Donnerstag, 15. August 2024
Hätte
Er hatte großen Durst. Er konnte sich zwar frei bewegen, doch das nützte ihm gar nichts. Der Raum war stockdunkel, stickig, heiß und verschlossen. Es gab kein Bett, keinen Stuhl, gar nichts.
Vor ein paar Tagen war es ihm noch gut gegangen. Morgens Fitness im Sportraum, zum Abschluss ein paar Bahnen im kühlen Pool. Mittags auf der Dachterrasse, gebackene Scholle, frischer Spargel, Chardonnay, zum Nachtisch Erdbeeren, danach ein Nachmittag im Liegestuhl, geeistes Limettenwasser und ein Roman zum Abtauchen. Abends war er ausgegangen mit Freunden: Tapas-Bar, Taverne, Nachtclub – alles im bewachten Viertel, wo man sich sorglos bewegen konnte.

Nach einem faulen Sonntag hatte am Montag die Arbeit wieder angefangen, zahlreiche Meetings, das Geld verdiente sich nicht von allein, auch nicht, wenn einem ein Haufen davon gehörte. Im Gegenteil, es bedeutete einen ewigen Kampf, sich auf dem Markt zu behaupten und es wurde immer teurer, sich das Gesindel vom Hals zu halten. Bewegen konnte man sich nur noch in bewachten Arealen, die Sicherheitstechnik für das eigene Zuhause musstet ständig nachgerüstet werden, das verschlang Unsummen, genauso wie all der technische Aufwand, den man betreiben musste, um den Wetterlaunen etwas entgegenzusetzen, sei es nun Hitze-, Sturm-, Hochwasser- oder Frostschutz.

Und dann hatten die Sicherheitssysteme doch versagt. Sie hatten sein Auto gestoppt durch einen gefällten Mast, an dem früher einmal eine Telefonleitung gehangen hatte. Das Ding war plötzlich direkt vor ihm auf die Straße gekracht. Vor Schreck hatte er es versäumt, die Verriegelung zu aktivieren, sie waren von hinten ins Auto gestürmt, er hatte nicht die Spur einer Chance gehabt. Er erinnerte sich noch an einen stinkenden, feuchten Lappen vor seinem Gesicht, dann war es dunkel geworden. Sein Erwachen hatte daran nichts geändert, nur brennender Durst und rasende Kopfschmerzen hatten sich zu der Dunkelheit gesellt.

„Hätte ich doch ein Taxi genommen! Oder hätte ich doch das Meeting bei mir abgehalten!“, dachte er, um diese Gedanken sofort wieder zu verwerfen. Sie hatten es auf ihn abgesehen, wenn nicht heute, dann hätte es ihn in den nächsten Tagen erwischt. Niemand wollte unter einer Glasglocke leben.
Was wollten sie? Rache? Lösegeld? Betriebswirtschaftliche oder politische Entscheidungen? Auslösung politischer Gefangener? Er wusste es nicht.

Aber da war eine Erinnerung, die er nicht beiseite wischen konnte. Diese Party bei Julie, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, so genau wusste er das nicht mehr. Da war diese ungewöhnliche Frau, die so gesund und durchtrainiert war. Schlicht gekleidet, ungeschminkt und dennoch hatte sie gefunkelt wie ein Diamant. Anderenfalls hätte er ihr wohl auch nicht zugehört. Er war es gewohnt, für sich immer nur das Beste in Anspruch zu nehmen.
„In welcher Welt willst du leben?“, hatte sie ihn gefragt. „In einer Welt, in der überwiegend gesunde Menschen friedlich ihre Angelegenheiten regeln, in der so etwas wie Neid und Missgunst praktisch nicht existieren, in der Probleme gründlich analysiert und umgehend gelöst werden, weil man sie da angeht, wo sie entstehen und zwar direkt und ohne Verzögerungen. Wo du nicht in ständiger Angst leben musst vor Verlust, Terror, Entführung, Demütigung und so weiter, weil niemand es mehr nötig hat, sich etwas mit Gewalt anzueignen, bis auf ein paar in die Irre gegangene Ausnahmen vielleicht, für die es dann aber auch Konsequenzen gäbe, weil natürlich Regeln und Gesetze existierten, deren Einhaltung von einer funktionierenden Polizei durchgesetzt würden und die von einer integeren Justiz umgesetzt würden.
Oder wärst du lieber Teil einer Welt, in der du in ständiger Angst vor Raubüberfällen und Anschlägen leben müsstest, du alles was du besitzt hundertfach absichern müsstest, deine Gedanken ständig um deine eigene Sicherheit und den Schutz deines Vermögens kreisten, du dich nicht mehr frei in der Öffentlichkeit bewegen könntest, weil überall Gefahren lauerten, dazu Wetterextreme, Lieferengpässe, Unsicherheit durch Aufstände, Kriege und unfähige Regierungen?“
„Natürlich in der ersten Version.“, hatte er schmunzelnd geantwortet. „Aber was soll die Frage?“
„Dann hör auf, den Ast abzusägen, auf dem du sitzt.“, hatte sie geantwortet. „Verzichte auf einen Teil deines Reichtums und deiner Privilegien, um am Ende mehr zu gewinnen, als du dir vielleicht erträumt hast. Um in einer besseren Welt aufzuwachen. Sieh es als Investition in die Zukunft.“
Dann hatte sie ihn stehen lassen und er hatte sie belächelt und mit den Schultern gezuckt. Er hatte gespürt, dass sie nicht an ihm interessiert gewesen war, sondern an seinem Status. Also hatte er nicht weiter über ihre Worte nachgedacht. Aktivistinnen-Gerede, realitätsfern und lustfeindlich.

Wo er wohl heute wäre, wenn er auf sie gehört hätte? Das dachte er, als ein plötzlicher Lichtstrahl ihn blendete.

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Freitag, 9. August 2024
Gegenolympiade*
*der Titel stammt im Original von Dietmar Wischmeyer, als er vor etwa 30 Jahren die im Folgenden beschriebene Veranstaltung im Frühstyxradio auf FFN so betitelte. Ich hoffe, er verzeiht mir mein kleines Plagiat.


Er musste sich ein Bild machen, bevor er am kommenden Sonntag den besonderen Gottesdienst im Festzelt gestalten würde. Ihm waren derlei Volksfeste fremd, aufgewachsen am Stadtrand einer westfälischen Provinzmetropole, kannte er nur Innenstadt-Kirmes, Weihnachtsmarkt und private Feierlichkeiten in Wohnzimmern, Partykellern oder Gärten.
Sportwerbewoche nannte sich die Veranstaltung. Es war ein unfassbares Ereignis für die Einheimischen. Vom ersten Freitag bis zum zweiten Sonntag in der Folgewoche wurde durchgefeiert, viele nahmen sich dafür extra eine Woche Urlaub, vordergründig ging es um Sport, vorzugsweise um Handball-Turniere, aber eigentlich setzten die Besucher:innen wie bei jedem Volksfest die üblichen Schwerpunkte: Alkoholkonsum, laute Musik, fettiges, eiweißreiches Essen, sowie Paarungsrituale von der Balz über die Schlägerei bis zur Vollendung zahlreicher Geschlechtsakte. Die Gescheiterten urinierten an Bäume und erbrachen sich in dunklen Winkeln, die am Tage fatalerweise wieder hell ausgeleuchtet waren.

In Nordhemmern war das Sportfest, wie es um Volksmund genannt wurde, aber viel mehr als das. Es handelte sich um ein gesellschaftliches Ereignis mit gleich mehreren Höhepunkten: Dem Heimatabend zum Auftakt, dem Grillabend mit lustiger Fahrradrallye und Laser-Show in der Mitte und einem bunten, familienfreundlichen Sonntag zum Abschluss, mit Gottesdienst, Kuchen, Kinderflohmarkt Turnierfinale und breitem kulinarischem Angebot.
Er meldete sich auch zur Fahrradrallye an. Da er noch weitestgehend unbekannt im Dorf war, schloss er sich einer Gruppe mittelalter Männer an, die ihn großzügig aufnahmen. „Patrick Gottwald“, stellte er sich vor, „seit ein paar Wochen Gemeindepfarrer in der Region Hille, zuständig auch für Nordhemmern.“
Das sei hinlänglich bekannt, entgegnete man mit fröhlichem Lachen und hieß ihn der Gruppe willkommen. Man radelte gemächlich und ohne Eile von Station zu Station, verließ bald die Grenzen des Dorfes, um gleich wieder zurückzukehren, vollführte Turnübungen oder maß sich in phantasierten olympischen Disziplinen wie Teebeutelweitwurf, Kirschkern-weit-Spucken oder kooperativem Sommer-Skilauf. Es war ein bisschen albern, aber auch sehr gesellig, kurzweilig und gemütlich. Dass einige Herren während der Rallye bereits mit Bier vorglühten, empfand er als leicht verstörend, aber nicht weiter tragisch.

Beim Apfel-Dart traf er auf ein bekanntes Gesicht. Ein Mitglied des örtlichen Presbyteriums gehörte zu jenen, die die Station betreuten. Rainer Lürmann, ein kluger, bodenständiger und gesprächsbereiter Typ. Er sammelte gerade ein paar am Boden liegende Pfeile ein, als er plötzlich im Gras zusammenbrach. Man eilte ihm sofort zur Hilfe, jemand rief einen Rettungswagen und es dauerte eine Weile, bis man feststellte, dass in seiner Schläfe ein Dartpfeil steckte und der Rettungswagens sich vergeblich auf den Weg gemacht hatte. Ein schrecklicher Unfall, dessen Schatten Patrick annehmen ließ, das Fest sei nun zu Ende. Aber mitnichten. Schließlich hatten mehr als einhundert Menschen an der Vorbereitung und Ausgestaltung mitgewirkt, es war viel Geld in die Veranstaltung geflossen und das musste zu einem großen Teil wieder herein kommen, außerdem, so versicherte man es ihm, sei das nun wahrhaft nicht das erste Mal, dass jemand während des Festes versterbe. Es seien schon vor Kraft strotzende Familienväter vor dem Handballtor leblos zusammengebrochen, Alkoholvergiftungen und eine Schlägerei mit Todesfolge seien ebenfalls dabei gewesen. Es wäre aber eine nette Geste von dem Herrn Pfarrer den tragischen Todesfall im Schluss-Gottesdienst am Sonntag nicht unerwähnt zu lassen. Rainer Lürmann sei ja praktisch für den Sportverein gestorben.

Er radelte dennoch auf dem schnellsten Weg zurück zum Platz. Auch hier stand ein bekanntes Gesicht aus dem Presbyterium, mit eingezogenem Kopf, hängenden Schultern und einem Körper, dem man nicht ansah, dass er durch exzessives Radeln gestählt wurde. Zu jeder Sitzung erschien er demonstrativ mit dem Rad in entsprechend eindeutiger Kleidung, heute dagegen stand er da im blütenweißen Hemd und frischer Jeans. Ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht sagte ihm, dass Stefan Glaser noch nichts von dem tragischen Vorfall wusste. Er trat widerwillig an ihn heran und erklärte: „Zu meinem großen Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass ein Mitglied ihres Presbyteriums gerade eben ums Leben gekommen ist. Rainer Lürmann wurde tödlich von einem Dartpfeil getroffen.“
Stefan Glaser machte ein überraschtes Gesicht, das eigenartigerweise überhaupt nicht echt wirkte. Stattdessen schweifte sein Blick kurz unruhig über den Platz, verharrte für einen Augenblick an einem Punkt und wurde dann stiller. Patrick sah in dieselbe Richtung und bemerkte einen weiteren Presbyter, Herwig Schmitz, dem die Unruhe in der zur Schau gestellten Gelassenheit ebenfalls anzusehen war. Er trug noch den Fahrradhelm. Er wandte sich erneut Stefan Glaser zu: „Das wird sicher eine große Herausforderung für Ihr ohnehin schon unvollständig besetztes Presbyterium.“
„Vielleicht.“, erwiderte Glaser. „Auf jeden Fall ändert es die Situation grundlegend. Wir haben nun kein Patt mehr, sondern eine Mehrheit für unsere Unabhängigkeit. Die Großgemeinde darf sich ohne uns zugrunde richten. Wir geben dann gerne Ratschläge beim Neuanfang.“ Glaser grinste breit und ging auf wackligen Beinen auf Schmitz zu. Es sollte würdig und gemessen wirken, was ihm ebenso wenig gelang, wie ihm die Umsetzung seiner Pläne für eine unabhängige, viel zu kleine Kirchengemeinde gelingen würde

Patrick wusste später nicht, warum er es getan hatte, auf jeden Fall zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und rief die Webseite der Kirchengemeinde auf. Das Presbyterium stellte sich dort vor, jeder für sich mit Name, Foto, Zielen für die Kirchengemeinde und persönlichen Hobbys. Schmitz liebte Radfahren, gute Krimis, gutgeschriebene Bibelkommentare und Darts.

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Freitag, 2. August 2024
Spoiler 33 - nichts für Kinder
2018
In der ersten Jahreshälfte verbrachte Astrid mehr Zeit bei Ärztinnen und Ärzten als in den vergangenen fünf Jahren. Für Louis standen immer wieder neue Untersuchungen und Anordnungen wegen seines Asthmas an, das sich auch im zwölften Lebensjahr nicht wie erhofft ausgewachsen hatte. Annalena erwischte im Winter ein Infekt nach dem anderen und Astrid selbst kämpfte mit diversen Symptomen, die laut hausärztlicher Beurteilung alle auf dieselbe Ursache zurückzuführen waren: Überlastung. Der Arzt überredete Astrid, eine Mutter-Kind-Kur zu beantragen, an der See, um Louis Asthma etwas entgegenzusetzen, Annalena eine anregende Umgebung zu bieten und Astrid nachhaltige Erholung zu verschaffen. Drei Wochen Auszeit in den Sommerferien. Die 16-jährige Tochter konnte sie getrost beim Vater lassen und die Großmutter war schließlich auch noch da.

Viola war sich nicht sicher, ob sie sich auf die Atempause freuen sollte oder ob nun eine Zeit schlimmster Übergriffe auf sie zukam, weil niemand etwas mitbekam. Für die ersten Nächte organisierte sie sich gleich mehrere Übernachtungen bei Paula mit der Begründung, sie helfe ihr bei der Renovierung ihres Zimmers und sie wollten vor allem nachts arbeiten, weil es tagsüber in der Dachkammer viel zu heiß sei.
Raimund schluckte die Begründung. Drei Wochen waren eine lange Zeit. Er würde noch hinreichend Gelegenheiten finden, seiner Tochter seine Nähe aufzuzwingen.
Mit dem Beginn der Sommerferien kam der Tag der Abreise. Ein Taxi brachte Astrid und ihre Kinder morgens zum Bahnhof. Raimund, Ingrid und Viola nahmen Abschied und wünschten eine gute Reise. Raimund gab seinem Sohn High Five und der kleinen Tochter einen Kuss auf den Mund, dann strich er ihr noch einmal liebevoll über den Po. Viola bemerkte seinen Blick, der auf dem kleinen Mädchen ruhte, das im rosa Kleidchen mit Spaghetti-Trägern in das Taxi kletterte. Viola ahnte, dass Annalena bald die nächste sein würde, spätestens, wenn Viola das Elternhaus verließ. Sie spürte einen Kloß im Hals, der stetig anschwoll.

Am Nachmittag packte Viola ihre Tasche und floh zu Paula. Paula renovierte mitnichten ihr Zimmer. Viola hatte um Asyl gebeten, weil ihr Vater einfach unmöglich sei und sie es nicht allein mit ihm aushalte. Paula spielte bereitwillig mit und sogar ihre Eltern hatten Verständnis.
Die zweite Nacht verbrachte Viola in Wirklichkeit bei ihrem Freund Lasse und manchmal unternahmen sie auch etwas zu dritt.
Die Aussicht, in ein paar Tagen an den Ort des Grauens zurückkehren zu müssen, bereitete Viola zunehmend Sorge. In ihrer Verzweiflung vertraute sie sich ihrem Freund an: „Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, sofort zu Hause auszuziehen, würde ich das sofort machen.“
„Ist es so schlimm?“, fragte Lasse.
„Schlimmer als schlimm.“
„Macht deine Mutter dir Stress?“
„Nein, meine Mutter ist ganz in Ordnung. Die kriegt nur nichts mit.“
„Wie meinst du das?“
„Mein Vater ist das Problem.“
„Weil er so streng ist?“
„Weil er ekelhaft ist. Und pervers.“
Lasse schwieg betroffen. Er wusste nicht, ob er wissen wollte, was Viola ihm da offenbarte. Nach einer Weile fragte er dann doch weiter: „Was macht er denn?“
„Er macht Sachen mit mir, die man nicht mit seiner Tochter macht.“
Lasse riss die Augen auf: „Willst du damit sagen, dass er ein verdammter Kinderficker ist?“
Viola nickte stumm und starrte finster ins Leere.
Lasse war erschüttert. Dann sagte er: „Du musst ihn anzeigen. Und du musst da sofort raus.“
„Das geht nicht.“, sagte Viola. „Das dauert alles viel zu lange. Außerdem komme ich dann für die nächsten zwei Jahre in ein Heim. Bei dir übernachten darf ich dann auch nicht mehr. Und bis sie ihn drankriegen, hat er auch meine kleine Schwester kaputt gemacht. Du hättest mal sehen sollen, wie er sie angefasst und angeguckt hat, als sie mit Mama und Louis in die Kur gefahren ist. Wenn die wieder nach Hause kommen...ohr Scheiße, ich will mir das gar nicht vorstellen.“
„Aber wenn du ihn jetzt anzeigst...“
„Ist er noch nicht in zwei-ein-halb Wochen weg. Und was glaubst du, was der in der Zwischenzeit mit mir anstellt? Der bringt mich um. Ich muss nachdenken. Vielleicht fällt mir was ein.“

In den frühen Morgenstunden lag Viola wach. Nach langem Grübeln fiel ihr etwas ein. Ihr Vater war starker Raucher. Jetzt, wo Astrid längere Zeit nicht zu Hause war, würde er sicher auch im Bett rauchen. So etwas konnte lebensgefährlich sein. Und schließlich hatte sie einen Plan. Sie stahl eine Schlaftablette aus dem Medizinschränkchen von Lasses Eltern. Bei Husemanns bettelte sie am folgenden Abend ebenfalls um eine Schlaftablette, weil sie zur Zeit so unter Einschlafstörungen leide. Als Schlafenszeit bei Husemanns war, rührte sie Paula eine halbe Tablette in die Limo. Sie sollte nichts mitbekommen, nichts wissen, nicht mit hineingezogen werden.
Als Paula fest schlief, zog Viola sich an, schlich aus dem Gasthof und radelte im Schutz der Dunkelheit zum elterlichen Hof. Raimund saß vor dem Fernseher und trank Bier. Er war müde und angetrunken. Sie briet sich zur Tarnung in der Küche ein paar Eier, behauptete, Paula sei etwas erkältet und habe laut geschnarcht. Sie setzte auf den Harndrang ihres Vaters, der schon bald auf der Toilette verschwand. Sein Bier war noch halb voll. Die Ein-ein-halb Schlaftabletten hatte sie schon in der Küche zerstoßen, sie ließen sich mit Hilfe eines gefalteten Papiers fix in die Bierflasche rieseln. Dann stellte sie ihrem Vater auch eine Portion Rührei hin, die er bereitwillig verschlang und mit dem eigenartig schmeckenden Bier hinunter spülte.
„Wo du schon mal da bist, kannst du mal mein Bett aufschütteln. Ich muss noch duschen und ich bin so kaputt von der Arbeit.“
Viola biss die Zähne zusammen. Es wäre ja das letzte Mal, sagte sie sich. Während er duschte schüttelte sie Kissen und Decke auf und zog sein fleckiges Laken glatt. Sie trug Hot Pants und ein eng anliegendes Top. Er würde sie nicht in Ruhe lassen. Zum Glück war er zu müde, um sich besondere Absonderlichkeiten auszudenken. Sie tat, was er wollte und ließ es über sich ergehen. Danach ging sie unter die Dusche, um jedes Molekül, das ihr Vater an und in ihr hinterlassen hatte, weg zu waschen. Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, schlief er tief und fest. Sie verteilte Nagellack-Entferner auf seiner Decke; ein lässliches Opfer. Wie erwartet lagen seine Zigaretten auf dem Nachttisch. Sie nahm eine, zündete sie hustend an und schob die glühende Kippe zwischen seine Finger. Doch wollte sie sich nicht auf die Zigaretten verlassen. Was wäre, wenn sie verlosch und Raimund am nächsten Morgen den Geruch des Nagellack-Entferners wahrnahm? Sie hielt das Feuerzeug an die Decke. Die fing Feuer, doch die zarten Flammen züngelten einsam vor sich hin und erstarben so schnell wie sie empor gelodert waren. Sie dachte schnell nach. Der Nagellack-Entferner ihrer Mutter war noch voll und dann stand da eine Flasche Haarspray. Sie verteilte das Lösungsmittel erneut auf der Decke, hielt das brennende Feuerzeug in der linken Hand und in der rechten das Haarspray. Sie sprühte kurz in die kleine Flamme des Feuerzeugs und entzündete mit der so entstandenen Stichflamme die Bettdecke. Sie legte das Feuerzeug auf den Nachttisch und stellte das Haarspray zurück ins Bad. Das Bett stand in Flammen und Raimund schlief fest. Viola verließ das Haus, radelte zurück zum Gasthof, wo sie durch die offen gelassene Kellertür in Paulas Zimmer zurück schlich und sich leise in das Gästebett legte. Paula schlief noch immer tief und fest. Und Viola flehte das Universum an, dass ihr Plan aufging.

Ende Spoiler Ramöller. - Demnächst Spoiler Husemann

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Samstag, 27. Juli 2024
Spoiler 32 - nichts für Kinder
2017
„Christopher Nolan oder Ryan Gosling?, fragte Paula.
„Eher Christopher Nolan“, meinte Viola. „Und du so?“
„Ich finde Ryan Gosling sieht netter aus.“
„Ja, aber nett ist ja nicht geil.“
„Doch, irgendwie schon.“
„Also ich würde ja eher schwanken zwischen Daniel Craig und Robert Downey Junior.“
„Die sind beide steinalt.“
„Aber geil. Und sind ja nur Schauspieler, keine echte Jungs in unserem Hood.“
„Aber was findest du geil an Daniel Craig?“, fragte Paula.
„Der kann sich so toll bewegen.“, schwärmte Viola, „Wie eine Katze. Und dann hat er diese irren, blauen Augen, und überall voll die Muskeln, sogar im Gesicht. Kein Gramm Speck.“
„Wie eine Kampfmaschine.“, entgegnete Paula. „Voll der harte Hund. Willst du so einen in deinem Bett haben?“
„Wenn er nett zu mir ist.“, hauchte Viola und fing dann an, dreckig zu lachen. Paula fiel mit ein in das Gelächter.
„Weißt du, wen ich toll finde?“, fragte Paula. „Ich weiß nicht, wie der Schauspieler heißt, aber der spielt in „Game Of Thrones“ den Bruder von dieser Drachenmama.“
„Ah, du hättest gern Sex mit deinem Bruder?“, fragte Viola.
„Ich hab‘ gar keinen Bruder.“
„Ich weiß. Aber vielleicht hättest du ja gern genauso einen, der würde dann so ähnlich heißen wie du. Paul! Oh, Paul! Jajaja!“
„Ach, du bist ja doof. Inzest ist doch echt das Letzte.“
„Ja, stimmt.“, sagte Viola und ihr Blick verfinsterte sich. Dies wäre nun ein Moment gewesen, ihrer besten Freundin einmal die gesamte Bandbreite ihres häuslichen Elends zu offenbaren, aber wie sollte sie anfangen? Welche Details waren notwendig, um die Umstände so zu beschreiben, dass ihre Freundin das Ausmaß ihres Leidens begriff? Mit welchen Details würde sie ihre Freundin verschrecken und verstören? Und würde sie ihr am Ende vielleicht gar nicht glauben, sie der Lüge bezichtigen und die Freundschaft aufkündigen?

Paula war aufgefallen, dass Violas ausgelassene Stimmung einem Ausdruck von Ernsthaftigkeit, wenn nicht gar Verbitterung gewichen war. Etwas stimmte nicht. Das spürte sie.
Sie wechselten das Thema: die Hausaufgaben, die noch zu erledigen waren, der ungeliebte Mathelehrer, das Warten auf die Ergebnisse der letzten Englischarbeit.

Als Viola wieder nach Hause kam und sich direkt in ihr Zimmer zurückziehen wollte, stellte Astrid sich ihr in den Weg. „Augenblick, Madame“, eröffnete sie die Unterhaltung und die gezielte Strenge in ihrem Ton verstärkte Violas Unwillen und Widerstand. „Du hast schon vor drei Tagen versprochen, Dein Zimmer aufzuräumen und du hast heute Morgen zum 125. Mal dein Frühstücksgeschirr wieder AUF die Spülmaschine gestellt statt hinein.“
„Nerv mich nicht mit dieser kleinkarierten Scheiße!“, fauchte Viola. „Kümmer dich lieber darum, dass es deinen Kindern gut geht!“
Sie schob Astrid grob beiseite und wollte gerade in ihr Zimmer stürmen, um sich dort einzuschließen, da packte Raimund, der die Auseinandersetzung mitbekommen hatte, sie von hinten am Oberarm, riss sie herum und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.
„Red‘ gefälligst anständig mit deiner Mutter und zeig ein bisschen Respekt!“, brüllte der Vater. „Wenn du meinst, dass du den ganzen Tag rumlungern und deine Aufgaben vernachlässigen kannst, hast du dich geschnitten. Hier werden ab sofort andere Saiten aufgezogen. Drei Wochen Hausarrest. Du verlässt das Haus nur für die Schule und kommst direkt danach nach Hause. Und wenn du dir noch einmal so was leistest, dann kannst du mich mal ganz anders kennenlernen.“
Viola konnte sich kaum vorstellen, dass ihr Vater über abgründige Eigenschaften oder Ideen verfügte, die sie an ihm noch nicht kannte. Sie hatte gehofft, dass ihr Heranwachsen, den Abstand zu Raimund allmählich vergrößerte. Doch statt ihm nach und nach zu entkommen, war sie ihm nun nahezu pausenlos ausgeliefert, weil er wieder einen Weg gefunden hatte, sie zu beherrschen. Immer wieder zwang er sie zur Mithilfe bei Arbeiten, bei denen sie zu zweit und unbeobachtet waren und ließ sich dabei immer neue Spielarten seiner sexuellen Entgleisungen einfallen. Viola fand kaum noch Schlaf, sie wurde fahrig, war unkonzentriert und ihre schulischen Leistungen sackten ins Bodenlose. Das wiederum nutzte Raimund, um noch mehr Druck auszuüben und außerdem eine Vielzahl erotischer Gefälligkeiten von ihr zu erpressen.

Wie zu erwarten kam es auch in der Schule zu Verhaltensauffälligkeiten. Viole reagierte extrem aggressiv auf auch nur kleinste Grenzverletzungen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler und galt in der Lehrerschaft als renitent, unverschämt und unberechenbar. Leider führte dieses Verhalten zu keinerlei Elterngespräch, denn der neue Klassenlehrer hatte das Mädchen von Anfang an abgeschrieben: Lolita, substanzlos, zum Scheitern verurteilt.
Als die schlimmsten Peiniger in der Schule erwiesen sich aber mitnichten die Lehrkörper oder Mitschüler; es waren die Mädchen, die keine Gelegenheit ausließen, ihrer Verachtung Ausdruck zu verleihen. Dies geschah teils aus der verbreiteten Selbstgerechtigkeit, bei der Menschen meinen, sich selbst aufzuwerten, indem sie andere abwerten, teils aus Eifersucht und Neid, weil Viola über ausgeprägte weibliche Reize verfügte, die sie effektvoll in Szene zu setzen verstand. Die Jungen blickten ihr schmachtend nach, während sie die meisten anderen Mädchen bestenfalls mit Ignoranz bedachten – in schlimmeren Fällen mit Hänseleien oder abfälligen Bemerkungen.

Es kam während einer großen Pause zu einer unschönen Konfrontation. Louisa, die Tochter eines örtlichen Handwerker-Meisters hatte entschieden, dass Viola in Sachen Aufmerksamkeit das abgriff, was eigentlich ihr zustand. Sie betrachtete Viola mit Geringschätzung und bemerkte lautstark: „Ich finde ja, gebrauchte Klamotten sind was für Assis.“ Dabei streckte sie den Busen vor und strich selbstgefällig über ihre hochwertigen Markenjeans.
„Willst du auf‘s Maul?“, fragte Viola barsch.
„Was zu beweisen war.“, erwiderte Louisa schnippisch.
„Lieber Assi, als ‘ne eingebildete Tussi, nach der sich trotz Markenklamotten keiner umdreht.“
„Vielleicht will ich mich auch einfach nicht von jedem x-beliebigen Penner flachlegen lassen.“, hielt Louisa dagegen.
„Viel Spaß dann mit Axel Schweiß mit Aktentaschenakne und sicherem Ausbildungsplatz bei der Sparkasse. Und jetzt hör auf mich zu nerven!“
„Du nervst mich durch deine bloße Anwesenheit, du elende Bitch!“
„Ich steh auf Bitches!“, rief ein älterer Junge herüber, der die Szene beobachtet hatte. Er lachte Viola an und beim Anblick seines sympathischen Gesichts ging ihr das Herz auf. Sie spürte sofort, dass er nicht nur in diesem Moment auf ihrer Seite war und dass sie sich auf ihn verlassen konnte.
Sie wurden ein Paar, sehr zum Leidwesen von Violas Mitschülerinnen, denn Lasse galt auf dem Schulhof als hoch gehandeltes Sahneschnittchen.
Lasse erwies sich als verlässlich und sensibel. Wenn Viola bei ihm war, fühlte sie sich sicher und behütet. Erste Vorstöße, bei ihrem Freund zu übernachten, lehnten beide Eltern kategorisch ab: Astrid, weil sie sich sorgte, Viola könne bei so viel Zeit mit dem älteren Freund Schaden nehmen; Raimund vordergründig, weil er um ihren Ruf fürchtete, in Wahrheit jedoch, weil er die unerschöpfliche Quelle seiner Lust mit niemandem teilen wollte.
Schließlich griff Viola zu der ältesten aller Listen: Sie gab vor, bei der besten Freundin zu übernachten und Paula spielte mit. Und dann dachte Viola manchmal, dass Schwangerschaft vielleicht ein Ausweg sei.

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