrungen der Kindheit, als ein Apfel noch ein Geschenk war, die Jahre, in denen es langsam aufwärts ging, die Ferienlager mit dem CVJM, geistliche Lieder am Lagerfeuer, Weckruf der Posaunen, die Konfirmation mit der Predigt über den Leib Christi, der Schulabschluss mit dem anerkennenden Schulterklopfen des Direktors, die Ausbildung bei der Sparkasse, die erste Begegnung mit Hildegard, die Hochzeitsnacht die gleichzeitig aufregend und ernüchternd, erhebend und demütigend war, die Geburt des ersten Kindes, das Gewahrwerden der Bedeutung der Vaterschaft, Karrierestationen: Kundenberater, Filialleiter, Bereichsleiter. Und dann die Wahl zum Presbyter, bewundernde Blicke, schon bald die große Verantwortung des Kirchmeisteramtes, Mitarbeit in der Synode, im Finanzausschuss, der neue Kindergarten, Hildegards Ausfälle, Renate, Renates Zitronenkuchen, Renates Lächeln...

Silvia zitterte am ganzen Körper. Der rechte Arm hing schlaff herunter. Wie ferngesteuert hielt die Hand noch immer den überdimensionalen Heftapparat umklammert. Sie bemerkte die Spritzer auf ihrer Kleidung nicht, erst recht nicht die im Gesicht, aber der strenge, metallische Geruch zog ihr in die Nase. Wer oder was war in sie gefahren und hatte ihren Körper zu dem benutzt, was da gerade geschehen war? Der Kirchmeister lag reglos in einer sich stetig vergrößernden Pfütze hellroten, arteriellen Blutes. Genau das dachte sie: hellrot bedeutet arteriell, frisch mit Sauerstoff angereichert wird es vom Herzen zu den Organen transportiert, um diese mit Sauerstoff zu versorgen, darum verblutet man bei verletzten Arterien auch viel schneller, als bei verletzten Venen, aus denen das schwarze, sauerstoffarme Blut nur heraus sickert. Sollte sie einen Notruf absetzen? Aber was sollte sie erklären? Dass sie ihn so vorgefunden hatte? Hätte sie dann nicht den Heftapparat von ihren Fingerabdrücken reinigen oder verschwinden lassen müssen? Sie entdeckte die Spuren seines Blutes an ihren Händen und an der Kleidung. Sie konnte keine Hilfe holen, vermutlich war er ohnehin längst tot. Aber was, wenn er die Verletzung überlebte? Sicher würde er sich an sie erinnern.
ENDE TEIL I, FORTSETZUNG FOLGT

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